erschienen in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 54, H. 1/2007, S. 107-109
Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, München: Deutsche Verlagsanstalt 2006, 207 S., 19,90 EUR
Anfang April 2006 verabschiedeten die fünf Fraktionen der Verbandsversammlung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen einstimmig eine Resolution, die sich ungewohnt kritisch mit der Geschichte der Heimerziehung im Verantwortungsbereich des Wohlfahrtsverbandes auseinandersetze. Darin wurde offiziell anerkannt, dass Kinder und Jugendliche in den hessischen Erziehungsanstalten bis in die siebziger Jahre »alltäglicher physischer und psychischer Gewalt« ausgesetzt waren und die Erziehungspraxis aus heutiger Sicht »erschütternd« gewesen sei. »Der Landeswohlfahrtsverband«, hieß es dort weiter, »spricht sein tiefstes Bedauern über die damaligen Verhältnisse in seinen Heimen aus und entschuldigt sich bei den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern die körperliche und psychische Demütigungen und Verletzungen erlitten haben.«
Diese (in Deutschland) beispiellose Initiative bildet einen vorläufigen Höhepunkt einer seit Jahren an Intensität zunehmenden und von reger öffentlicher Anteilnahme begleiteten Auseinandersetzung mit der Geschichte der Anstaltserziehung und den Schicksalen ehemaliger Insassinnen und Insassen. Dass diese Ereignisse langsam aus dem Dunkel der Vergessenheit gehievt werden, lässt sich freilich nur bedingt auf das Engagement der zuständigen Sozialverwaltungen und Anstaltsträger zurückführen. Vielmehr war es vor allem die Thematisierung und Skandalisierung jener Vorgänge durch die Medien, die nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, die Verantwortlichen einem gewissen Handlungsdruck auszusetzen. Zudem haben auch immer mehr Betroffene, so etwa in der »Bundesinteressengemeinschaft misshandelter und missbrauchter Heimkinder 1945 bis 1985« oder dem »Verein ehemaliger Heimkinder e.V.«, das Wort ergriffen und auf ihr Schicksal sowie die zum Teil bis heute akuten Folgen ihrer Behandlung aufmerksam gemacht.
Peter Wensierski, Dokumentarfilmer und Fernsehjournalist im Deutschland-Ressort des SPIEGEL, legt mit dem Band »Schläge im Namen des Herrn« einen weiteren Baustein zur »verdrängten Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik« vor. Es handelt sich dabei um das Ergebnis einer mehrjährigen Recherche über die skandalösen Lebensbedingungen in deutschen Erziehungsheimen während der fünfziger und sechziger Jahren. Die Initiative entstand auf Grund der ungewöhnlich starken Resonanz auf einen im Mai 2003 publizierten SPIEGEL-Artikel (»Unbarmherzige Schwestern«), nach dessen Veröffentlichung sich rund
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500 Menschen aus ganz Deutschland und dem Ausland bei der Redaktion meldeten und über ihre Erfahrungen berichteten. Bei seinen Recherchen konnte Wensierski, wie er in einen abschließenden Kapitel zum Entstehungszusammenhang des Buches ausführt, größtenteils nicht eben auf das Entgegenkommen der zuständigen Einrichtungen bauen. Im Gegenteil: Die meisten der angesprochen Heimträger wiesen jegliche Kritik zurück und wo die Strategie des Abwiegelns und Bagatellisierens nicht mehr half, kam es unter dem Verweis auf die datenschutzrechtlichen Belange der Betroffenen zu einer »völligen Blockade« (S. 194) durch die Verantwortlichen. Damit wurde der (verspätete) Opferschutz einmal mehr zum Täterschutz.
Allerdings beruht seine Darstellung ohnehin weniger auf einer ausgiebigen Recherche in den verfügbaren Dokumenten und Akten, sondern basiert in erster Linie auf Gesprächen mit Frauen und Männern, die ihre Kindheit und Jugend in Erziehungsheimen verlebten. Auf dieser Grundlage porträtiert Wensierski mehr als ein Dutzend Lebensgeschichten, aus denen bei aller Individualität unmissverständlich hervorgeht, dass Misshandlungen und Erniedrigung, die Ausbeutung der Arbeitskraft und die krasse Missachtung sämtlicher Rechte und Bedürfnisse der Heranwachsenden offenbar zum gängigen Handlungsrepertoire in den betreffenden Einrichtungen gehörte. Ohne an dieser Stelle die zum Teil an Grausamkeit und oft schlicht purem Sadismus kaum zu überbietenden Details wiedergeben zu wollen, sei festgehalten, dass die Darstellungen eher an veritable Folterkeller erinnern als an Einrichtungen, die sich die Erziehung junger Menschen zum Ziel gesetzt haben.
