"Wir konnten nicht begreifen, warum man uns
gedemütigt, fallengelassen, bedroht, ausgelacht, wie Holz
behandelt, mit uns wie mit Puppen gespielt oder uns blutig
geschlagen hat oder abwechselnd beides. Mehr noch, wir durften
nicht einmal merken, daß uns all dies geschieht, weil man
uns alle Mißhandlungen als zu unserem Wohl notwendige
Maßnahmen angepriesen hat." Alice Miller,
Am Anfang war Erziehung
1 Gewalt gegen Kinder - ganz normal?
Oder: Was totgeschwiegen wird
In diesem Buch wird das Leben von jungen Menschen in einem von
einem Priester und Nonnen geleiteten katholischen Heim
geschildert: Aus der Innenwelt dieses Heimes beschreibt der Autor
die körperliche und seelische Gewalt, die Demütigung,
Erniedrigung und Ablehnung, die Ängste, Schmerzen und
Trauer, die Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit sowie den sexuellen
Mißbrauch, denen Kinder im "Namen Gottes" durch
Nonnen, den Priester und Erzieherinnen im Heim der traurigen
Kinder hilflos ausgeliefert sind. Aber auch die unerfüllten
Hoffnungen, Wünsche, Sehnsüchte nach Wärme,
Geborgenheit und Zärtlichkeit der Opfer der "Schwarzen
Pädagogik" werden geschildert. Das Erleben von Gewalt
in ihren schlimmsten Formen, der die Kinder durch eine Nonne
hilflos und wehrlos ausgesetzt sind, ist für diese jungen
Menschen das Durchleben der Hölle auf Erden. Diese Nonne,
Schwester Emanuela, wird im Verlauf der Handlung in sich
steigender Form zum Synonym für brutalste Gewalt.
Wie ein roter Faden zieht sich durch das Buch der langsame,
körperliche wie auch seelische Verfall der Kinder: Am Anfang
ihrer "Heim-Karriere" waren diese Kinder oft noch
Kinder, auch wenn sie zuvor im Elternhaus mißhandelt
wurden. Doch im Verlauf ihres "Heim-Lebens" hat man sie
durch die psychische, physische und verbale Gewalt ("Gott
wird euch bestrafen; für euch ist nicht der Himmel, sondern
die Hölle und das Fegefeuer bestimmt!"), aber auch
durch medikamentöse Ruhigstellung, Stück für Stück
ihrer Kindheit (und: Unschuld) beraubt! Diese "Kinder"
haben die kindliche Spontanität verloren: Diese "Kinder"
lachen nicht mehr, sie können nicht mehr glücklich sein
und keine Gefühle zeigen.
Aus der Innenwelt der (sexuell) mißbrauchten Kinder
heraus wird das hilflose Ausgeliefertsein, die tiefe
gefühlsmäßige Abneigung durch die Erwachsenen,
die großen Schmerzen und Ängste, die sich immer tiefer
in die Kinderseelen hineinfressen, geschildert.
Die Leser erleben, wie das Jugendamt und die Polizei in einem
"Kartell des Schweigens" durch ein Heimkind, das sich
kurzfristig den "Mauern der Gewalt" durch Flucht
entziehen konnte, über die alltägliche Gewalt im Heim
der traurigen Kinder aufgeklärt werden. Doch mehr als
Betroffenheit zeigen die Verantwortlichen nicht; sie schweigen.
Die Leser erleben einen Richter, der durch ein Heimkind von
der alltäglichen Gewalt im Heim erfährt, der aber
schweigt. Und der sich somit in das "Kartell des Schweigens"
einreiht. Der Richter, der für das Kind nur die Worte übrig
hat: "Mein Junge, Gott möge dich beschützen!",
spricht sich "Im Namen des Volkes" für die weitere
Heimunterbringung dieses Heimkindes aus - und verkündet auf
Antrag des Jugendamts, der Heimleitung und des Heimarztes, der
diesen Jungen sexuell mißbraucht hat, stillschweigend einen
entsprechenden Gerichtsbeschluß.
Die Leser erleben, wie sich eine einzige Nonne - allerdings
vergeblich - für die Heimkinder einsetzt, die auch keine
Konfrontation mit dem Heimleiter, der auch gleichzeitig Priester
ist, scheut - und die sich das Leben nimmt.
Der Autor hat ganz bewußt die Romanform gewählt, um
die dort beschriebenen Kinder zu schützen. Der Autor
verbürgt sich dafür, daß diese Heime und Menschen
existieren und daß diese die in diesem dokumentarischen und
authentischen Roman beschriebene physische und psychische Gewalt,
Demütigung, Erniedrigung, Herabwürdigung tatsächlich
erlebt haben. Diese gefolterten und für ihr Leben
geschädigten Opfer der "Schwarzen Pädagogik",
der klerikalen (Heim-)Erziehung wollen mit Namen nicht genannt
werden. Ihr alleiniges Ziel ist es, die für sie
unerträgliche Erinnerung an dieses "Leben": diese
"Kindheit", diese "Jugend" aus ihrem
Gedächnis zu verdrängen und abzutöten. Doch nach
Meinung des Autors verkennen sie die unumstößliche
Tatsache, daß diese "Kindheit" und "Jugend"
sich nicht verdrängen und abtöten läßt.
Dennoch respektiert der Autor den Wunsch der Betroffenen auf
Anonymität.
Die verbalen, seelischen und körperlichen Gewaltakte
gegenüber Kindern, die in diesem Buch beschrieben werden,
sind weder übertrieben noch veraltet. So fanden sie statt,
und so finden sie auch heute noch statt. Natürlich nicht
überall, in jedem Heim, aber oft genug. Eine Gestalt wie die
der Schwester Emanuela wurde nicht erfunden, solche Personen gab
und gibt es. Fromme Gelassenheit und Nächstenliebe konnte
jäh umschlagen in heftigste Wut, die sich in verbalen,
psychischen wie physischen Attacken Kindern gegenüber
äußerte. Wieweit Gewalt ganz bewußt als
"pädagogisches Mittel" eingesetzt wird, ist nicht
statistisch erfaßt, aber die Fälle, die ans Licht der
Öffentlichkeit kommen, beweisen, daß es keine seltenen
Einzelfälle sind.
Ich bin 1961, nachdem meine Eltern mich vielfach schwer
mißhandelt hatten, mit knapp zwei Jahren ins Heim gekommen.
Mit sieben Jahren wurde mir von pädagogischen Experten
Debilität (Med.: leichter Grad des Schwachsinns)
unterstellt. Dies hatte für mich katastrophale Folgen: Ich
kam am 13. April 1966 in das katholische Pflege- und Bildungsheim
St. Vincenzstift in Rüdesheim-Aulhausen am Rhein. Eine
Anstalt, in der - damals - etwa vierhundert Jungen und Mädchen,
Frauen und Männer untergebracht waren. Ihnen wurde von
"Experten" bescheinigt, geisteskrank oder (leicht)
schwachsinnig bzw. geistig behindert zu sein.
Das Jugendamt Trier mußte für meine Unterbringung
in das St. Vincenzstift nachträglich eine
vormundschaftsgerichtliche Genehmigung einholen. Der Grund: Das
St. Vincenzstift galt - damals - als geschlossene Anstalt. Dem
Antrag vom 18. April 1966 war ein ausgefüllter "Ärztlicher
Fragebogen für idiotische oder epileptische Kinder" vom
19. August 1965 beigefügt. Das Jugendamt Trier deklarierte
diesen bereits acht Monate alten "Ärztlichen
Fragebogen", der durchaus im Dritten Reich den (NS-)Ärzten
als Standard-Fragebogen gedient haben könnte, an das Gericht
als "amtsärztlichen Untersuchungsbericht". Obwohl
die Fragen bezüglich der "Idiotie und des Schwachsinns"
in keiner Weise beantwortet, geschweige aus medizinischer und
psychiatrischer Sicht fundiert bestätigt wurden, also eine
entsprechende Indikation nicht bejaht worden ist, gab der
Amtsgerichtsrat Dr. K. vom Amtsgericht Rüdesheim am Rhein
dem Antrag statt.
Unter "II. Fragen über Idioten, Schwachsinnige"
wurde bei Punkt 1. abgefragt: "Ist der Schwachsinn
angeboren? Oder in welchem Alter zuerst beobachtet worden?".
Die Medizinalrätin Dr. R. von der Gesundheitsbehörde
der Stadt Trier beantwortete die Frage wie folgt: "Nach dem
Bericht des Jugendamtes Trier wurde der Junge von klein auf
vernachlässigt und mißhandelt." Unter Punkt 2.
wurde abgefragt: "Was hält man für die Ursache des
Schwachsinns: Erblichkeit, Krankheiten, Verletzungen, geistige
Anstrengung, heftige Gemütsbewegungen wie Furcht,
Schrecken?". Hier verwies die Medizinalrätin auf Ziffer
I. Dort wurde unter den Punkten 11. und 12. abgefragt: "Sind
oder waren die Eltern blutsverwandt? Sind oder waren die Eltern
dem Trunke ergeben? oder syphilitisch infiziert vor der Geburt
des Kindes? Sind bei des Kindes Großeltern, Großonkeln
oder Großtanten, bei den Eltern, Onkeln, Tanten, bei
Vettern oder Basen oder bei den Geschwistern des Kindes
irgendwelche nervöse Erkrankungen, insbesondere
Geistesstörung, Fallsucht, Hysterie, Migräne oder
Selbstmord oder Verbrechen vorgekommen? Bei wem?" Beide
Fragen wurden von ihr mit: "Nicht bekannt" beantwortet.
Im Rahmen einer richterlichen Anhörung vom 23. Mai 1966,
wo es um die Frage meiner weiteren Unterbringung im St.
Vincenzstift ging, scheint sich der - damals - für die
Anstalt zuständige Obermedizinalrat Dr. E. mit dem
"Ärztlichen Fragebogen", insbesondere mit der dort
aufgeführten Terminologie inhaltlich identifiziert zu haben.
