Es war einmal ein Mann, der auszog, um die Welt vor
dem Bösen zu retten. Niemand wußte, woher er kam. Kurz
nach dem großen Krieg, der viel Leid über die Menschen
gebracht hatte, tauchte er aus der Asche auf. Mit Vorliebe
scharte er kleine Jungs um sich, die ihn unwiderstehlich anzogen
und die er zur Ehre des Herrn am liebsten auszog. Doch die Welt,
die unter der Fuchtel einer üblen Macht stand, erkannte
seine heilbringende Losung nicht.
Bald sagte er sich von
der großen Christengemeinde los, kehrte der Alten Welt den
Rücken und zog mit seinen Jüngern über das Meer.
In der neuen Heimat machte er große Landstriche urbar und
entlockte dem gesegneten Boden ungeahnten Reichtum. Bald konnte
er seine Freunde von einst auf das Köstlichste bewirten.
Gemeinsam wurden ausgeklügelte Verfahren ersonnen,
um die Anhänger notfalls zu ihrem Glück zu zwingen.
Neue Freunde kamen hinzu, Eingeborene aus dem Umland, die solche
Pläne begeistert aufgriffen und an den Feinden des Guten
ausprobierten. Aber Undank ist der Welten Lohn, die Freunde
wandten sich nach und nach von ihm ab. Dann gingen auch die engen
Bande zu den Abgesandten der alten Heimat verloren, die sich so
lange an den schmackhaften Erzeugnissen seiner Ländereien
ergötzt hatten. Allgemeiner Ächtung und Verfolgung
ausgesetzt, suchte er schließlich mit wenigen Getreuen
Zuflucht in den Katakomben seines Anwesens. Und wenn sie nicht
gestorben sind, dann treiben sie noch heute ihr Unwesen.
Genau
das tun sie, auch wenn es unglaublich erscheint. Die
mittelalterlich anmutende Geschichte spielt nämlich
keineswegs in vergangenen finsteren Epochen, sondern in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Sie begann in einem
gemeinhin als demokratisch anerkannten Staatswesen, der
Bundesrepublik Deutschland, und fand ihre Fortsetzung in der
Republik Chile, die sich mit wachsender Begeisterung als »Tiger
Lateinamerikas« feiern läßt.
Man schrieb
das Jahr 1956. In Siegburg bei Bonn richtete eine
Glaubensgemeinschaft ihr geistliches Zentrum ein. Kurz zuvor
hatte sie sich von der baptistischen Kirche losgesagt. Ihre
»Jugendheimstatt« beherbergte die meisten Mitglieder
dieser Sekte, abgeschirmt von der Außenwelt. Oberstes
Prinzip war der blinde Gehorsam gegenüber dem damals
35jährigen Sektenführer Paul Schäfer. Der
am 4. Dezember 1921 in Troisdorf bei Siegburg geborene ehemalige
Jugendpfleger [ und ehemalige
Bethel-Erzieher ] führte ein strenges Regime.
Seine Kontrolle war ebenso perfekt wie perfide. Er
nahm seinen Anhängern regelmäßig die Beichte ab
und konnte so das Leben jedes einzelnen überwachen. »Niemand
darf ein Geheimnis haben!« trichterte er den Seinen ein.
Wer trotzdem über die von Schäfer vorgegebenen Stränge
sprang, wurde geschlagen, wochenlang eingesperrt oder völlig
isoliert.
Die Sekte entwickelte schon in Westdeutschland
eine erstaunliche wirtschaftliche Aktivität, sie betrieb
Lebensmittelgeschäfte und eine Drogerie. »Arbeit
ist Gottesdienst« lautete eine andere
Schäfersche Losung. Und da Gottesdienst nicht bezahlt
wird, arbeiteten seine Jünger ohne Lohn, nur für Kost
und Logis - und für ihr Idol Schäfer. Wie bei
anderen pseudoreligiösen Gruppen traten sie ihren gesamten
Besitz ab. Zur körperlichen und psychischen Unterdrückung
gesellte sich damit die finanzielle Abhängigkeit.