So anschaulich und erschütternd die Schilderungen im Einzelnen auch sind, so unbefriedigend bleibt allerdings letztlich der Eindruck nach der Beendigung der Lektüre. Zwar handelt es sich in erster Linie um eine flott geschriebene Sozialreportage, an die man keinen strengen wissenschaftlichen Maßstab angelegen kann und es ist aller Ehren wert, die Betroffenen persönlich über ihre individuellen Schicksale zu Wort kommen zu lassen - was Wensierski insgesamt auch ohne voyeuristische Attitüden gelingt. Dennoch ist es gerade die Konzentration auf individuelle Schicksale und einzelne Einrichtungen, die den Blick auf die eigentliche Problematik verstellt. Denn dadurch wird suggeriert, dass letztlich das verwerfliche Handeln einiger unkompetenter, überforderter oder auch schlicht sadistisch veranlagter Einzelpersonen die Erziehungsarbeit diskreditiert hatten. Gewiss, Wensierski lässt wenig Zweifel daran, dass Erziehung in den fünfziger und sechziger Jahren auch außerhalb der Anstalten weitgehend den Maximen von Zucht und Ordnung verhaftet waren. Der Kern des Problems lag aber letztlich ebenso wenig in den Verfehlungen Einzelner wie in den muffig-autoritären Erziehungsvorstellungen der »Rohrstock-Republik Deutschland« (S. 53),
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sondern in den Strukturmerkmalen der Heimerziehung selbst. Die zentrale Funktionslogik der Zwangs- und Fürsorgeerziehung basierte seit ihren Anfängen im Kaiserreich auf der Annahme, dass sich die Anpassung junger Menschen an die jeweils herrschenden gesellschaftlichen Normen im Zweifelsfall mittels eines jahrelangen Freiheitsentzugs in einer per se welt-fremden Umgebung nachgerade mit der pädagogischen Brechstange produzieren ließe. Dazu bediente man sich mit den Erziehungsanstalten eines spezifischen Formtyps totaler Institutionen, der auf einem extremen Machtgefälle, einer bis zur vollständigen Fremdverfügung reichenden Bevormundung, größtmöglicher sozialer Distanz zwischen den Erziehern und den zu Erziehenden sowie der selektiven Gewährung von Privilegien und Sanktionen basierte. Es handelte sich, das zeigen alle vorliegenden Untersuchungen zur Geschichte der Heimerziehung, um ein Sozialisationsensemble, bei dem die für alle Erziehungsmaßnahmen konstitutive Gleichzeitigkeit von Hilfe und Kontrolle, Konsens und Zwang aufgehoben wurde und das Hilfemotiv letztlich jenseits aller guten Absichten bis zur Unkenntlichkeit verschwamm. Dieses strukturell gewaltgetragene Grundprinzip mochten die Exzesse einiger wild gewordener Nonnen und Pater auf die Spitze treiben, sie verkörperten es letztlich ebenso wenig wie es umgekehrt durch wohlmeinende Erzieherinnen und Erzieher, die Erziehung nicht mit brutaler Dressur und Zucht verwechselten, außer Kraft gesetzt werden konnte. So sind auch die Bezeichnungen »Schwachsinnige«, »Substanzarme« oder »Psychopatinnen«, mit denen die Leiterin eines Hamburger Mädchenheims die Insassinnen zu titulieren pflegte, eben nicht, wie Wensierski vermutet, ein Beleg für die mehr oder weniger offen geäußerten Sympathien einzelner Erzieher und Erzieherinnen für die NS-Ideologie (S. 56), sondern gehörten - ebenso wie die solchen diffamierenden Kategorisierungen folgenden Behandlung -
seit der Jahrhundertwende zum normalem Repertoire der Fürsorgeerziehung.
Wenn das Problem wie bei Wensierski letztlich bei einzelnen Personen oder Einrichtungen und nicht im System selbst verortet wird, ist man damit paradoxer Weise nicht weit von den Argumentationen der Heimträger entfernt. Wo Leugnen, Vertuschen und Bagatellisieren nicht mehr Helfen, erklärt man sich »Derartiges«, wie etwa ein Vertreter der Caritas das offenbar Unaussprechliche nennt, damit »dass Menschen versagt haben« (S. 82) oder verortet, wie eine katholische Ordensfrau, die Ursachen für das »perverse Verhalten« in psychologischen Dispositionen oder fehlenden Qualifikationen (S. 196f.). Das grundlegende Problem, die gesellschaftliche Integration junger Menschen durch ihre Exklusion und die Vorenthaltung fundamentaler Rechte durchsetzen zu wollen, bleibt damit aber unangetastet.
Sven Steinacker
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