Obwohl ich mich erst sechs Wochen im St. Vincenzstift befand, kam
dieser Obermediziner zu einem für mich verheerenden Schluß:
"Das Kind befindet sich seit dem 13. April 1966 im
Bildungs- und Pflegeheim St. Vincenzstift. Es leidet an einer
Geistesschwäche im Sinne eines Schwachsinns leichten
Grades." Noch in zahlreichen Stellungnahmen an das
Gericht bestätigte der Obermedizinalrat: "Mit einer
Heilung der wahrscheinlich endogen bedingten Geistesschwäche
ist nicht zu rechnen." - "Bei A.H. handelt es sich
nicht um eine Geisteskrankheit, sondern um eine Geistesschwäche
im Sinne einer Debilität, die ihn ein Leben lang begleiten
wird." Diese Urteile führten dazu, daß ich
fast zehn Jahre meines Lebens im St. Vincenzstift habe leben
müssen.
Das St. Vincenzstift war für mich damals die "Hölle
auf Erden": Im "Namen Gottes", im "Namen Jesu
Christi", im Namen der "Schwarzen Pädagogik"
wurden Kinder und Jugendliche (sicherlich nicht alle!) zum Teil
schlimmsten körperlichen und seelischen Mißhandlungen
wehr- und hilflos ausgesetzt bzw. unterworfen. Wenn ich die
Formulierung: im "Namen Gottes" bzw. im "Namen
Jesu Christi" hier verwende, so hat das seine Berechtigung:
Uns wurde immer wieder zu verstehen gegeben, daß wir von
den Stellvertretern Gottes und Jesu Christi - konkret: im Namen
und Auftrag von Gott und seinem Sohn Jesus Christus - erzogen
wurden. Der liebe Gott sei allgegenwärtig, er würde uns
auf Schritt und Tritt verfolgen, beobachten, kontrollieren. Jede
körperliche Bewegung, jeder Atemzug, jeder Gedanke und jede
Gefühlsregung würde Gott seinen Stellvertretern
mitteilen. Kurzum: Gott habe die göttliche überirdische
Fähigkeit, uns mit seinen Augen und Ohren zu kontrollieren:
jede Sekunde, Minute, Stunde, Tag, Monat und Jahr.
Wenn wir bedroht, bestraft, geschlagen, mißhandelt
wurden, so haben die Nonnen - stellvertretend - im Auftrag Gottes
gehandelt: Es waren Gottes Worte, Gottes mahnende und aggressive
Blicke, Gottes Hände, Gottes Füße, die uns
beschimpften, demütigten, bestraften, prügelten. Es war
Gottes Wille: Die uns auffressenden Ängste, Schmerzen,
Trauer, Vereinsamung, die sich immer tiefer in unsere Seelen
hineinbohrte und hineinfraß. Wir hatten unsere Kindheit
Gott und seinem Sohn Jesus Christus zu verdanken.
Nach der Heimentlassung war ich voller Wut und voller Haß.
Ich habe es dennoch geschafft, mich von dieser "Kindheit",
die keine Kindheit war, zu befreien. Mir ist es gelungen, die Wut
und den Haß zu besiegen.
In einer 1981 als Buch erschienenen Heimbiografie mit dem
Titel "Prügel vom lieben Gott", das in den Medien
bundesweit große Beachtung fand, habe ich diese Zeit des
Grauens literarisch verarbeitet und verfremdet.
Völlig losgelöst von "Prügel vom lieben
Gott" sind die Erfahrungen und Erlebnisse zu sehen, die
viele ehemalige HeimbewohnerInnen des St. Vincenzstiftes gemacht
haben:
Die traumatischen Erlebnisse, die körperliche und
seelische Gewalt, die Ängste, die Demütigungen, die
seelischen Wunden, die Alpträume, die Lieblosigkeit, die
Schmerzen, die Schmerzensschreie, die Aggressivität, den
Haß, den Groll, die Bitterkeit. Die Einsamkeit, die
Vereinsamung, die Isolierung, die Enttäuschung, die
Traurigkeit, die Hoffnungslosigkeit. Den Schrei und die große
Sehnsucht nach Liebe, Wärme, Geborgenheit, Anerkennung,
Selbstachtung.
Das Buch "Prügel vom lieben Gott" und unzählige
Gespräche mit Menschen haben mich von dieser "Kindheit"
befreit wie zahlreiche gerichtliche Auseinandersetzungen mit dem
St. Vincenzstift. Das St. Vincenzstift verfolgte meiner
Auffassung nach das Ziel, die Justiz zu mißbrauchen und mit
ihrer Hilfe eine "Mauer des Schweigens" über die
damalige Zeit des Grauens auszubreiten. Ich wurde damals
wegen Verleumdung und übler Nachrede angezeigt und
angeklagt. In dem Strafprozeß haben zahlreiche frühere
Leidensgenossen, aber auch ehemalige Erzieher meine Vorwürfe
hinsichtlich zum Teil schwerer Mißhandlungen bestätigt.
Ein Sozialarbeiter bestätigte zum Beispiel dem Richter, daß
"körperliche Züchtigungen und Essensentzug zum
pädagogischen Konzept, ja gewissermaßen zum Alltag"
des Heimes gehörten. Das Strafverfahren gegen mich wurde auf
Antrag der Anklagebehörde eingestellt und ein
Ermittlungsverfahren gegen Nonnen und Erzieher des St.
Vincenzstiftes wegen Körperverletzung und Mißhandlung
Schutzbefohlener eingeleitet.
"Für eine Verurteilung der beschuldigten Pädagogen
und Nonnen war es allerdings zu spät", schrieb damals
der SPIEGEL: "Auch das neue Verfahren wurde eingestellt, die
Vergehen waren verjährt. Und nachdem diese Gefahr vorüber
war, drehten die Aulhausener Heimerzieher den Spieß um."
Nachdem die Mißhandlungen - durch die eingetretene
Verjährung - nachträglich "sanktioniert"
wurden, wurde nach Erscheinen meines Buches "Prügel vom
lieben Gott" mein Verleger und ich mit einer einstweiligen
Verfügung konfrontiert. Das St. Vincenzstift erreichte "mit
dem ganzen Gewicht der katholischen Kirche" (Frankfurter
Rundschau , 22. Februar 1982), daß die Verbreitung meines
Buches vom Landgericht Wiesbaden gerichtlich untersagt - soll
heißen: verboten - wurde. In einem Brief an das Wiesbadener
Gericht prangerte der Verband Deutscher Schriftsteller dieses
Vorgehen an als "Zensur eines kritischen Buches".
Auch im Rahmen dieses Zivilprozesses bestätigten
ehemalige Leidensgenossen die zum Teil schweren psychischen und
physischen Mißhandlungen. Die Frankfurter Rundschau
schrieb am 22. Februar 1982: "Das Sonderpädagogische
Zentrum St. Vincenzstift zu Rüdesheim nahm für sich das
Recht in Anspruch, mit jener vom Autor fiktiv "Heim zum
lieben Gott" genannten Anstalt identisch zu sein, unter
deren Dach die gesammelten Erfahrungen mit literarischen Mitteln
gebracht worden waren." Im Rahmen eines gerichtlichen
Vergleichs wurde nur ein einziger Zusatz in das Buch aufgenommen,
der dort bereits in anderen Worten enthalten war, und das Buch
konnte wieder unverändert verbreitet werden:
"Die in diesem Buch geschilderten konkreten Ereignisse,
Personen und Zustände sind nicht Dokumentation, sondern
literarisch verarbeitet und verfremdet."
Die Frankfurter Rundschau führte hierzu zutreffend aus:
Die einstweilige Verfügung wurde erlassen, obwohl der "Autor
die Handlung verfremdet hat" und im "Vorspruch alle
Personen, Orte und Institutionen für »unbenannt«
erklärte". Zahlreiche Medien solidarisierten sich
damals mit mir - hier einige Beispiele: SPIEGEL: "Ein
deprimierendes Beispiel für die Situation von
Heimkindern..." - Frankfurter Rundschau: "... Impulse
für eine Diskussion über Zustände in Kinder- und
Jugendheime..." - Sozialmagazin: "Alexander Homes Buch
ist bedeutungsvoll, auch als Literatur." - Podium: "...
hatte ich ... niemals den Eindruck, daß sich der Verfasser
in seine Erinnerung verrannte. Vielmehr ließ er eine Wut
aufkommen über das, was im Heim Alltag ist." Und
der Schriftsteller Martin Walser erklärte: "Homes
hat mich gepackt, er gehört zweifellos zu den auswählbaren
Naturschreibern."
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Die
Intervention der katholischen Amtskirche
Am 21. Januar 1997 erhielte ich völlig unerwartet eine
Kopie der Seiten 10 bis 12 meines im Oktober 1996 erschienenen
Buches Gestohlene Kindheit.. Mein damaliger Verleger, der
katholische Patmos Verlag in Düsseldorf, verlangte plötzlich
für die Vorbereitungen zum geplanten Nachdruck von
Gestohlene Kindheit, daß diese Seiten, in denen ich mich
kurz mit meiner eigenen Kindheit im St. Vincenzstift in
Rüdesheim-Aulhausen beschäftigt habe, auf etwa eine
Buchseite zusammengestrichen wird. Ich wurde darüber
aufgeklärt, daß kurz nach Erscheinen des Buches ein
Anwalt höchstpersönlich in Düsseldorf im Namen und
Auftrag des St. Vincenzstifts vorstellig geworden sei. Dieser
Anwalt, der bereits 1981 für das St. Vincenzstift eine
einstweilige Verfügung gegen mein Buch "Prügel vom
lieben Gott" erwirkte, soll auf Änderungen bestanden
haben. Der Verlag bestand mir gegenüber darauf,
daß der 3 Absatz der Seite 10, die gesamte Seite 11 (von
zwei Sätzen abgesehen) und die Seite 12 der "Zensur"
anheimfallen. Das Ziel der anwaltlichen Intervention dürfte
gewesen sein zu erreichen, daß bei einem Nachdruck der
"Fall St. Vincenzstift" nur noch in völlig
abgeschwächter Form, und nur am Rande, Erwähnung
findet. Der Grund: Mit der "Schwärzung" sollte
möglicherweise eine erneute öffentliche Diskussion über
den Anfang der achtziger Jahre bundesweit diskutierten "Fall
St. Vincenzstift" verhindert werden. Möglicherweise
spekulierte man darauf, daß ich eine Zensur an meinem Buch
nicht hinnehmen würde - und der Patmos Verlag dann eine
zweite Auflage nicht druckt. In Schreiben und Telefonaten
machte ich dem Patmos Verlag zunächst deutlich, daß,
abgesehen von einer modifizierten Darstellung des Vergleichs
bezüglich des Prozesses um mein Buch "Prügel vom
lieben Gott", niemand von mir eine derartige Zensur an
meinem Werk verlangen kann. Um den Nachdruck nicht zu gefährden,
gab ich dennoch in einigen Punkten nach. Und trotzdem erreichten
mich insgesamt fünf verschiedene Kopien mit
Änderungswünschen. Im Februar 1997 hatten wir
uns in Düsseldorf schlußendlich auf ein paar
Änderungen verständigt und festgelegt. Der Patmos
Verlag lehnte jedoch den Abdruck einer von mir überarbeiteten,
aktualisierten Fassung des "Falles St. Josephshaus" in
Klein-Zimmern (Heimträger: Bistum Mainz) generell ab (siehe
Seite X). Zwei Tage nach dem Gespräch in
Düsseldorf erreichte mich erneut eine Fassung der Seiten mit
Änderungswünschen, die sich kaum von den vorherigen
unterschied: Der Verleger wollte von der Vereinbarung in
Düsseldorf plötzlich nichts mehr wissen. Nachdem ich in
wesentlichen Punkten meine Zustimmung verweigerte, lehnte dieser,
als habe er auf diesen Moment gewartet, einen Nachdruck ab mit
dem Hinweis, eine Vereinbarung für den Nachdruck habe es
nicht gegeben.
