Der Betreiber dieser Webseite ist der hoch-engagierte Martin Mitchell in Australien (ein ehemaliges “Heimkind” in kirchlichen Heimen im damaligen West-Deutschland) |
Schreiben
von Frau Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz, vom 28.
November 2003, betreffs „Kindesmisshandlung“ erlitten von
einer der großen Anzahl
der Betroffenen der „ehemaligen Heimkinder“, in Antwort
auf ein Schreiben an die Bundesministerin von Frau Ute Berg, Mitglied
des Deutschen Bundestages, dem ein Schreiben dieser Betroffenen
selbst beigelegt war.
BRIGITTE
ZYPRIES |
MOHRENSTRASSE
37 |
Sehr
geehrte Frau Abgeordnete,
vielen Dank für Ihr Schreiben
vom 23. Oktober 2003, mit dem Sie das Schreiben einer Bürgerin
Ihres Wahlkreises sowie einen Artikel
des Spiegel-Magazins mit dem Titel „Unbarmherzige
Schwestern“ übersandt haben.
Die in
dem Artikel geschilderten Schicksale von Kindern, die in den 1950er,
1960er und 1970er Jahren in kirchlichen Kinder- und Jugendheimen
aufgewachsen sind, sind jedenfalls aus heutiger Sicht
erschütternd. Man stellt sich beim Lesen unwillkürlich die
Frage, ob diese Schicksale Extremfälle sind oder ob damit auch
ein allgemein gültiges Bild der Situation in kirchlichen und
anderen Kinder- und Jugendheimen gezeichnet wird. Ich kann sehr gut
verstehen, dass ehemalige Heimkinder heute ein Bedürfnis haben,
ihre Heim-Erfahrungen aufzuarbeiten und von den Verantwortlichen eine
Anerkennung des geschehenen Unrechts verlangen. Allerdings darf dabei
die damalige Situation in den Heimen nicht einfach an den heutigen
Wert- und Rechtsvorstellungen gemessen werden. Es muss berücksichtigt
werden, dass wir in den letzten 50 Jahren gerade in Fragen der
Erziehung von Kindern einen grundlegenden Wertewandel erlebt
haben.
Eine an der Freiheit und Würde des Kindes
orientierte moderne Pädagogik gewann erst seit den 1970er Jahren
zunehmende Akzeptanz und Verbreitung. Besonders deutlich zeigt dies
ein Blick auf die Frage, inwieweit die Anwendung von Gwalt als
Erziehungsmittel akzeptiert wurde. In den hier angesprochenen 1950er,
1960er und 1970er Jahren räumte die Rxexcxhxtxsxpxrxaxxxixsxx
Eltern und anderen erziehungsberechtigten Personen das Recht ein, die
Kinder körperlich zu züchtigen. Eine
erste Einschränkung erfolgte im Jahr 1979 mit der Einführung
eines gesetzlichen Verbots „entwürdigender
Erziehungsmaßnahmen“. Ein
absolutes Verbot, Gewalt als Erziehungsmittel einzusetzen, gibt es
[ in der Bundesrepublik Deutschland
] erst seit
dem Jahr 2000: Mit
dem Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung wurde ein
Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen
Gesetzbuch verankert und die Anwendung von Körperstrafen
und seelischen Verletzungen generell für unzulässig
erklärt.
Einhergehend mit dieser
gesellschaftlichen Fortentwicklung und dem pädagogischen
Wissenszuwachs hat sich auch die Erziehung in Kinder- und
Jugendheimen gewandelt. In den 1950er und 1960er Jahren genossen die
Träger der Heime eine weitreichende autonome, gesetzlich
verankerte Befugnis zur Gestaltung der Erziehung auf der Grundlage
ihrer jeweiligen Weltanschauung und Wertorientierung. Vorschriften
über eine staatliche Aufsicht über die Heime wurden
erstmals mit der Novelle von 1961 in das damalige
Jugendwohlfahrtsgesetz aufgenommen und waren in der
Praxis zunächst schwach ausgeprägt. Öffentlich gemacht
und angeprangert wurde die Situation in der Heimerziehung erst Ende
der 1960er und Anfang der 1970er Jahre durch die so genannte
„Heimkampagne“. In zahlreichen Presse-, Rundfunk- und
Fernsehberichten wurde damals über die Situation in den Kinder-
und Jugendheimen und über den Protest der Studentinnen und
Studenten, dem sich eine neue Generation von Pädagogen
anschloss, berichtet.
Seit den 1970er Jahren hat sich in der
Heimerziehung ein grundlegender Wandel vollzogen. Große
Anstalten wurden weitgehend zu kleinen, überschaubaren
Einrichtungen umstrukturiert, durch Außenwohngruppen und
betreutes Einzelwohnen wurde die Integration in die Gesellschaft
befördert. Alters- und geschlechtshomogene Gruppen, wie sie die
Einsenderin schildert, wurden durch altersgemischte Gruppen abgelöst,
die das Zusammenleben von Geschwistern ermöglichen und soziales
Lernen und Rücksichtnahme fördern. Waren früher
langfristige Heimaufenthalte häufig, so stehen heute in der
Mehrzahl der Fälle kürzere Zeiträume von ein bis zwei
Jahren im Vordergrund.