Schäfers
Wunsch, alles Übel dieser Welt auszurotten, bezog sich mit
besonderer Inbrunst auf kleine Jungen. Seine Gewohnheit, die
minderjährigen Sektenmitglieder in der Dusche einzuseifen
und hinterher in sein Bett zu zerren, entsprang wohl weniger
seinen exorzistischen als seinen pädophilen Gelüsten.
Obwohl er schon 1951 wegen Kindesmißbrauchs von seinem
kirchlichen Arbeitgeber [ Bethel /
Evangelisch-lutherische Kirche / Innere Mission / Diakonie;
danach babtische Kirche ] geschaßt worden
war, konnte er sein Unwesen in der Bundesrepublik mehrere Jahre
lang weiter treiben. »Paul Schäfer hat mein Leben
zerstört, er verfolgt mich bis heute«, erklärte
kürzlich der Hamburger Wolfgang Müller. Er war einer
von Schäfers jugendlichen Opfern und wurde mehrfach
vergewaltigt, bis er - im dritten Versuch - endlich fliehen
konnte.
Ein gewisser Hartmut Hopp wurde ebenfalls sexuell
mißbraucht, nachdem er 1957 in die Siegburger
»Jugendheimstatt« gekommen war. Auch er versuchte
mehrfach zu fliehen, doch regelmäßig wurde er wieder
eingefangen. Jahre später sollte er einer der treuesten
Anhänger Schäfers und »Außenminister«
der neu gegründeten Colonia
Dignidad werden. Hopp wurde vor wenigen Tagen
festgenommen, diesmal von der chilenischen Polizei.
Flucht
nach Chile wegen Haftbefehl
Nach fünfjährigem
Prolog begann 1961 die eigentliche Geschichte. Die
Staatsanwaltschaft war Schäfer auf die Schliche gekommen,
der Vollstreckung des Haftbefehls entzog er sich durch die
Verlagerung seiner Aktivitäten nach Chile. Am Fuße
der schneebedeckten Anden, etwa 300 Kilometer südlich
der Hauptstadt Santiago, verwandelten Schäfers willige
Ameisen den unwirtlichen Boden in blühende Landschaften.
Die fast 10 000 Hektar große Colonia
Dignidad umfaßt neben Wohn- und
Verwaltungsgebäuden auch ein eigenes Krankenhaus, ein
Kraftwerk und eine Landepiste von 2 000 Metern Länge. Der
deutsche Staat im Staate war praktisch autark, die Führung
verkündete stolz, bis auf Salz und Reis von der Außenwelt
unabhängig zu sein.
Auch in Chile kam die Gruppe
bald wegen Unterdrückung und Mißhandlung ihrer
Mitglieder in Verruf. Der übermannshohe kombinierte
Maschen- und Stacheldrahtzaun, Wächter mit Hunden und
weitgehende Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im Lager
erinnern unweigerlich an die faschistischen KZ.
Übereinstimmend berichteten Wolfgang Müller und
Wilhelmine Lindemann, denen die Flucht von dem hermetisch
abgeriegelten und mit modernster Elektronik gesicherten Gelände
gelang, von körperlicher Züchtigung, Zwangsarbeit
und lückenloser Überwachung. Der erst 1988
geflohene Hugo Baar bestätigte die brutale
Terrorherrschaft des Führers über die
Sektenmitglieder: »Nachdem der Delinquent vor Paul Schäfer
gebeichtet hatte, wurde er öffentlich bestraft.«
Die
Meldungen aus dem Inneren der Colonia
waren ungeheuerlich. Anfangs konnte niemand richtig an eine
derartig platte Verquickung von sexueller Perversion,
verschrobenen Moralvorstellungen und rechtsradikaler Blut- und
Bodenideologie glauben. Die Beweislast ist jedoch
mittlerweile erdrückend. Dennoch hat es bisher keiner
geschafft, wirklich Licht in die düstere Affäre zu
bringen. Das liegt fraglos an den besonderen Kontakten der
Kolonisten in Chile und in Deutschland. Diesseits und jenseits
des Atlantik schützten mächtige Kräfte die Colonia
Dignidad vor dem Zugriff der Justiz.
