Wolfgang Rosenkötter
Mein erster Tag in Freistatt
Die lange Allee geht in eine Landstraße über, an der rechts und links weite
Felder liegen, ab und zu einmal ein Bauernhof. Und dann dieser Geruch nach
Jauche, der sich mit meinem Angstschweiß vermischt. Der VW-Bus biegt
plötzlich nach links ein und es erscheinen einige Häuser, ein weiter Platz und
ein Schild: „Freistatt“. Mir wird noch übler vor Angst. Ich bin am „berüchtigten“
Ort angekommen.
Wir halten vor einem großen, dunklen Gebäude. Die Fenster sind vergittert und
alles wirkt trostlos grau. Nachdem ich ausgestiegen bin, empfängt mich eine
dröhnende Männerstimme: „Mal nicht so lahmarschig, Kerl. Bewegung,
Bewegung!“ Ich erblicke einen dicken Mann mittleren Alters in einer
Reiteruniform und mit einer Gerte in der Hand. „Mein Name ist Bruder
Klapproth und ich bin hier der Hausvater. Du hast mich und die anderen Brüder
immer mit Bruder anzureden und nach einer Aufforderung oder einer
Bemerkung immer „Danke“zu sagen, verstanden? Wir sollen hier einen
Menschen aus Dir machen und das werden wir. Du wirst arbeiten bis zum
Umfallen und jeglichen Gedanken an Flucht kannst Du Dir aus dem Kopf
schlagen. Bete und arbeite, dann hast Du es hier gar nicht so schlecht.“ Ich war
im „Vorhof zur Hölle“, wie die anderen Jungs im Heidequell Freistatt genannt
hatten, angekommen und hatte gleich meinen Peiniger der nächsten zwölf
Monate kennen gelernt. Mit weichen Knien und Angst bis zum Hals folgte ich
dem „Bruder“ins Haus. Zuerst ging es in den Keller und ich erhielt Arbeits- und
Freizeitkleidung, Bettwäsche und Badeartikel. Die Arbeitskleidung bestand aus
einem dicken, kratzigen Hemd, einer dicken Jacke, einer dünnen Hose, einem
Paar Sandalen für die Freizeit und einem Paar „Botten“, dicken Holzschuhen
mit einem Lederschaft. „Damit Du nicht weglaufen kannst“, sagte der Kollege,
der mir die Wäsche gab. „Nach drei Monaten erhältst Du dann Gummistiefel,
die sind bequemer. In die Botten musst Du ordentlich Fußlappen stopfen, dann
ist es nicht so schlimm.“
Danach ging es zwei Treppen hoch in den Schlafraum, einen großen,
viereckigen Raum, in dem etwa 45 Betten standen. Der Hausvater führte mich
zu einem Bett in einer der Ecken. „Hopp, hopp, schnell beziehen, danach
kommst du nach unten in den Gemeinschaftsraum“, dröhnte die Stimme von
„Bruder“ Klapproth. Über meinem Bett war eine Glasscheibe und daneben eine
Tür. Später erfuhr ich, dass immer ein Bruder in der Nacht auf uns aufpassen
musste. Nachdem ich das Bett bezogen hatte, ging ich mit einem dicken Kloß
im Hals nach unten in den Gemeinschaftsraum, einem schmucklosen, dunklen
Raum mit Tischen und Stühlen an den Wänden und einem großen Billardtisch
in der Mitte. Hier empfing mich wieder der Hausvater und stellte mich anderen
„Brüdern“ vor. Sie machten alle einen grimmigen und unnahbaren Eindruck und
erzeugten weitere Angst bei mir. „Gleich geht“s raus ins Moor zum Arbeiten.
