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Radio
zum Lesen
Interview,
11.12.2006, 12:07 Uhr
Ein
unrühmliches Kapitel deutscher Sozialgeschichte
Sie
wurden geschlagen, erniedrigt und eingesperrt. Unter oft
unvorstellbaren Bedingungen wuchsen in den 50er und 60er Jahren
Hundertausende Kinder und Jugendliche in kirchlichen Heimen auf,
Heimen mit so schönen Namen wie: "Zum Guten Hirten",
"St. Hedwig" oder "Marienheim". Doch christlich
ging es in diesen Einrichtungen nicht immer zu: "Wir waren
Zwangsarbeiter", sagen die Kinder von damals heute. Ein dunkles
Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte.
Die ehemaligen
Heimkinder sind nun zwischen 40 und 65 Jahre alt, und heute gibt
es zum ersten Mal eine Anhörung zu diesem Problem vor dem
Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages.
Michael-Peter
Schiltsky, Verein ehemaliger Heimkinder. Er selbst war eines
dieser Heimkinder.
Das Interview im Wortlaut:
Sabine
Porn: Welche Erinnerungen haben Sie an die Zeit?
Michael-Peter
Schiltsky: Sehr sehr verschiedene. Das geht von täglicher
Arbeit über Schläge, die es gegeben hat bis hin zu
sexuellem Missbrauch.
Porn: Haben Sie damals überhaupt
darüber sprechen können, oder ist das in Ihrem Herzen
verschlossen gewesen?
Schiltsky: Es ist letztendlich
so, wenn man in so einem Heim ist - im Heim besteht folgende
Situation: Alle anderen sind gleich Betroffene, das heißt, man
stellt zwar fest, dass es nicht besonders toll ist, da wo man gerade
ist, aber da es allen anderen genauso geht, empfindet man in dem
Moment nicht unbedingt den Verlust, den man eigentlich erleidet. Das
kommt dann später, das kommt dann, wenn man in eine andere
Lebenssituation hineingerät.
Porn: Das heißt
mit anderen Worten, damals haben Sie die Situation "fast als
normal" empfunden?
Schiltsky: Nein, das nicht.
Sondern es war so, dass man natürlich keinen Gefallen daran
gefunden hat, wenn man regelrecht verprügelt worden ist - ich
differenziere jetzt zwischen jemand kriegt eine Ohrfeige oder jemand
wird verprügelt - das heißt, es wird ein Gegenstand
genommen, und auf einem herumgekloppt. Es ist natürlich so, dass
man etwas erlebt, dass man nicht als schön empfindet, aber man
weiß eigentlich nicht, dass es schöner geht.
Porn:
Nun hat es sehr lange gedauert...
Schiltsky: Wegen
Hilflosigkeit auch.
Porn: Ja, wegen Hilflosigkeit. Nun
hat es sehr lange gedauert - heute erst gibt es eine Anhörung im
Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages. Warum hat es so lange
gedauert, bis dieses Thema öffentlich wurde?
Schiltsky:
Man muss klar sehen, es hat eigentlich so lange nicht gedauert. Es
ist nur so, dass die Reaktionen erst jetzt kommen. Es gibt bereits
Berichte von ehemaligen Betroffenen, wenn Sie nehmen das Buch von
Peter Brosch: "Fürsorge-Erziehung, Heimterror und
Gegenwehr", das ist 1971 erschienen. Dann gab es 1980 einen
Film, den Michaele Scherenberg für den Hessischen Rundfunk
gemacht hat, in dem ein ehemaliges Heimkind sich zu der Problematik
geäußert und zu der daraus resultierenden Gewalt gegen
seine Familie, die sich dann daraus ergeben hat, die er dann selber
praktiziert hat. Das heißt, es gab schon in der Vergangenheit
Berichte und Versuche der Aufarbeitung. Aber es gab damals keine
Reaktionen.
Porn: Sie sagen, Veröffentlichungen
gab es, aber es hat keine Reaktionen gegeben in den 70-er, in den
80-er Jahren. Warum nicht?
Schiltsky: Die Zeit war noch
nicht reif. Es waren nur einzelne, die sich da geäußert
haben. Es ist in der Wissenschaft zum Teil wahrgenommen worden, sehr
wohl. Aber es hat keinen Weg nach draußen gefunden, weil
vielleicht einfach auch von den Betroffenen noch zu wenig Reaktionen
in der Richtung kamen.
Porn: Was sind denn die
wichtigsten Forderungen, die Sie heute bei der Anhörung
formulieren werden?
Schiltsky: Da geht es vorrangig um
die Forderung der Anerkennung von Menschenrechtsverletzungen; denn
was damals geschehen ist, das waren Menschenrechtsverletzungen. Das
Grundgesetz hat für alle Menschen, die in Deutschland gelebt
haben, gegolten, also auch für Kinder. Folglich war die
Unversehrtheit an Leib und Seele ein festgeschriebenes Gut, das jedem
Menschen zusteht. Dann geht es um die Regelung berechtigter
Forderungen, die sich aus dieser vorangegangenen Forderung ergeben.
Dann geht es darum, dass eine Ächtung der Menschen verachtenden
Erziehungspraxis in den Heimen dargestellt wird. Dann geht es um die
Gewährleistung der Finanzierung von Therapien für
Langzeit-Traumatisierte. Es geht darum, dass eine Anerkennung der
moralischen Schuld auch des Staates gegeben wird, denn es geht hier
darum, dass der Staat seine Heimaufsicht nicht wahrgenommen hat.
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