Die
BRD-Botschaft in Santiago fühlte sich lange ihrer
rechtslastigen Tradition verbunden, die schon in der
Eingangshalle sichtbar war: Dort hing noch bis 1990 eine Karte
des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937. Im Unterschied zu
anderen europäischen Botschaften, die nach dem Putsch von
1973 Hunderte Oppositionelle außer Landes brachten,
verweigerte die westdeutsche Botschaft den Opfern des
Militärregimes den Zutritt. Und: Auf Unterstützung
konnten auch die Dignidad-
Flüchtlinge nicht hoffen. Sich an die Botschaft zu
wenden, so erklärte Paul Schäfer seinen Anhängern
des öfteren, habe keinen Sinn: »Die habe ich in der
Hand.« Der ehemalige Botschafter Erich Strätling, der
1977 im Auftrag des Auswärtigen Amtes die Colonia
besuchte, will trotz verschlossener Türen nichts
Verdächtiges gesehen haben.
Als »U-Boot«
der Sekte in der Botschaft agierte der langjährige
Botschaftssekretär Dietrich Linke. Er sorgte dafür, daß
die Pässe der Sektenmitglieder pauschal verlängert und
die Renten weiter gezahlt wurden, ohne daß die
entsprechenden Personen erscheinen mußten. Und er überließ
seinem Freund Hartmut Hopp den Briefwechsel mit Bonn.
Von
Anfang an unterhielt die Colonia
Kontakt zu deutschen Nazis, die nach dem 2. Weltkrieg nach
Südamerika ausgewandert waren. Es liegt der Verdacht nahe,
daß Schäfer, dessen Leben vor 1945 bis heute ungeklärt
ist, auf gute Kontakte aus dieser Zeit zurückgreifen konnte.
Die Colonia Dignidad kann als
Knotenpunkt des lateinamerikanischen Nazitums betrachtet werden.
Ehemalige SS-Leute gehen ein und aus
Zu den
Besuchern gehörten der Rechtsanwalt Manfred Roeder, der
Autor des Vorwortes zu dem Buch »Die Auschwitz-Lüge«,
der ehemalige Marinesoldat Hans Albert Loeper, der in Chile lebt,
weil dort die »vergeistigte Macht Hitlers«
gegenwärtig sei, und der ebenfalls nach Südamerika
geflohene frühere SS-Mann Hugo Roggendorf. Der Waffenhändler
Gerhard Mertins, ein Partner des SS- Obersturmführers und
intellektuellen Kopfes der frühen Neonazis Otto Skorzeny,
unterhielt geschäftliche und politische Beziehungen zu
Schäfer. Über ihn bestand auch Kontakt zum »Schlächter
von Lyon«, Klaus Barbie, der unter der Diktatur des -
soeben zum bolivianischen Präsidenten gewählten - Hugo
Banzer die Foltermethoden »modernisierte« und
Elektroschocks unter ärztlicher Kontrolle einführte.
Auch in der Deutschen-Kolonie wurde systematisch
unter engmaschiger ärztlicher Kontrolle gefoltert.
Vor wenigen Tagen berichtete der chilenische Arzt Luis Puebles,
der auf dem Gelände der Colonia
schwer mißhandelt wurde, von der Praxis in der dortigen
»Folterschule«: »Paul Schäfer hat die
Anweisungen gegeben, wie ich mißhandelt werden sollte. Er
war bei der Folter anwesend und sehr böse, wenn seine
Befehle nicht genau befolgt wurden.«
Hinweise
darauf, daß der Sektenführer foltererprobt war und
warum niemand wissen darf, was er vor 1945 tat, lieferte ein
anderes Opfer. Ein Brasilianer hätte geprahlt, in der
Colonia gäbe es Leute,
die an Folterungen der Gestapo teilgenommen hätten. »Da
du sowieso nicht lebend hier 'rauskommst« erklärte er,
»kann ich es dir ja erzählen.«
Unter der
Unidad-Popular-Regierung von Salvador Allende fühlten sich
Paul Schäfer und seine Getreuen so bedroht, daß sie
Ausweichquartiere in Kanada, Australien, Paraguay und Argentinien
suchten und gleichzeitig ihr Landgut zu einer Festung
aufrüsteten. Spätestens 1972 nahmen sie Kontakt mit den
späteren Putschisten auf. Der damalige Anführer der
faschistischen Organisation »Patria y Libertad«
(Vaterland und Freiheit), Roberto Thieme, strafte wiederholte
Aussagen der Colonia, nicht
am Putsch beteiligt gewesen zu sein, am 30. Juli 1989 in der ARD
Lügen: »Viele Leute, die zu jener Zeit gegen Allende
waren, d. h. gegen den Kommunismus gekämpft haben, benutzten
die Colonia Dignidad. Es war
bekannt, daß die Deutschen stramme Antikommunisten waren.