„Bruder“Rethschulte wird dich ins Moor zu deiner Kolonne bringen. Iß noch ein
Brot, trink eine Tasse Tee und dann los.“
Nach dem kurzen Essen quälte ich mich in die „Botten“ und die
Arbeitskleidung. Die Fußlappen in den Holzschuhen verschlimmerten die
Sache nur und schon nach ein paar Schritten hatte ich Schmerzen. Aber der
„Bruder“ drängte und so humpelte ich zu einer Lore auf Schienen, dem
gängigen Transportmittel in Freistatt. Die Lore wurde mit einem
Pumpmechanismus fortbewegt. Dieses Pumpen war meine erste Tätigkeit in
Freistatt. „Geht es nicht noch schneller?“ Die stechenden Blicke des „Bruders“
Rethschulte trafen mich. Er sollte ebenfalls als Horrorfigur in meinen Träumen
der nächsten Monate auftauchen.
Dann eine Reihe gebückter Rücken und eine Holzhütte. „Meine“ Kolonne war
erreicht. „Hier bringe ich euch Frischfleisch“, lachte „Bruder“ Rethschulte.
„Nehmt ihn nur ordentlich ran, damit er gleich weiß, wie hier der Wind weht.“
Sprach“s und fuhr mit der Lore wieder zurück.
Ich bekam einen Kollegen zugeteilt und wir mussten mit einem Spaten in einem
Graben Torfstücke ausstechen und sie zu einem Haufen am Grabenrand
aufschichten. Noch nie hatte ich so eine schwere Arbeit leisten müssen und
schon nach einer halben Stunde konnte ich nicht mehr. „Wohl zu fein zum
Arbeiten, was?“, ertönte die süffisante Stimme des „Bruders“ Aufseher.
„Hoffentlich bewegst du dich bald, sonst setzt es was!“
Meine Füße bluteten inzwischen von der Reibung der Holzschuhe und meine
Hände kriegten die ersten Blasen. Aber die Angst trieb mich an und so
arbeitete ich weiter, bis der erlösende Ruf „Feierabend!“ kam. „Alles auf die
Loren, aber zügig“! Mit vier dieser Fahrzeuge ging es wieder zum Haus zurück.
Ausziehen, Waschen und das Anziehen der Freizeitkleidung erfolgten bei mir
wie in Trance. Ich konnte mich kaum noch bewegen. Dann ging es in den
Gemeinschaftsraum, wo uns der „Hausvater“ empfing. Breitbeinig, die
Reitpeitsche in der Hand, stand er mit einem bösen Grinsen im Raum.
Nachdem wir an den Tischen Platz genommen hatten, sagte „Bruder“
Klapproth: „Einige haben heute im Moor ihr Soll nicht erfüllt, wie ich gehört
habe. Damit das morgen nicht wieder passiert, machen wir mal einen kleinen
Entengang um den Tisch“. Wir mussten in Hocke hintereinander im
Gänsemarsch um den Tisch laufen. Nach ein paar Schritten kam ich hoch, weil
ich nicht mehr konnte. „Willst du wohl runter, Kerl!“ Die Reitpeitsche sauste auf
meinen Rücken. Ich biss die Zähne zusammen und machte weiter. Wie ich das
Abendbrot und den Weg ins Bett geschafft habe, wusste ich nicht mehr. Aber
als ich ins Bett fiel wusste ich: Ich war tatsächlich im Vorhof zur Hölle
angekommen.
Im „SWR2Eckpunkt“ hat Wolfgang Rosenkötter am 26. September 2006 unter dem Titel „Ich hab nur Angst gehabt“ von seinen Erfahrungen berichtet. Dieser Beitrag von rd. 25 min. Länge ist als mp3-Datei verfügbar (z.B. bei www.swr.de oder www.podster.de/view/3934/episodes), die man auf dem PC oder einem mp3-player hören kann.
Wolfgang Rosenkötter, geb. 1945, war von 1962 bis 1965 in „Freiwilliger Erziehungshilfe“ in mehreren Einrichtungen der Bethelschen Anstalten, davon ein Jahr in Freistatt. Die repressiven und demütigenden Auswirkungen des Heimaufenthaltes wirken bis zum heutigen Tage nach, lassen sich aus der vergangenen Lebensgeschichte nicht verdrängen und belasten sein Leben noch heute.
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