Da große Teile der katholischen Amtskirche ein Interesse
daran hatten, daß das Buch "Gestohlene Kindheit"
für immer vom Markt verschwindet, war man daran
interessiert, alles zu unternehmen, um dieses Ziel auch
tatsächlich zu erreichen: Der gleiche Anwalt vertrat die
Interessen des Mainzer
Bischofs Karl Lehmann gegen Hans Meiser, der sich im Dezember
1996 auf der Grundlage meines Buches Gestohlene Kindheit in
seiner (RTL-)Fernsehsendung mit dem Thema: Gewalt in Heimen
beschäftigte - und er war auch zumindest in rechtsberatender
Form für die von mir in diesem Buch beschriebene St.
Josef-Stiftung Eisingen tätig (siehe Seite #). Auch die St.
Josef-Stiftung ließ damals prüfen, ob es eine
juristische Handhabung gibt, gegen mein Buch Gestohlene Kindheit
vorzugehen. Die Juristen haben jedoch keine greifbare Chance
gesehen, einen Prozeß zu gewinnen.
Mir war es gelungen, den Ullstein Buchverlag für eine
Taschenbuchausgabe von "Gestohlene Kindheit" zu
gewinnen. Nachdem die Ullstein-Taschenbuchausgabe im Juli 1998
erschienen war, wurde der Wiesbadener Anwalt wieder erneut aktiv.
Im März 1999 gelang es ihm, den Ullstein Buchverlag davon zu
überzeugen, "Gestohlene Kindheit" vom Markt zu
nehmen. Die nachfolgend abgedruckte Presseerklärung
des Autors schildert die Einzelheiten:
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P r e s s
e e r k l ä r u n g
Am 23. April 2000 feierte die Welt den Welttag des Buches
Ein Buchautor wehrt sich gegen den kirchlichen Versuch, ihn
als Heimkritiker mundtot zu machen. Oder: Ein kritisches Buch
über (klerikale) Heimerziehung darf nicht mehr erscheinen
Auch heute noch werden kritisch schreibende AutorInnen
bekämpft, diffamiert, verfolgt, angeklagt, oft auch
weggesperrt, ermordet. Und ihre Werke zensiert oder vernichtet.
In der Bundesrepublik Deutschland werden AutorInnen zwar nicht
weggesperrt und/oder ermordet, doch auch hier sind sie manchmal
nicht sicher vor Verfolgung! Auch hier findet Zensur und eine Art
inquisitorische „Bücherverbrennung“ in moderner
Form statt.
Einer derartigen Verfolgung und „Bücherverbrennung“
ist der Autor Homes durch die klerikale Amtskirche ausgesetzt.
Das Buch des Autors "Gestohlene Kindheit", das 1996 im
katholischen Patmos Verlag erschien und 1998 als Taschenbuch im
Ullstein Buchverlag, wird seit März 1999 vom Ullstein
Buchverlag nicht mehr ausgeliefert. "Gestohlene
Kindheit" beschäftigt sich mit zum Teil schwersten
Misshandlungen in bundesdeutschen Heimeinrichtungen - und mit der
verantwortlichen Rolle der jeweils betroffenen Heimleitung und
Heimträger, die teilweise von schweren
Menschenrechtsverletzungen Kenntnis hatten und zunächst
schwiegen und zu spät reagierten. Auf den wenigen Seiten,
die sich mit dem St. Vincenzstift beschäftigen, geht der
Autor auch kurz auf seine eigene Kindheit ein. Eine „Kindheit“,
die streckenweise von Angst und Gewalt geprägt war. Im St.
Vincenzstift in Rüdesheim-Aulhausen musste der Autor
zwischen 1966 und 1975 ein Teil seiner Kindheit und Jugendzeit
verbringen. Diese Zeit im St. Vincenzstift hat nach Überzeugung
des Autors viele der dort damals untergebrachten Menschen zu
Opfern einer menschenverachtenden klerikalen Heimerziehung
gemacht. Es wird Zeit, dass sich die Heimträger in der
Bundesrepublik Deutschland, egal ob sie konfessionell gebunden
sind oder auch nicht, mit ihrer Vergangenheit beschäftigen
und anerkennen, dass sie für das große Leiden
unzähliger Menschen verantwortlich sind. Dies betrifft
insbesondere Menschen, bei denen sich nach ihrer Heimkarriere
eine Knast- oder Psychiatrie-Karriere anschloss und auch heute
noch oft anschließt.
Das St. Vincenzstift, das bereits 1981 gegen das erste Buch
des Autors mit dem Titel "Prügel vom lieben Gott"
vorging, schaltete wie auch 1981 den Wiesbadener Anwalt Dieter
Wallenfels, der einen behinderten Sohn hat, der in der
Einrichtung lebt, ein. Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden
ermittelte damals gegen MitarbeiterInnen der Einrichtung wegen
Verdacht der Misshandlung Schutzbefohlener. Das
Nachrichtenmagazin der SPIEGEL schrieb damals: "Für
eine Verurteilung der beschuldigten Pädagogen und Nonnen war
es allerdings zu spät. Auch das neue Verfahren wurde
eingestellt, die Vergehen waren verjährt..."
Der Anwalt, der auch für andere in "Gestohlene
Kindheit" aufgeführten Einrichtungen rechtsberatend
tätig war, aber offenbar keine Möglichkeit sah, für
diese gegen den Autor und seinem Buch vorzugehen, protestierte
1996 höchstpersönlich beim Patmos Verlag und 1998 beim
Ullstein Buchverlag. Er schaltete, nachdem weder der Patmos
Verlag noch der Ullstein Buchverlag das Buch vom Markt nahm, kein
Gericht ein, um ein Auslieferungsstopp zu erreichen. Im März
1999 nahm er beim Ullstein Buchverlag einen neuen, nunmehr
erfolgreichen Versuch: Der Verlag lehnt seitdem die weitere
Auslieferung von "Gestohlene Kindheit" ab. Der Verlag
unterrichtete den Autor nicht. Dieser erfuhr hiervon erst durch
Zufall im Spätsommer 1999. Bis heute hat weder der Anwalt
noch der Ullstein Buchverlag dem Autor über die angeblichen
inkriminierenden Stellen im Buch Auskunft gegeben. Der Ullstein
Buchverlag verweist auf den Anwalt, der dem Autor nur lapidar
mitteilte, in dem Buch seien Unwahrheiten enthalten. Was für
angebliche Unwahrheiten, teilte er dem Autor nicht mit.
Der Autor sieht in dem Vorgehen des Anwaltes nicht nur die
Interessen des St. Vincenzstiftes vertreten, sondern auch die
Interessen der klerikalen Heimträger in der Bundesrepublik
Deutschland schlechthin. So vertrat der Anwalt 1997 auch die
Interessen des Mainzer Bischofs Karl Lehmann gegen das Focus
Magazin, den Privatfernsehsender RLT und den Talkmaster Hans
Meiser, die sich mit Lehmann und das unter der Trägerschaft
des Bistums Mainz stehende Kinderheim St. Josephshaus in
Klein-Zimmern bei Darmstadt kritisch beschäftigten.
Der Ullstein Buchverlag lehnte es ab, der Bitte des Autors
nachzukommen, ihm die Restauflage zu verkaufen.
Wiesbaden, 26.04.2000
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Die im St. Vincenzstift erlittene Gewalt hat bei vielen
ehemaligen Heiminsassen - konkret: Opfern - zu Traumen geführt.
Diese traumatischen Erlebnisse werden sie niemals vergessen
können. Noch schlimmer: Diese "Kindheit" führte
viele von ihnen automatisch in eine psychotische oder neurotische
Entwicklung. Ihrer Kindheit und Jugend beraubt, sind sie am Leben
gescheitert. Mit zwei Zitaten aus Briefen ehemaliger
Heiminsassen will ich verdeutlichen, was (konfessionelle)
Erziehung in einem (konfessionellen) Heim für Dauerschäden
bei betroffenen Menschen anrichten kann:
"Im Heim kamen wir nie mit Mädchen zusammen.
Ich hatte oft von einem Mädchen geträumt, nachts, wenn
ich mich selbst befriedigte. Heute bin ich auf der Suche nach
Frauen, die Ähnlichkeit haben mit einer der Nonnen oder
Erzieherinnen, die mich früher als kleines Kind schon
prügelten, wenn ich mich an sie anschmiegen wollte. Wenn
ich also eine entsprechende Frau kennenlerne, will ich immer,
daß sie mich gewaltsam nackt auszieht und mich dann ganz
brutal schlägt. - Nur so komme ich heute zu einem
Orgasmus."
"Ich komme heute nur zu einem Orgasmus, wenn mich
ein anderer Mann mit einer Peitsche schlägt, dann ist das
schön für mich. Er muß fest auf mich
einschlagen, und dann sehe ich meine Erzieher, die auf mich
einschlagen. Ich nehme den Schlagenden nicht wahr, sondern den
Erzieher. Früher wurde ich als Kind schon geschlagen, immer
und in jeder Situation. Wenn also ein Mann auf mich einschlägt,
bin ich der kleine Junge, der nach Zärtlichkeit schreit und
dafür Schläge bekommt - wie früher!"
