Aus der
Geschichte lernen – die Heimerziehung in den 50er und
60er Jahren, die Heimkampagne und die Heimreform
Veranstaltung des
Landeswohlfahrtsverbandes Hessen mit der Internationalen
Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) und
dem SPIEGEL-Buchverlag bei DVA – am 9. Juni 2006 in
Idstein im Taunus
Ausschnitt
aus der Tagungsdokumentation (Kassel, August 2006) ISBN:
3-9251-65-2 ISBN: 13:978-3925146-65-7
[ Seite 64
]
Diskussion zu
den Vorträgen
Moderatorin,
Tissy Bruns: Alle Vortragenden sitzen in allergrößter
Nähe. Das Program sieht jetzt vor, dass wir eine Etappe
der Fragen und kurzen Antworten einlegen. Ein Wort zu mir: Ich
heiße Tissy Bruns, bin Redakteurin beim Tagesspiegel aus
Berlin und werde die Diskussion am Nachmittag moderieren. Sie
soll vor allen Dingen Gelegenheit geben, an unsere Referenten
Fragen zu richten. Wer will, hebt den Arm, ich registriere die
Wortmeldungen und bitte um kurze persönliche Vorstellung
für jeden, der an das Mikrofon geht.
[ Seite 80-82
]
Andreas Prinz: Wir kommen nicht umhin, auch aus
der Sicht der Jugendämter uns unserer Verantwortung gegenüber
unserer Vergangenheit und unserer Tradition, in der wir stehen, zu
stellen.
Herr Schrapper [Prof. Dr.
Christian Schrapper – Professor für Pädagogik und
Sozialpädagogik an der Universität Koblenz], Sie
haben es ja heute Vormittag in Ihrem Vortrag deutlich gemacht:
Es gibt keine Flucht vor der eigenen Geschichte, die uns immer
auch Vermächtnis sein muss. Deswegen geht mein Beitrag in
zwei Richtungen. Einmal – was können wir seintens
der Jugendämter heute praktisch tun, um Schaden, der
entstanden ist, wieder gutmachen, aufarbeiten zu helfen. Zum
anderen: Was ist eigentlich unsere Verpflichtung beim "Lernen"
"aus [der] Geschichte" für die gegenwärtigen
Herausforderungen in unserer Arbeit? Welche
Aufgaben und Aufträge bei der Entwicklung erzieherischer
Hilfen, die wir ja mitverantworten, haben wir dort
wahrzunehmen?
Ich beginne mit dem letztgenannten Aspekt: In
der momentanen Debatte müssen wir uns nach meinem Dafürhalten
klar gegen die Übertragung der Heimaufsicht auf die
Kommunen wenden!. Auch wenn die kommunalen Spitzenverbände
und auch einige Bundesländer tatsächlich der Auffassung
sein sollten, das Heimaufsicht in kommunale Zuständigkeit
übergehen sollte, bekenne ich mich dazu, dass ich dies für
falsch und gefährlich halte. Wir müssen als kommunale
Jugend- ämter unter dem Diktat knapper Ressourcen hart mit
den Trägern über die Höhe von Entgelten
verhandeln. Wenn wir an manchen Stellen die Träger –
vielleicht auch unter politischem Druck – im Preis so
drücken, oder diese, dass angesichts der Konkurrenz,
die unter den Trägern stattfindet, [dies] selbst tun,
[so]dass notwendige pädagogische Standards nicht mehr
gewährleistet sind: gerade dann bedarf es einer unabhängigen
Aufsicht, die unabhängig Grenzen setzen und die
notwendigen Mindeststandards einfordern kann. Ansonsten besteht
sehr real die Gefahr, dass über Missstände erneut
hinweggesehen werden könnte – mit bekanntermaßen
äußerst fatalen Folgen. Auf den Zusammenhang von
Ressourcenknappheit und Entstehen von Gewalt in den Heimen ist
hier heute bereits sehr ausführlich hingewiesen worden.
Ich denke, diese Lehre müssen wir ziehen und deswegen ist
es auch unsere Verpflichtung, uns an dieser Stelle diesem
politischen Mainstream entschieden entgegen zu stellen.