Wir haben ihre logistische Hilfe auch für den Putsch
genutzt.«
Und nicht nur dafür. Da auch Paul
Schäfer überall die Kommunisten lauern sah, wie sein
langjähriger Mitarbeiter Hugo Baar erklärte, ging die
Unterstützung nach dem Putsch von General Pinochet weiter.
Das war die einmalige Chance, die verfeinerten Foltertechniken im
größeren Rahmen anzuwenden. Schon lange bestand enger
Kontakt zum gefürchteten Geheimdienst DINA. Dessen Chef, der
1995 zu siebenjähriger Haft verurteilte Manuel Contreras,
war Bewunderer und enger Freund der Colonia.
Vielfältige Aussagen ehemaliger politischer Gefangener
lassen keinen Zweifel daran, daß Schäfers Mustergut in
Südchile als Folterzentrale fungierte.
Die Lehrerin
Adriana Bórquez war drei Monate verschwunden, 24 Tage
davon in der Colonia Dignidad.
Klar wurde ihr das, als sich der DINA-Chef einmal lauthals
darüber beschwerte, daß er nicht mit dem Auto abgeholt
worden war und dabei unverwechselbare Ortsangaben machte.
Strauß und Pinochet schützten die
Colonia
Über jeden
Zweifel erhaben sind die Zeugenaussagen der Folterer, die auf dem
Gelände der Sekte eingesetzt wurden. Der DINA-Agent René
Muñoz Alarcón, der berühmte Kapuzenmann aus
dem Nationalstadion, der seine früheren sozialistischen
Parteigenossen denunzierte, erinnerte sich vier Jahre danach sehr
gut an die Zeit des Putsches. Im Juni 1977 sagte er gegenüber
dem Solidaritätsvikariat der Katholischen Kirche aus: »Sie
schickten mich zur Colonia Dignidad,
etwa 40 Kilometer landeinwärts von Parral. Dort war ein
Ausbildungszentrum der DINA, geleitet von Deutschen.« Vier
Monate nach dieser Erklärung wurde er ermordet aufgefunden.
Trotz dieser und vieler anderer Zeugenaussagen hat bisher
kein Gericht die Führer der Colonia
Dignidad verurteilt. Die Zuständigkeiten wurden
lange Zeit zwischen Deutschland und Chile hin- und hergeschoben.
Doch die mächtigen Freunde vom Kaliber eines Franz Josef
Strauß oder eines Augusto Pinochet, beide zu Gast auf dem
heute Villa Baviera genannten Gut, haben ihren schützende
Hand über die Sekte gehalten.
In Chile bestand bis
vor kurzem keine ernsthafte Gefahr für Paul Schäfer und
die Seinen. Das hat sich in den letzten Wochen geändert. Die
chilenische Polizei hat Hartmut Hopp, die Nummer zwei der
Colonia, vor wenigen Tagen
festgenommen. Und am 8. August wurde auch in Chile erstmalig
gegen die Sekte Anklage wegen Menschenrechtsverbrechen unter der
Diktatur erhoben.
Damit wächst die Hoffnung, diese
anachronistisch anmutende Erfolgsgeschichte Ewiggestriger noch
vor dem Ende dieses Jahrtausends zu einem Ende zu bringen.
Jens Holst
|