Kinder waren schon immer der Gewalt von Erwachsenen -
hilflos und wehrlos - ausgesetzt: Gewalt gegen Kinder ist nicht
nur mit körperlicher Gewalt gleichzusetzen: Auch psychischer
Gewalt, die oft schlimmer wirkt, sind Kinder - hilflos und
wehrlos - ausgesetzt: (Wut-)Ausbrüche, Beschimpfen, Schreien
und Brüllen, Wut und Haß, hektische Gesten, Laustärke
der Sprache überfluten, bedrohen, vergewaltigen Gefühle
und Seele eines Kindes durch Ablehnung und Verachtung, Demütigung
und Herabsetzung. Oft ist die brutale Gewalt an Kindern, der
Mißbrauch, die Manipulation, die Beschränkung der
Freiheit, die Demütigung gepaart mit einer Haß-Liebe.
Was im Rahmen der Heim-Erziehung - unabhängig davon, ob
es sich um konfessionelle, private oder staatliche Heime handelt
- Kindern angetan wurde - und zum Teil heute noch angetan wird -,
ist eine Geschichte der Rechtlosigkeit von Kindern, ist eine
Geschichte von Erniedrigung, Kränkungen und schwersten
körperlichen und seelischen Mißhandlungen.
Erwachsene, konkret: Nonnen, Patres, Erzieher, Erzieherinnen
und Eltern sind schnell dabei, ihre Aggressionen und Haßgefühle,
die mit ihrer eigenen, oft mit großer Gewalt verbundenen
und erlebten Kindheit zusammenhängen, an den ihnen
anvertrauten Kindern abzureagieren. Viele, sicherlich nicht alle,
befriedigen überdies ihr Bedürfnis nach Macht. In
einem Gespräch mit mir, das ich in dem von mir
herausgegebenen Buch: Heimerziehung - Lebenshilfe oder Beugehaft?
(Frankfurt/M. 1984) abgedruckt habe, berichtet eine Nonne, die in
katholischen Heimen arbeitete, ganz offen und ehrlich, wie »im
Namen Jesu Christi« Kinder körperlich und seelisch
gequält, gedemütigt, bestraft wurden:
"Auch ich fing an, Kinder zu schlagen, zu bestrafen,
sie mit Sanktionen zu belegen. Und ich wußte - wie alle
Nonnen und Erzieher auch -, daß die Kinder sich nicht
wehren konnten. Sie waren uns, unseren Launen, unserer Macht
hilflos ausgeliefert! Wir haben alle bei den Kindern eine große
Angst verbreitet. Die Angst beherrschte ihre Seele und ihren
kleinen Körper und ihr junges Leben... Wir haben den
Kindern immer wieder gesagt, daß wir sie im Namen von
Jesus Christus erziehen und ihnen helfen wollen. Doch in
Wirklichkeit haben wir - auch wenn diese Erkenntnis schmerzlich
ist! - gegen diese christlichen Grundsätze verstoßen!"
Mit dem Straf- und Unterdrückungsinstrument: "Gott"
wurde den Kindern Gehorsam, Willigkeit, Anpassung und
Unterwerfung abverlangt:
"Durch die Drohung mit Gott ", gesteht diese
Nonne,"hatten wir die Kinder unter Kontrolle, auch ihre
Gedanken und Gefühle. Ist das nicht das Ziel jeder
konfessionellen Erziehung, jedes konfessionellen Heims?"
Sie selbst bekennt sich dazu, Kinder auf das schwerste
mißhandelt zu haben:
"Ich träume heute noch von diesen Heimkindern.
Aber es sind keine schönen Träume, keine schönen
Erlebnisse, die da wach werden. Erst vor kurzem hatte ich wieder
einen dieser Träume: Ich sah wieder, wie ich einen etwa
sieben Jahre alten Jungen bei der Selbstbefriedigung erwischte.
Ich war außer mir und stellte ihn zur Rede. Doch das Kind
begriff nichts. Meine Wut wurde immer größer, und ich
zog ihn an den Haaren in den Duschraum. Dort habe ich kaltes
Wasser in eine Wanne einlaufen lassen und den Jungen mit Gewalt
dort hineingezerrt und ihn viele Male untergetaucht. Ich sah -
wie damals in der Wirklichkeit -, wie er sich zu wehren
versuchte; ich hörte ihn wieder schreien. Es kostete eine
ganze Menge Kraft, diesen kleinen, zierlichen Körper wieder
und wieder unterzutauchen. Ich merkte, wie die Kraft des Jungen
nachließ. Sein Gesicht lief blau an, und dennoch machte
ich weiter. Der Junge bekam kaum noch Luft, als ich endlich von
ihm abließ."
Körperliche und seelische Mißhandlungen, denen
Kinder durch Erwachsene - hilflos und wehrlos - ausgesetzt sind,
hinterlassen ein Leben lang Spuren. Diese Kinder sind
gekennzeichnet: Geschlagene Kinder schlagen weiter, bedrohte
Kinder bedrohen weiter, gedemütigte Kinder demütigen
weiter ... Kurzum: Junge Gewaltopfer werden selbst zu Angreifern
und Gewalttätern.
Cathy Spatz Widom, Psychologin der Staatlichen Universität
von New York in Albany, hat 20 Jahre lang 908 mißhandelte
Kinder beobachtet. Die am häufigsten verprügelten und
vernachlässigten Kinder wurden, so Widom, die
gewalttätigsten Jugendlichen. Die Kinder, denen man
Fürsorge, Zuneigung und Liebe vorenthalten hatte, verübten
50 Prozent mehr Gewaltverbrechen als andere Gleichaltrige
(Frankfurter Rundschau , 14. 10. 1995). Adrian Raine von der
Universität Südkalifornien untersuchte 4269 Jungen,
denen in früher Kindheit körperliche und seelische
Gewalt angetan wurde und die mißbraucht worden sind. Raine
fand heraus, daß sie alle bis zum 18. Lebensjahr dreimal
soviele Gewaltvergehen begangen hatten wie andere Jugendliche
(Frankfurter Rundschau , 14.10.1995).
"Der junge Mensch ist ein aufständischer, und
solange es Menschen auf dieser ihrem Ende zueilenden Welt gibt,
wird es Strafe geben müssen, auch in einem christlichen
Erziehungsheim (...). Die erbarmende Liebe schafft die Strafe
nicht ab, sondern weiß, daß sie dem vom Chaos
bedrohten natürlichen Menschen durch Zucht und Strafe einen
unentbehrlichen Dienst tut."
Kurt Frör Grundfragen der evangelischen
Heimerziehung, in: Handbuch der Heimerziehung, S. 577-596, hier:
S. 591, hersg. von Friedrich Trost, Frankfurt/Berlin/Bonn, 1952
ff.
2 Gewalt auch heute noch in der
Heimerziehung? Oder: Aktuelle
Fälle
Auch heute noch werden in - wenn natürlich auch nicht in
allen - Heimen junge Menschen geprügelt, seelisch gequält,
gedemütigt, verbal niedergemacht, ja hin und wieder sogar
sexuell mißbraucht. Doch nur wenige Skandale dringen an die
Öffentlichkeit. Die "Mauer des Schweigens" scheint
immer noch eine sehr große, fast unüberwindbare
Tradition innerhalb der Heimerziehung darzustellen.
Die folgenden Beispiele mögen dies verdeutlichen.
Im Don Bosco-Internat Kemperhof der Salesianer in Bendorf-Sayn
bei Neuwied (zugegebenermaßen kein Heim im eigentlichen
Sinne, aber einem solchen durchaus vergleichbar) in dem 87 Jungen
zwischen elf und achtzehn Jahren untergebracht sind, wurden von
Brüdern dieses Ordens Internatskinder sexuell mißbraucht.
1994 wurde der Erzieher und Ordensbruder R. B., der gestand,
Jungen fortgesetzt sexuell mißbraucht zu haben, zu sieben
Jahre Haft verurteilt.
Im Dezember 1995 wurde ein weiterer Ordensbruder, der Erzieher
und Gruppenleiter, A. R., dem die Staatsanwaltschaft Koblenz
vorwarf, jahrelang nachts in die Schlafräume der Jungen
geschlichen zu sein und mindestens einen Jungen unter vierzehn
Jahren dadurch sexuell mißbraucht zu haben, daß er
ihn unter der Bettdecke hindurch am Geschlechtsteil berührte,
zu drei Jahren Haft verurteilt. Zuvor hatte der Mann versucht,
sich der Strafe durch Flucht zu entziehen; er wurde jedoch noch
rechtzeitig aufgegriffen und verhaftet.
Ein Junge berichtete im Mai 1995 der Mittelrheinischen
Morgenpost, daß ein Lehrer die Angewohnheit habe, hin und
wieder "mit einem Tritt in den Hintern nachzuhelfen, wenn
sich der Klassenraum nicht schnell genug leeren würde"
(Mittelrheinische Morgenpost , 28. Mai 1995). Die
Mittelrheinische Morgenpost berichtet auch von einem
Nasenbeinbruch, den sich ein Schüler zugezogen habe, als er
mal die "Lehr-Kraft" zu spüren bekam. Der Lehrer
H. bestritt diese Darstellung.
Ein fünfzehnjähriger Junge berichtete der Zeitung,
er habe von dem Pater W. eine gewaltige Ohrfeige bekommen, weil
dieser ihn beim Rauchen einer Zigarette erwischt habe. Obwohl
der Junge der Klassenlehrerin habe ausrichten lassen, daß
er durch diese Ohrfeige Ohrenschmerzen habe und den Arzt
aufsuche, habe sie einen Eintrag ins Klassenbuch wegen
unerlaubten Entfernens vom Schulhof vorgenommen. Der Junge
berichtete den Vorfall seiner Mutter, die Strafanzeige wegen
Körperverletzung erstattete. Der Direktor des
Kemperhofs, Pater K.-H. B., scheint an der Aufklärung dieser
Vorfälle nicht sonderlich interessiert gewesen zu sein.