Zu
dem zweiten Gedanken zur Frage, was es für Jugendämter
heißen müsste, praktische Verantwortung im "Lernen"
"aus der Geschichte" zu übernehmen, haben Sie, Herr
Schiltsky [Michael-Peter Schiltsky], mir heute morgen mit Ihrer
Forderung, die "Pespektierung des Rechtes" müsse
unbedingt generell eingelöst werden, aus dem Herzen
gesprochen und sozusagen „das Stichwort geliefert“. [
٪
] Bedrückender
Weise müssen wir jedoch vielfach feststellen, dass die
korrekte Ausführung von Gesetzen, gerade im
Leistungsbereich der Sozialgesetzgebung, auch im Kinder- und
Jugendhilfebereich, „nicht gerade“ (um es freundlich
zu formulieren) „ein Schwerpunkt kommunalaufsichtlicher
Aktivitäten ist“. Von Kommunalaufsicht wird vielmehr
kontrolliert, ob unsere Haushalte defizitär sind, ob wir
zuviel Geld für Soziales ausgeben, deswegen vielleicht
unsere haushalte genügend konsolidieren. Aber, ob wir
gesetzliche Vorgaben tatsächlich umsetzen, oder bestehende
Rechts-
[ 81 ]
ansprüche
auf Leistungen, die Familien, junge Menschen uns gegenüber
haben, missachten – dass wird nicht kontrolliert. Deshalb
bedarf es hier in besonderem Maße unserer eigenen
Zivilcourage als Entscheidungsträger in den Jugenämtern,
auch unter Einspradruck diesen Leistungsansprüchen
gesetzkonform Geltung zu verschaffen. Dies ist eine sehr
persönliche Verantwortung, der wir uns hier stellen müssen:
wir dürfen Begehrlichkeiten von Politik (die aus großer
Finanznot geboren sind, das räume ich unumwunden ein)
nicht nachgeben, gesetzeswidrige Leistungsverweigerungen
oder -verkürzungen zu praktizieren. Die öffentlichen
Haushalte leiden extrem unter finanzieller Auszehrung und auch
Politiker können kein Geld drucken. Für deren Not habe
ich jedes Verständnis. Aber es gibt Rechtsansprüche,
die haben wir von Gesetzes wegen zu erfüllen und da dürfen
wir nicht wackeln! Auch das ist ein Vermächtnis unserer
Geschichte, dass wir auch als Verwaltungsmitarbeiter, die die
Vorgaben der Politik vom Prinzip her umzusetzen haben, unseren
politischen Vorgesetzten und Entscheidungsträgern
im Extremfall trotzdem sagen müssen: „Bei allem
Respekt vor Eurer Vorgesetzten- und politischen
Entscheidungsfunktion – es gibt auch noch ein
übergeordnetes, z. B. Bundes- recht und das dürfen
wir nicht missachten“. Im Konfliktfall haben wir es stärker
zu respektieren als ihm entgegenstehende kommunalpolitische
Entscheidungen und Weisungen. Dieses gilt, auch wenn der
Bundesgesetzgeber sehr weit von der kommunalpolitischen Ebene
entfernt scheint und auch die entsprechende Lobby oft fehlt. Wir
dürfen uns dieser Verpflichtung nicht entziehen und müssen
in unserem Verwaltungsalltag unseren persönlichen Beitrag
leisten, uns vielleicht auch unbeliebt machen, damit sich
hier nicht tatsächlich wieder Zustände einschleichen
wie in den 50er und 60er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts.
Ich komme jetzt zur Frage unserer praktischen
Möglichkeiten, bei der Wiedergut- machung entstandenen
Schadens durch praktische Hilfe und Unterstützung
mitzuhelfen: Hier sehe ich die Jugendämter in zweierlei
Hinsicht gefragt und es gibt auch teilweise ganz konkrete
Handlungsmöglichkeiten.
Zum Einen geht es tatsächlich
oft darum, Zugänge zu Akten zu schaffen. Ich habe
fest- gestellt, dass die Aufbewahrung älterer Akten bei
meinen Kolleginnen und Kollegen in den hessischen Jugendämtern
sehr unterschiedlich gehandhabt worden ist. Manche haben
überhaupt keine alten Akten mehr – schlicht aus
Raumgründen sind die leider alle vernichtet worden.
Da
ich selber aus der Heimerziehung komme, habe ich im Laufe der
Jahre die Erfahrung gemacht, dass es manchmal Menschen gab, die
aus sehr verschiedenen Gründen auf alte Heimakten
angewiesen waren. Oft z. B. nach 40 bis 50 Jahren, zum Zweck einer
medizinischen Behandlung, wo sie gefragt worden sind, sind sie
gegen eine bestimmte Krankheit früher mal geimpft worden
oder hatten sie diese Krankheit mal gehabt. Als ich die Leitung
unseres Jugendamtes übernommen habe, habe ich bei uns auch
klar die Vorgabe gemacht, wir werfen alte Akten von Menschen, die
von uns in Heimerziehung oder in Pflegefamilien vermittelt
worden waren, erst mal 50 bis 60 Jahre nicht weg. Ich bin
neulich bei uns mal in den Aktenkeller gegangen und war sehr
froh über das, was ich dort vorgefunden habe: Wir haben
als relativ kleines Jugendamt tatsächlich noch 1200 Bände
von alten Akten, die so zwischen 1948 und den 60er
Jahren datieren. Mir graut zwar davor, wenn wir da mal eine
konkrete Akte suchen müssen, weil die völlig
unsortiert sind, aber ich denke, das ist dann unsere
Verpflichtung, es trotzdem zu tun.
Unsere zweite
Möglichkeit, praktisch zu helfen, ist, soweit unsere Orts-
und Geschichtskenntnis es ermöglicht, den Menschen bei der
Suche zu helfen, die tatsächlich nicht mehr wissen, in
welcher Einrichtung genau sie gelebt hatten, wo diese lag, in
[
82 ]
welcher Trägerschaft sie sich befand; da hat sich
ja im Laufe der Zeit auch Vieles verändert. Ich denke, da
können wir durchaus unsere Beiträge leisten, auch indem
wir vielleicht unsere damaligen Kolleginnen und Kollegen mit
einbeziehen, um die Menschen die ihre Wurzeln suchen, ihre
Lücken in der Biografie schließen möchten, als
Lotsen auch ein wenig zu unterstützen.
Moderatorin,
Tissy Bruns: Vielen Dank.
[
Für die vollständige – 102 Seiten umfassende –
Tagungsdokumentation wird ein Unkostenbeitrag von 8.00 Euro
erhoben. Bestelladresse: Landeswohlfahrtsverband Hessen,
Pressestelle, Ständeplatz 6-10, 34117 Kassel, Bunderepublik
Deutschland – Germany.
Pressestelle Ansprechspartner,
u.a.: Jörg Daniel Telefon: (05 61) 10 04 - 22
13 Eimail: [email protected]
]
|