Begleitet und forciert wurde der Wandel
in der Heimerziehung durch das Kinder- und Jugendhilferecht.
Rechtliche Grundlage für die Heimerziehung ist heute das Achte
Buch des Sozialgesetzbuchs – Kinder- und
Jugendhilfe – (SGB VIII), das im Jahr 1990 das frühere
Jugendwohlfahrtsgesetz abgelöst hat. Es erkennt jedem jungen
Menschen „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und
auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen
Persönlichkeit“ zu (§ 1 Abs. 1 SGB VIII).
Langfristige Maßnahmen wie die Heimerziehung werden nach dem
SGB VIII auf der Grundlage eines gemeinsam mit dem jungen Menschen
und seinen Eltern ausgearbeiteten individuellen Hilfeplans
durchgeführt und das Personal verfügt über eine
fundierte sozialpädagogische Ausbildung. Ein gesetzlich
normierter Erlaubnisvorbehalt für den Betrieb eines Heimes und
die Aufsicht durch die Jugendbehörden sichern das Wohl der
Kinder und Jugendlichen.
Fragt man nach einer Aufarbeitung der
Situation in den Kinder- und Jugendheimen der 1950er, 1960er und
1970er Jahre, stößt man neben Medienberichten auch auf
Veröffentlichungen in der Fachliteratur. Ein wichtiges
Zeitdokument stellt der von den Obersten
Landesjugendbehörden und der Bundesarbeitsgemeinschaft der
Freien Wohlfahrtspflege erarbeitete „Zwischenbericht
Heimerziehung“ dar, mit dem ein tief greifender und breit
angelegter Wandel in der Heimerziehung eingeleitet wurde (IGfH (Hg):
Zwischenbericht Heimerziehung.
Heimerziehung und Alternativen – Analysen und Ziele für
Strategien, Frankfurt/Main 1977). Hervorheben
möchte ich ferner ein Forschungsprojekt
der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen,
die in einem Ende der 1990er Jahre durchgeführten
Forschungsprojekt die Heimerziehung in dieser Zeit beispielhaft für
die Region Hessen untersucht und aufgearbeitet hat (Arbeitsgruppe
Heimreform, Aus der Geschichte lernen: Analyse der Heimreform in
Hessen (1968-1983), IGfH-Eigenverlag, Frankfurt/Main
2000).
Wer sich heute als Betroffener mit seiner Zeit
in einem Kinder- bzw. Jugendheim befassen möchte, wird wie die
Einsenderin auch nach den damals angelegten Akten fragen.
Grundsätzlich steht den Betroffenen ein datenschutzrechtlicher
Anspruch auf Auskunft über die zu ihrer Person gespeicherten
Daten zu. Die Rechtsgrundlage für diesen Anspruch dürfte
unterschiedlich sein, je nachdem, ob das Heim der Kirche unmittelbar
zugeordnet oder in privater Trägerschaft organisiert ist. Nicht
sicher sein kann man allerdings heute, ob die ein ehemaliges Heimkind
betreffenden Unterlagen noch in den Einrichtungen vorhanden sind.
Wird die Auskunft verweigert, besteht für den Betroffenden die
Möglichkeit sich an den kirchlichen Datenschutzbeauftragten zu
wenden. Außerdem steht ihm der Rechtsweg gegen die Verweigerung
einer Auskunft offen, und zwar bei öffentlich-rechtlicher
Trägerschaft der Heime zu den Verwaltungsgerichten, bei
privat-rechtlicher Trägerschaft zu den Zivilgerichten.
Dem
Spiegel-Artikel ist zu entnehmen, dass ehemalige Heimkinder vielfach
heute noch unter den Folgen ihrer damaligen Erfahrungen leiden. Hier
sollten die Heime und ihre Träger die ehemaligen Heimkinder, die
sich an sie wenden, nicht abweisen, sondern zu Gesprächen bereit
sein. Erweist sich die Belastung als schwerwiegend, kann es darüber
hinaus sinnvoll sein, den Kontakt zu einer geeigneten Beratungsstelle
zu vermitteln.
Mit freundlichen
Grüßen
BxrxixgxixtxtxexxZxyxpxrxixexs
[
Die Überschrift, kursive, fette, ausgedehnte und in
rechteckige Klammern gesetzte und wiedergegebene Schrift, und
verschiedene Schriftarten, in diesem Schreiben wurde(n) zum Zwecke
der Betonung und Aufklärung von dem jetzigen Redakteur
hinzugefügt ]
[
Erstveröffentlichung auf dieser Webseite: 1. Juni 2004 ]
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