Fragenden Reportern knallte er mit den Worten: "Keine Fragen
mehr!" die Tür vor der Nase zu. Er zeigte sich
überrascht, daß der Fall an die Öffentlichkeit
gelangt sei. Die Super Sonntag, eine in Koblenz erscheinende
Sonntagszeitung, schrieb: "Offenbar gilt hinter den dicken
Mauern des historischen Gebäudes der Grundsatz: „Schweigen
ist besser als Reden.“
Unter dem Titel: "Geschlagen, gedemütigt"
berichtete die Fachzeitschrift Sozialmagazin im April 1977 über
das unter der Trägerschaft des Bistums Mainz stehende St.
Josephshaus in Klein-Zimmern bei Darmstadt: "Im St.
Josephs-Haus ... herrschen mittelalterliche Zustände."
Der damalige Heimleiter H. P., ein katholischer Priester,
habe Kinder und Jugendliche schwersten, brutalen Mißhandlungen
unterworfen:
"Ein Bube wurde über eine Wiese geprügelt
und getreten, weil er sich geweigert hatte, ein Stück
Papier aufzuheben. Jungen, die über den Rasen liefen,
wurden mit »Pottsau« angebrüllt, mußten
auf Händen und Füßen weiterlaufen und bellen
oder an der Mauer ein Bein heben, da ja nur »Hunde«
über den Rasen liefen. Andere mußten bis zur
Erschöpfung Kniebeugen machen. Wer nicht mehr konnte, wurde
wieder hochgerissen. Jugendliche, die vom Ausgang verspätet
heimkehrten, mußten zur sogenannten »Watschenparade«
antreten. Sie hatten sich nach Mitternacht auf dem Speicher
aufzustellen und vom Heimleiter Ohrfeigen abzuholen. Unter
anderem drückte Heimleiter P. seine Zigaretten in den
Kaffeetassen der Jungen aus. Ein kleiner Junge wurde von ihm
derart geschlagen, daß sich dieser unter einen Heizkörper
flüchtete. Zur Strafe wurde schon einigen Jungen der Kopf
kahlgeschoren."
Der fromme Kirchenmann habe, berichtete das Sozialmagazin
weiter, "Jungen wegen versuchter Aneignung von Äpfeln
aus dem Heimgarten so brutal geschlagen, daß einem das Blut
aus der Nase floß und die Schlagspuren bzw. Schwellungen
noch tags darauf zu sehen waren". Das Darmstädter
Echo berichtete am 2. Februar 1977 unter dem Titel: "Gehört
Prügeln zum Erziehungsprogramm?":
Dem Zeitungsbericht ist weiter zu entnehmen, daß auf
eine von einer Initiative Heimerziehung einberufenen
Pressekonferenz ein betroffener Junge berichtete: "Heimleiter
P. sei in den Waschraum des Ferienheims gekommen und habe die
Gruppe von 13 bis 17 Jahren alten Jungen aufgefordert, sich nackt
auszuziehen. Danach habe er die Jungen am ganzen Körper
gewaschen." Der Priester, der den Kindern und
Jugendlichen auch die Beichte abnahm, habe versucht, "unbequemen
Jungen in einer psychiatrischen Klinik einweisen zu lassen.
Andere Kinder seien mit Drohungen dazu gebracht worden, Aussagen
über körperliche Züchtigungen zu unterlassen".
Der fromme Mann sei nicht einmal davor zurückgeschreckt, so
das Darmstädter Echo, "Zöglinge als Verbrecher
abzustempeln".
Zahlreiche schriftliche Eingaben und schriftliche Aussagen von
Erziehern an das Bistum Mainz, in denen umfangreich über
schwere Mißhandlungen berichtet wurden, blieben
unbeantwortet. Das Bistum reagierte erst aufgrund weiterer
Eingaben mit dem Hinweis, der Priester und Heimleiter P. würde
die Vorwürfe bestreiten. Erst nachdem die Staatsanwaltschaft
Darmstadt gegen den Priester wegen schwerer Körperverletzung
Ermittlungen aufnahm und die Presse über den Fall
berichtete, ging das Bistum in die Offensive.
In einer Stellungnahme wird darauf verwiesen, so das
Sozialmagazin, "daß die Klärung der Vorwürfe
schwierig sei. Dabei gab das Bischöfliche Ordinariat zu,
schon seit 1975 über Vorwürfe gegen den Heimleiter
unterrichtet gewesen zu sein".
Gegenüber dem Darmstädter Echo erklärte die
bischöfliche Pressestelle, die Aussagen seien so
"widersprüchlich gewesen, daß eine Klärung
der Tatbestände, aber auch eine gütliche Bereinigung
nicht möglich gewesen sei". Gleichzeitig wurde der
"Initiative Heimerziehung", die den ganzen Skandal
öffentlich machte, vorgeworfen, aus nicht ersichtlichen
Gründen die Vorwürfe in der Öffentlichkeit
hochgespielt zu haben.
"Aber nicht nur die Kirche reagierte gleichgültig",
ist dem Artikel des Darmstädter Echos zu entnehmen. "Auch
die Jugendämter in Trier, Cochem, Bad Homburg, Offenbach,
Mosbach und Groß-Rosseln - über die Mißhandlungen
der von ihnen ins St. Josef-Haus geschickten Kinder informiert -
zeigten keine Reaktion".
Nachdem die Staatsanwaltschaft Darmstadt gegen den Priester
Ermittlungen aufnahm und die Presse über den Fall
berichtete, erhängte sich dieser 1977.
Im Frühjahr 1994 geriet das St. Josephshaus, in dem rund
hundert sogenannte "schwer erziehbare" Jungen und
Mädchen von etwa 130 Mitarbeitern betreut werden, wieder in
die Schlagzeilen. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen erhoben
schwere Anschuldigungen gegen einen Kollegen und einer Kollegin.
Der Vorwurf: In den Jahren 1991 bis 1993 sollen sie Kinder im
Alter von sieben bis fünfzehn Jahren körperlich
mißhandelt und einige sogar sexuell mißbraucht haben.
Vier Mitarbeiterinnen der Einrichtung, die zum Teil selbst
Kinder haben, konnten und wollten nicht akzeptieren, daß
die ihnen anvertrauten Kinder "durch überzogene
diziplinarische Maßnahmen, die sich u.a. in körperlicher
Mißhandlung äußert, sowie durch seelische
Grausamkeiten gefügig" gemacht werden.
Sie sprachen am 24. Januar 1992 beim katholischen Heim-Träger
vor. Im Bischöflichen Ordinariat Mainz haben sie, hielten
die Mitarbeiterinnen schriftlich fest, "mit einem Herrn M.
und einer Frau G. gesprochen. Aufgrund der Schwere des
Vorgebrachten habe man sofort auf Herrn Domkapitular G. E.
verwiesen." Doch ein Gespräch mit Domkapitular G. E.
sei nicht zustandegekommen. Mit dem freundlichen Hinweis, die
Mitarbeiterinnen sollten sich an die Mitarbeitervertretung der
Heimeinrichtung wenden, wurden sie verabschiedet.
Am 29. Januar 1992 nahmen die Mitarbeiterinnen mit der
Mitarbeitervertretung ihrer Heimeinrichtung Kontakt auf und
berichteten ihr mündlich wie auch in einem schriftlich als
"Streng vertraulich, nur für den Dienstgebrauch"
festgehaltenem Protokoll Szenen von Mißhandlungen, denen
Kinder wehr- und hilflos ausgesetzt gewesen seien. Hier ein
Auszug:
"Während der Hausaufgabenzeit hielt sich Frau V. mit
dem Kind M. bei geschlossener Tür im Bad auf. Frau H., die
die Kinder während der Hausaufgaben betreut, hörte M.
schreien und sprach ihn später auf seine blutverschmierte
Nase an. M. sagte aus, Frau V. habe seinen Kopf festgehalten und
ihn mit ihrem Knie auf die Nase geschlagen ... M. wurde von Herrn
Asch. wegen Fehlverhaltens auf sein Zimmer geschickt. Herr Asch.
ging ihm dorthin nach und schloß die Zimmertür. Frau
B. hörte M. schreien und betrat daraufhin das Zimmer. Sie
traf das Kind auf dem Bett sitzend mit starkem Nasenbluten an.
Seine Kleidung, die Bettwäsche sowie der vor dem Bett
liegende Läufer waren blutverschmiert. Herr Asch., der
daneben stand und einen recht verstörten Eindruck machte,
behauptete, M. sei unglücklich auf die Bettkante gefallen
... Kinder werden oftmals von Frau V. zwecks diziplinarischer
Maßnahme brutal und schmerzhaft an den Ohren gezogen ... In
der Vorweihnachtzeit zeigte das Kind S. Frau B. einen faustgroßen
Bluterguß auf dem Oberschenkel. S. sagte aus, Herr Asch.
habe ihn immer wieder auf die selbe Stelle geschlagen und erst,
als er zu weinen anfing, damit aufgehört und behauptet, das
sei nur Spaß gewesen ... Das Kind J. wurde laut eigener
Aussage von Herrn Asch. am Hals gepackt und mit dem Kopf gegen
den im Keller befindlichen Sicherungskasten geschlagen ... Als
Strafmaßnahme für Kinder, die abends im Bett nicht
leise sind, werden diese von Herrn Asch. barfuß und im
Schlafanzug vor die Tür gestellt. Diese Vorgehensweise
praktiziert Herr Asch. auch bei winterlichen Temperaturen ...
Oftmals nächtigt Herr Asch. mit Kindern in deren Bett. Herr
Asch. wurde von Frau B. zusammem mit der 9jährigen S. in
deren Bett angetroffen. Alle drei genannten Kinder haben in ihrer
Vorgeschichte sexuellen Mißbrauch durch ihnen nahestehende
Personen erlebt."
Die vier Mitarbeiterinnen richteten die ausdrückliche
Bitte an die Mitarbeitervertretung, "im Interesse und zum
Schutz der in der Wohngruppe lebenden und uns anvertrauten Kinder
um Untersuchung und Klärung der von uns geschilderten
Vorkommnisse und um Einleitung und Durchführung der
entsprechenden erforderlichen Konsequenzen".
