Heimkinder fordern Entschädigung für Misshandlungen
Fürs Leben gezeichnet
Elf Jahre lang war Herbert Strünker in einem Haus der Vincentinerinnen untergebracht
Von Elmar Ries
Horstmar. Am schlimmsten, sagt er, waren die Schläge, die ihren Grund allein in sich trugen. Die keinen Anlass hatten und darum immer unerwartet trafen. Das sei fast noch demütigender gewesen als die Tatsache, dass die, die mit harter Hand und kaltem Herzen zuschlugen, Nonnen waren. “Jeden Tag sind wir damals geprügelt worden”, erzählt Herbert Strünker. Und während er es sagt, verkrampfen seine Hände, die er zuvor locker gefaltet hatte.
Strünker war ein Knirps von vier Jahren, als ihn seine mit dem harten Nachkriegsleben überforderte Mutter nach Bochum ins Kinderheim der Vincentinerinnen gab. Der Vater hatte sich klammheimlich aus dem Staub gemacht. “Meine Mutter wusste nicht, wie sie mich und meine Geschwister satt bekommen sollte”, sagt er. Das Kinderheim erschien ihr daher wie ein Paradies. Das es aber nicht war - und andere auch nicht. Gewalt und Missbrauch scheinen in einigen Häusern an der Tagesordnung gewesen zu sein. Vor einigen Monaten haben ehemalige Heimkinder einen Verein gegründet. Sie fordern von den Gemeinschaften und Wohlfahrtsverbänden Wiedergutmachung.
Der Pensionär aus Horstmar-Leer will davon jedoch nichts wissen. Nicht, dass ihm das egal wäre; das Gegenteil ist eher der Fall: Würde er sich in der Opferorganisation engagieren, müsste er sich mit seiner Geschichte auseinandersetzen. Täte er dies, so fürchtet der 60-Jährige, käme alles wieder hoch - die leidbeladenen elf Jahre im Heim, die er erfolglos zu vergessen versucht hat. Herbert Strünker ist ein Opfer - der Nonnen und der Zeit; einer, der seine Vergangenheit nie verarbeitet hat. Auch nach 50 Jahren, sagt er, träume er vom Heim, den Nonnen, den Schägen, der Erniedrigung. Fast jede Nacht wache er schweißgebadet auf. Der Horstmarer, der als Handformer in einer Gießerei gearbeitet hat, erzählt nicht von alledem, um aufzuschneiden, dafür ist er zu schüchtern. Er will erzählen, wie es wirklich war, “weil mir diese Pauschalanklage nicht gefällt”. Dass da auch Licht war neben all dem Schatten, ist klar - trotzdem legt er auf die Betonung Wert. Von Schwester Ehrenburga erzählt er zum Beispiel, die ihm stundenlang vorlas, während sie nähte. Oder davon, dass jedes Kind Weinachten eine Apfelsine geschenkt bekam - damals “war das die Sensation”. Dennoch: “Das entschuldigt nichts.” Der 60-jährige ist von seiner Kindheit gezeichnet. “Mittagspause hieß, Kopf auf den Tisch. Wer sich bewegte, bekam Schläge.” Prügel erhielt auch, wer im Unterricht nicht aufpasste, oder den Teller nicht leer aß, oder Nonnen zu lax grüßte, oder beim Sport zu langsam war …
Die allgegenwärtige Gewalt und vor allem die permanente Angst davor haben sich in seine Seele gebrannt. Erzählt er von früher, spiegeln sich seine Gefühle auch in der Art, wie er spricht. Mal redet er stockent, so, als wehrten sich die Wörter dagegen, von ihm ausgesprochen zu werden. Dann wieder schießen sie regelrecht aus ihm heraus.
Jahre später hat er Schwester Ehrenburga besucht und sie mit dem Vergangenen konfrontiert. Wie das zusammnegepasst habe, dass Nonnen gezüchtigt hätten, wollte er von ihr wissen. Schwester Ehrenburga sah kein Widerspruch - und das, sagt ihr ehemaliger Zögling, sei für ihn “das Allerschlimmste gewesen”.
Herbert Strünker, der von sich sagt, “durchaus ein gläubiger Mensch” zu sein, hat der Kirche daraufhin den Rücken gekehrt.
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