Das Protokoll wurde der Heimleitung und - spätestens -
Anfang Februar 1992 dem Bischöflichen Ordinariat und dem
Verwaltungsrat zugänglich gemacht. Das Bistum Mainz und die
Heimleitung wurden heimintern aktiv. Trotz der schwerwiegenden
Beschuldigungen, die durch Aussagen betroffener Kinder bestätigt
wurden, trennte man sich nicht von der Mitarbeiterin V. und des
Mitarbeiters Asch. Noch schlimmer: Mit Zustimmung des Bistum
Mainz wurden beide im Februar 1992 auf andere Gruppen versetzt,
wo sie auch weiterhin für die Betreuung und Erziehung der
Kinder mitverantwortlich waren.
Noch im gleichen Monat geschah etwas Unfaßbares und
Unbegreifliches: In der Nähe von Klein-Zimmern wurde ein
Haus angemietet, in dem Frau V. und einige Zeit später Herr
Asch. in leitenden Positionen - beide heirateten zwischendurch -
unter ihren Familiennamen ("Familiengruppe V.") eine
Familiengruppe betreiben durften.
Ein ehemaliger Mitarbeiter der Heimeinrichtung erstattete im
Sommer 1993 gegen die Heimleitung und mehrere MitarbeiterInnen
bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt Strafanzeige wegen Verdacht
der schweren Körperverletzung, Mißhandlung
Schutzbefohlener und des sexuellen Mißbrauchs von Kindern.
Nicht nur das Ehepaar V. habe Kinder mißhandelt, auch
andere Mitarbeiter hätten sich der Mißhandlung von
Schutzbefohlenen schuldig gemacht.
Im Dezember 1993 benachrichtigte er auch das Landesjugendamt -
Heimaufsicht - in Wiesbaden. Daraufhin kamen
Heimleitung und das Bistum Mainz im Januar 1994 in große
Bedrängnis, nachdem sie bis dahin pflichtwidrig gegenüber
den zuständigen Behörden, Eltern und MitarbeiterInnen
bewußt geschwiegen haben.
In einem Schreiben vom 22. Februar 1994 an die
MitarbeiterInnen spielte Domkapitular G. E. den Ahnungslosen. Der
Kirchenmann, der über die von den Mitarbeiterinnen
berichtete Malträtierung der Kinder ausreichend Kenntnis
hatte, versicherte allen MitarbeiterInnen, er bemühe sich um
eine lückenlose Aufklärung sämtlicher Vorwürfe:
"Das Landesjugendamt Hessen hat den Verwaltungsrat
des St. Josefhauses Klein-Zimmern schriftlich über die
Anschuldigungen gegen Mitarbeiter des St. Josefhauses informiert
... Der Verwaltungsrat ist an der Aufklärung dieser Vorwürfe
interessiert ... Gemeinsam mit der Heimleitung sind wir der
Ansicht, daß die für die anstehenden Entscheidungen
notwendigen Aufklärungen einwandfrei durchzuführen sind
... Wir bitten um Ihre Mitsorge und Mithilfe gerade in der
derzeitigen schwierigen Situation."
|
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Zur "Verschwiegenheit verpflichtet"
Bereits einen Tag vor Anfertigung dieses Schreibens an die
MitarbeiterInnen, nämlich am 21. Februar 1994, wurde auf
einer Gruppenleiterkonferenz eine Strategie entwickelt, die
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zum Schweigen verpflichtet soll:
Im Protokoll dieser Gruppenleiterkonferenz ist nachzulesen, daß
sich alle Konferenzteilnehmer zur "Verschwiegenheit
verpflichten; jeder Mitarbeiter bekommt heute noch eine Kopie §
5 AVR * mit der Empfehlung, sich wie Verwaltungsrat und
Heimleitung im Umgang mit der Öffentlichkeit zu verhalten".
Anders ausgedrückt: Alle sollen sich disziplinell und loyal
gegenüber dem Dienstherrn verhalten und eisern schweigen,
denn, so ist es dem Protokoll zu entnehmen: das "Interesse
der Öffentlichkeit (ist nur) vorübergehend".
* Fußnote: § 5 Abs. 1 AVR (Richtlinien für
Arbeitsverträge in den Einrichtungen des deutschen
Caritasverbandes): "Besondere Dienstpflichten: Das Gebot der
Verschwiegenheit in allen dienstlichen Angelegenheiten besteht
nicht nur während des Dienstverhältnisses, sondern auch
nach dessen Beendigung."
|
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Alle haben sich an ihre Dienstpflicht - konkret:
Schweigegebot - gehalten. Niemand hatte den Mut, gegen das
schreiende Unrecht zu protestieren: Keiner wagte es, im Interesse
der Kinder, mit den Mißhandlungsvorfällen, wie sie
insbesondere im Protokoll der Mitarbeiterinnen beschrieben worden
sind, an die Öffentlichkeit zu gehen. Und dennoch wurden -
immerhin anonym - einige schwere Anschuldigungen gegenüber
der Presse erhoben:
Ein Diakon, der auf zwei Freizeiten im Schwarzwald die Rolle
des Organisators innehatte, soll an zwei Jugendlichen Alkohol
ausgegeben und ihnen Gewalt- und Porno-Videos gezeigt haben. Zur
Belohnung habe er verlangt, daß die beiden ihn sexuell
befriedigen (Darmstädter ECHO , 08. März 1994). Gegen
den Diakon laufen strafrechtliche Ermittlungen.
Ein Mitarbeiter berichtete dem Darmstädter Echo, der
stellvertretende Heimleiter P. A. habe sich "schwere
Verfehlungen zuschulden kommen lassen". Dieser habe nicht
nur von den schweren Mißhandlungen gewußt, er habe
auch nichts unternommen. Noch schlimmer: Der stellvertretende
Heimleiter sei Zeuge eines schlimmen Zwischenfalls gewesen:
Während eines Aufenthalts in Schweden, deklariert als
"erlebnispädagogisches Projekt", an dem mehrere
Jugendliche und ein Betreuer teilnahmen, soll dieser Betreuer die
Jugendlichen oftmals geschlagen und mit Nahrungsentzug bestraft
haben. Der Betreuer soll überdies mit einem Gewehr auf ein
Schlauchboot, in dem ein Jugendlicher sich auf einem See befunden
habe, geschossen haben. Der Junge sei in Panik geraten und ins
Wasser gesprungen, nachdem das Boot zweimal getroffen wurde
(Darmstädter ECHO , 26. Februar 1994).
Die schwedischen Behörden hatten 1992 die
Verantwortlichen, darunter das hessische Landesjugendamt, über
die Vorfälle informiert. Doch man zog hieraus keinerlei
Konsequenzen. Insbesondere wurde die Staatsanwaltschaft nicht
eingeschaltet, der betroffene Betreuer nicht entlassen.
Der Betreuer wurde aus Schweden zurückgerufen und konnte
trotz der Vorwürfe auch weiterhin für das St.
Josephshaus arbeiten, indem man ihn mit der Betreuung von zwei
Jugendlichen in einer Wohngruppe in R. - im Rahmen einer
sogenannten Individualmaßnahme - betraute. Im August
1993 wurde der Betreuer von der Wohngruppe zurückgezogen und
das Angestelltenverhältnis aufgelöst. Doch bereits am
1. September 1993 wurde er als freier Mitarbeiter
weiterbeschäftigt - und mit einem neuen Projekt
"Erlebnispädagogik" in Schweden betraut.
Domkapitular G. E., in Personalunion Dezernent für
Caritas und Soziales (hier angegliedert ist die Heimaufsicht, die
für alle Kinder- und Jugendheime des Bistums Mainz zuständig
ist) und Vorsitzender der Caritas im ganzen Bistum Mainz und
Vorsitzender des Verwaltungsrats, untersuchte im Auftrag des
Bistum Mainz gemeinsam mit dem Landesjugendamt die schweren
Vorwürfe, von denen er bereits seit zwei Jahren detailliert
Kenntnis hatte.
Gegenüber der Presse erklärte er, daß das
Bistum Mainz keinesfalls irgendetwas unter den Teppich kehren
will. Im übrigen, so Domkapitular G. E. gegenüber dem
Kirchenblatt des Bistums Mainz Glaube und Leben, habe der
Verwaltungsrat im Februar 1994 - genau zwei Jahre später,
nachdem der Kirchenmann und das Bistum Mainz über
ausreichende Kenntnisse bezüglich der schweren Vorwürfe
verfügten - "sofort gehandelt und Kündigungen
ausgesprochen". Die Dienstverträge mit den Betroffenen
endeten in Wirklichkeit jedoch nicht durch Kündigung,
sondern wurden, nachdem das Landesjugendamt den Träger
massiv unter Druck setzte, "in gegenseitigem Einvernehmen
aufgehoben", wie Domkapitular G. E. in dem Schreiben an die
MitarbeiterInnen betonte, wobei möglicherweise vom Bistum
Mainz Abfindungen gezahlt worden sind.
Als die Vorwürfe an Intensität zunahmen, wurde der
stellvertretende Heimleiter P. A. beurlaubt, und kurze Zeit
später - "auf eigenen Wunsch" und "im
Interesse einer umfassenden Sachaufklärung" - auch der
Direktor des Heims, E. K. Beide hatten Kenntnisse über die
schweren Mißhandlungen. Trotzdem hielte das Bistum
Mainz im Rahmen seiner »Fürsorgepflicht«
unerschrocken an dem Direktor und seinem Stellvertreter fest: Auf
einer Abteilungsleiterkonferenz vom 14.03.94 versicherte
Domkapitular G. E. ihnen seine uneingeschränkte Solidarität:
"Herr E.K. ist auch weiterhin Leiter der Einrichtung und
wird es nach dem Willen des Verwaltungsrates auch bleiben."
- "Im Augenblick wird geprüft, welche andere Funktion
ihm (P. A.) zugeordnet werden soll."
Das Bistum Mainz und Domkapitular G. E. konnten sich jedoch
gegenüber dem Landesjugendamt nicht durchsetzen: Die
Heimaufsicht verlangte die totale Entfernung des Direktors und
seines Stellvertreters. Domkapitular G. E., der sich zunächst
mit Vehemenz gegen diese Forderung wehrte, gab seinen Widerstand
auf, nachdem ihm angedeutet wurde, daß eine mögliche
Schließung der Einrichtung nicht zwingend auszuschließen
sei. Der Kirchenmann, dem es sehr schwergefallen sein muß,
sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er die beiden
Herren innerhalb der Heimeinrichtung nicht mehr wird halten
können, verstand die "Warnung" und ließ
seinen Direktor und dessen Stellvertreter, über die er
schützend seine Hände ausgebreitet hatte, über die
"Klinge springen".
Gegenüber dem Darmstädter Echo räumte der
Kirchenmann plötzlich öffentlich ein: Auch der
bisherige Heimleiter und sein Stellvertreter hätten über
ihre Gesamtverantwortung Anteil an den Vorkommnissen im Heim. Der
Heimleitung, so wurde nun offiziell festgestellt, waren die
meisten Vorwürfe bekannt; sie wurden entweder gar nicht oder
nicht mit der nötigen Konsequenz verfolgt. Er verschwieg
gegenüber der Presse jedoch ganz bewußt die Tatsache,
daß auch er von den schweren Vorwürfen Kenntnis hatte
- und die Heimleitung schützte.
Noch schlimmer: Domkapitular E. G., gegen den die
Staatsanwaltschaft Darmstadt im Sommer 1997 aufgrund seines
Eingeständnisses, von den Vorwürfen seit Anfang 1992
Kenntnis zu haben, Ermittlungen aufgenommen hat (das
Ermittlungsverfahren ist später eingestellt worden; über
die Einstellungsbegründung lässt sich durchaus
streiten!), übernahm höchstpersönlich die
kommissarische Leitung der Einrichtung.
Der Kirchenmann versuchte trotz der laufenden Untersuchung,
über die in einer Abteilungsleiterkonferenz vom 28. Februar
1994 (mit den Fragen: "Der Verwaltungsrat und das
Landesjugendamt fragen sich, ob sie kompetent gehandelt haben?"
und "Wer hat seit wann was gewußt?") diskutiert
wurde, die Vorfälle zu bagatellisieren: Bei den
"pädagogischen Fehlhandlungen" würde es sich
um "Einzelfälle" handeln. Gleichzeitig
versuchte das Bistum Mainz herauszufinden, wer mit den Vorwürfen
an die Medien herangetreten ist.
Einige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen - darunter Zeugen der
Staatsanwaltschaft Darmstadt - sollen ganz bestimmt nicht im
Auftrag des Bistums von leitenden Mitarbeitern der
Heimeinrichtung eingeschüchtert worden sein. Von diesen
mutmaßlichen Einschüchterungen berichtete ein früherer
Mitarbeiter dem "Sehr geehrten Pfarrer E." in einem
Schreiben vom 28. Februar 1994. Zum Schluß seines
vierseitigen Schreibens an Domkapitular G. E. führte er aus:
"Die Angelegenheit macht mich sehr betroffen, insbesondere
die Abfolge von inhaltlicher Reaktion, derer die doch
offensichtlich wider besseres Wissens handeln, um Menschen zu
verängstigen, um sie gefügig zu machen. Das hat doch
nichts mehr mit Loyalität zu tun." Obwohl in
dem Schreiben zahlreiche Fälle von Bedrohungen bzw.
Nötigungen bzw. Einschüchterungen, denen
MitarbeiterInnen ausgesetzt gewesen sein sollen, beschrieben
sind, hat der Briefschreiber eine Antwort des "Sehr geehrten
Pfarrer E." nie erhalten.
Mit den Mitgliedern der früheren Heimleitung, über
die ein Mantel der Nächstenliebe und Barmherzigkeit
ausgebreitet wurde, scheint das Bistum Mainz nach der Formel:
»Gnade vor Recht« umgegangen zu sein: So ist es nicht
erstaunlich, daß der frühere Heimdirektor E. K. und
sein damaliger Stellvertreter P. A. immer noch für die
katholische Kirche tätig sind, obwohl beide durch das Bistum
Mainz belastet wurden. Dem Bistum Mainz ist auch bekannt, daß
die Staatsanwaltschaft Darmstadt gegen beide ermittelt.
Der ehemalige Direktor E. K. ist seit 1. August 1994 für
den Aufbau eines Forschungsinstituts »Kinder- und
Jugendhilfe« innerhalb des - dem Caritasverband in Freiburg
angeschlossenen - Verbandes Heim- und Heilpädagogik
leitend tätig. Zwischen seinem damaligen
Stellvertreter P. A. und dem Bistum Mainz und dem Caritasverband
Darmstadt e.V. wurde am 30. November 1994 ein Gestellungsvertrag
abgeschlossen. Laut § 1 des Vertrags "überstellt"
das "Bistum Mainz/St. Josephshaus" Herrn P. A. "dem
Caritasverband Darmstadt e.V. zum Aufbau eines Betreuungsvereins
im Odenwaldkreis und zur Begleitung der Arbeit der ehrenamtlichen
Betreuer". Der Caritasverband Darmstadt e.V. "verpflichtet
sich, dem St. Josephshaus Klein-Zimmern die Kosten der Vergütung
für Herrn A. (Grundvergütung, Ortszuschlag, Allgemeine
Zulage, Urlaubsgeld, Weihnachtszuwendung sowie die
Personalnebenkosten: Beihilfe, u.ä.) teilweise oder ganz zu
erstatten, und zwar in dem Maße, in dem eine Förderung
aus der Tätigkeit von Herrn A. an den Verband erfolgt."
Unterschrieben ist dieser Gestellungsvertrag von Domkapitular G.
E. in seiner Funktion als Verwaltungsratsvorsitzender des St.
Josephshauses und dem Caritasdirektor des Caritasverbands
Darmstadt e.V., Sch., der gleichzeitig auch stellvertretender
Vorsitzender im Verwaltungsrat des St. Josephshauses ist, und
Herrn P. A.
Unter den Titel-Überschriften "Gehört Prügeln
zum Erziehungsprogramm?", "Nach Streit Prügel
bezogen" und "Kommt die Lawine erst richtig ins
Rollen?" berichteten bereits im Januar 1986 das Darmstädter
Echo und das Darmstädter Tagblatt über eine
Strafanzeige, die der damalige im St. Josephshaus untergebrachte
Michael S. gegen Herrn P. A. wegen Körperverletzung
erstattet hatte. Michael S. gab bei der Polizei an, Herr P. A.
habe ihn geprügelt: "Er sei am rechten Auge verletzt
worden, leide unter Kopfschmerzen und habe Schmerzen im
Unterleib, wo ihn das Knie des stellvertretenden Heimleiters
getroffen habe", berichtete das Darmstädter ECHO in
seiner Ausgabe vom 22. Januar 1986. Gegenüber dieser
Zeitung erklärte Herr P. A.: "Ich bin darüber sehr
betroffen, weil ich mich nicht besser zu zügeln vermochte.
Die ganze Sache tut mir sehr leid. Ich habe Michael nicht
verletzen wollen."
"Unvermögen, Willkür, Gewalt, pädagogische
Unfähigkeit und hierarchisches Machtstreben" wurde laut
Darmstädter Tagblatt Herrn P. A. nicht nur von den
Jugendlichen, sondern auch von MitarbeiterInnen vorgeworfen. Herr
P. A. habe nach Angaben von Mitarbeitern, ist der Ausgabe des
Darmstädter Tagblatt vom 25. Januar 1986 zu entnehmen,
"keine Abhilfe bei schwerwiegenden und offenkundigen und ihm
auch mehrfach mit Beweisen belegten Mißstände"
geschaffen. "Dessen krankhaftes Machtbedürfnis sorge
sowohl für miserable äußere Umstände, als
auch für eine Atmosphäre des Mißtrauens selbst
unter den Mitarbeitern, die häufig gegeneinander ausgespielt
würden. Eine der Folgen ist eine starke
Mitarbeiterfluktuation, die einer pädagogischen Hilfe und
Erziehung der Jugendlichen nicht förderlich sei."
Das Bistum Mainz (zu dem Zeitpunkt war bereits Karl Lehmann
Bischof) soll damals Herrn P. A. einer Suspension - konkret:
einer einstweiligen Dienstenthebung - unterworfen haben, nachdem
das Landesjugendamt sich einschaltete. Bereits vier Monate später
soll dieser wieder an seinem alten Platz zurückgekehrt sein,
wo er sich bis Frühjahr 1994 halten konnte.
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Der schützende Mantel der Nächstenliebe und
Barmherzigkeit
Nicht nur in katholischen - dem Deutschen Caritasverband
angeschlossenen - Einrichtungen schützen einige der
Heimträger bzw. die jeweilige Heimleitung hin und wieder
ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auch dann noch, wenn ihnen
schwere Mißhandlungen von Schutzbefohlenen oder
entsprechende Beihilfe angelastet wird. Diese werden, wenn solche
Mißhandlungsfälle öffentlich werden und sie
deshalb nicht mehr »haltbar« sind, oft mit einer -
zum Teil hohen - Abfindung und einem Auflösungsvertrag
abgefunden - obwohl eine (fristlose) Kündigung mehr als
gerechtfertigt wäre. Noch schlimmer: Über rechtskräftig
verurteilte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wird - im Einzelfall
- schützend ein Mantel der Nächstenliebe und
Barmherzigkeit ausgebreitet, wenn eine besondere Abhängigkeit
(zum Beispiel Insider, deren Wissen nicht nach Außen
dringen darf!) besteht: Ihnen wird unter dem Dach der Kirche eine
Weiterbeschäftigung in anderen Einrichtungen angeboten und
zugesichert. Der schützende Mantel der
Nächstenliebe und Barmherzigkeit wird dann in der Regel
nicht mehr weiter über die Betroffenen ausgebreitet, wenn
ein unbescholtener Mitarbeiter bzw. eine unbescholtene
Mitarbeiterin aus der katholischen oder evangelischen Kirche
austritt. Das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz in Mainz hat
mit Urteil vom 9. Januar 1997 das Gottesurteil, das bei
Kirchenaustritt verhängt wird, in Form der fristlosen
Kündigung, bestätigt: Der Kirchenaustritt gehöre
nach kirchlichem Recht zu den schwersten Vergehen gegen den
Glauben und die Einheit der Kirche (AZ.: LAG Rheinland-Pfalz - 11
Sa 428/96).
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Der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, der
Mainzer Bischof Karl Lehmann, hat sich erstmals im Dezember 1996
aufgrund des Buches des Autors: Gestohlene Kindheit und
zahlreicher Presseberichte über den "Fall St.
Josephshaus" öffentlich gegenüber den Medien
geäußert. Obwohl er seit spätestens April bzw.
Mai 1994 Kenntnis von den Mißhandlungen hat. Am
16. Dezember 1996 erklärte er auf einer Pressekonferenz im
St. Josephshaus Klein-Zimmern: "Es ist - daran
will ich keinen Zweifel lassen - für uns alle eine sehr
große Enttäuschung, wenn ganz wenige Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in Jahrzehnten sich in einem solchen Haus falsch
verhalten und das Vertrauen der Jugendlichen mißbrauchen."
Lehmann, der über ausreichende Kenntnisse verfügt,
daß in seiner Einrichtung vorwiegend Kinder im Alter von
sieben bis vierzehn schwersten Mißhandlungen ausgesetzt
gewesen sein sollen, fügte hinzu:
"Es tut mir leid, daß in den vergangenen
Jahren, jedenfalls zwischen 1992 und 1994, einige Jugendliche
hier zu Schaden gekommen sind. Ich bedauere dies zutiefst und
verspreche eine noch größere Wachsamkeit aller, die
für dieses Haus Verantwortung tragen."
In der Mainzer Bischofszeitung Glaube und Leben vom 5.
Januar 1997 beschwor der Kirchenfunktionär die "Wahrheit"
und die "Gerechtigkeit" und kritisierte scharf die
"Medienkampagne gegen katholische Heimerziehung".
Der Gottesmann nahm für sich in Anspruch, die Medien
dafür anzuklagen, daß sie über die auch unter
christlichen Aspekten zu verurteilende psychische und physische
Gewalt, denen Kinder in einem dem Bistum Mainz unterstehenden
katholischen Heim wehr- und hilflos ausgesetzt gewesen sein
sollen, berichtet haben. Seine Anklage richtete sich aber auch
insofern gegen die Medien, als daß diese das
unverantwortliche und unchristliche Verhalten des Bistums Mainz
beschrieben haben. Lehmann, der sich fast als Zensor aufspielte,
ist - aus seinem Blickwinkel heraus betrachtet - ehrlich genug
zuzugeben:
Um dann mit der »Anklage« fortzufahren:
"Da werden Fakten verdreht, wird Verdacht um
Verdacht gehäuft, werden Mutmaßungen immer
wiederholt, Verantwortungsträger öffentlich
verunglimpft, jahrhundertelange Bemühungen um die Erziehung
junger Menschen als »schwarze Pädagogik«
diffamiert ... Im Interesse dieser Mitarbeiter beklage ich die
rücksichtslose Sensationsgier, die es sich mit der Wahrheit
und mit der Gerechtigkeit leicht macht."
In einer dpa-Meldung (Deutsche Presse-Agentur) vom 12. Januar
1997, die sich auf eine von der Pressestelle des Bistums Mainz
verbreiten Erklärung bezieht, steht unter anderem
geschrieben: "Lehmann sei erst 1994 in die Affäre
einbezogen worden, als die Heimleitung abgelöst und die
Verträge eines Ehepaares aufgelöst worden seien."
Lehmann kann nicht entgangen sein, daß die ersten
Presseberichte über diese »Affäre« bereits
ab Februar 1994 erschienen sind - und man sich erst im April bzw.
Mai 1994 von der damaligen Heimleitung trennte. Einen Tag später
- am 13. Januar 1997 - wurde von der dpa aufgrund einer von der
Bischöflichen Pressestelle verbreiteten neuen Version
folgendes verbreitet: "1994 habe sich Bischof Lehmann
erstmals mit dem Fall befaßt, als man erkannt habe, daß
die Versetzung (des betroffenen Ehepaares, d. Autor) nicht die
gewünschte Wirkung hatte. Das Ehepaar sei entlassen und die
Heimleitung abgelöst worden."
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"Medienkampagne gegen die katholische Heimerziehung"
Der Vorstand des Verbandes katholischer Einrichtungen der
Heim- und Heilpädagogik, ein Fachverband des Deutschen
Caritasverbandes, dem nach eigenen Angaben "über 400
Mitgliedseinrichtungen, in denen täglich mehr als 18.000
junge Menschen" betreut werden, angeschlossen sind, erhob in
einer vom Deutschen Caritasverband Freiburg verbreiteten
Pressemitteilung vom 17. Januar 1997 eine Anklage gegen die
"Medienkampagne gegen die katholische Heimerziehung".
Die Medien "zeichnen oft ein Bild von Heimerziehung in der
Öffentlichkeit, das beleidigend und in seinen
pauschalierenden Aussagen unwahr ist": "Er protestiert
auf das entschiedenste gegen das Unrecht, das damit auch und
insbesondere den in der Heimerziehung lebenden jungen Menschen
angetan wird." In der Pressemitteilung geht der Vorstand
mit keinem Wort auf die jungen Menschen ein, die auch in
Mitgliedseinrichtungen seines Verbandes schwersten Mißhandlungen
an Leib und Seele wehr- und hilflos ausgeliefert waren. Dem
Pressetext ist auch hinsichtlich der christlichen - früheren
- Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die rechtskräftig
verurteilt worden sind - oder gegen die wegen Verdacht der
Mißhandlung von Schutzbefohlenen strafrechtliche
Ermittlungen laufen - nichts zu entnehmen.
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Eine Mutter klagt heute das Bistum Mainz an, nicht
verhindert zu haben, daß zwei ihrer Söhne, die sieben
und acht Jahre alt waren, als sie in das St. Josephshaus
untergebracht wurden, ihren Angaben nach in einer Familiengruppe
"mißhandelt und sexuell mißbraucht worden
sind": "Meine Kinder sind aggressive Kinder
geworden; der eine ist sehr depressiv, der andere weint nur noch:
dieser ist in sein Kleinkindalter zurückgefallen, denn er
ist keine elf Jahre, sondern sechs Jahre alt. Meine Kinder sind
kaputt! Ich kann meine Kinder nicht mehr retten!" Eine
andere Mutter, deren Sohn auch im St. Josephshaus untergebracht
war, ist immer noch ergriffen von den Schilderungen ihres Kindes:
"Mein Sohn hat mir erzählt, daß er und
andere Kinder oft geprügelt wurden. Er durchlebt heute noch
diese schlimme Gewalt: Immer wieder wird er durch schlimme
Träume aus dem Schlaf gerissen. Mein Kind wacht schreiend,
am ganzen Körper zitternd, schweißgebadet auf und
weint."
Kirchenmann Lehmann, dem das Leid der betroffenen Heimkinder
sicherlich immer noch sehr nahe geht, hat die skandalöse und
menschenverachtende Erklärung seines Leitenden
Rechtsdirektors und Justitiars, H. B., zu verantworten, der im
Hinblick darauf, daß das Bistum Mainz seit spätestens
Anfang 1992 über ausreichende Kenntnisse bezüglich der
Mißhandlungsvorwürfe verfügte - und weder die
Öffentlichkeit, noch das Landesjugendamt Hessen -
Heimaufsicht - im Rahmen der vorgeschriebenen Meldepflicht, noch
die Strafermittlungsbehörden einschaltete -, in den Mainzer
Bistumsnachrichten vom 27. November 1996 erklärte:
"Das Unterlassen einer Strafanzeige ist nur dann
strafbar, wenn eine Rechtspflicht zur Anzeige besteht. Das war
hier nicht der Fall, da die Entscheidung im Ermessen des
Verwaltungsrates lag und ein Ermessensmißbrauch nicht
vorliegt."
Daß die Staatsanwaltschaft Darmstadt, die seit Juli
1993 gegen mehrere (ehemalige) MitarbeiterInnen des St.
Josephshauses ermittelt (Stand: 30. September 1997), die
Strafermittlungsverfahren weitgehend immer noch nicht
abgeschlossen hat, ist nicht nachvollziehbar: Es ist nicht
auszuschließen, daß ein Teil der Ermittlungen wegen
Verjährung eingestellt werden müssen. Bisher ist nur in
einem Fall gegen eine frühere Mitarbeiterin Anklage erhoben
worden, die mittlerweile vom zuständigen Gericht zugelassen
wurde.
Bisher wurde eine frühere Erzieherin angeklagt. Am 4.
Februar fand vor dem Amtsgericht Offenbach der Prozeß
statt. Die Angeklagte gestand, in drei Fällen acht- bis
zehnjährige Jungen körperlich mißhandelt und in
einem Fall ein zehnjährigen Jungen sexuell mißbraucht
zu haben: Einem Kind habe sie derart heftig am Ohrläppchen
gezogen, daß dieses einriß; einem zweiten Kind habe
sie durch einen Faustschlag ins Gesicht mißhandelt, der zu
Nasenbluten führte; einem dritten Kind habe sie derart gegen
ihr Knie gezogen, daß auch dieses Nasenbluten davontrug;
einem Kind habe sie über »mütterliche
Streicheleinheiten« hinaus dessen Glied manipuliert,
während sie im Bett des Jungen lag.
Aufgrund ihres Geständnisses erhielte die frühere
Erzieherin neun Monate Haft auf zwei Jahre Bewährung sowie
eine Geldbuße von 2. 500,00 Mark. In seiner
Urteilsbegründung erklärte der Vorsitzende Richter,
einige der Kinder sind gerade wegen sexueller †bergriffe,
denen sie in ihren Familien ausgesetzt waren, im St. Josephshaus
untergebracht worden. Die Öffentlichkeit dürfe daher
erwarten, daß diese Kinder im Heim nicht neuerlichen
sexuellen Mißhandlungen ausgesetzt würden.
Züchtigungen an Kindern seien nicht hinzunehmen: "Die
körperliche Unversehrtheit von Kindern ist ein hohes
Rechtsgut." Auch der damals im St. Josephshaus tätige
Erzieher und Ehemann der verurteilten Erzieherin ist wegen
Misshandlung Schutzbefohlener und sexuellen Missbrauch eines
Kindes zu einer Geldstrafeverurteilt worden.
Im März 1995 wurde bekannt, daß junge Menschen im
katholischen St. Josef-Stift in Eisingen bei Würzburg, einer
der größten Behinderteneinrichtungen in Unterfranken,
in dem 340 sogenannte geistig behinderte Menschen untergebracht
sind, jahrelang von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen schwer
mißhandelt und gequält wurden. Eine
Heilerziehungspflegerin, die auf der betroffenen Gruppe 132 tätig
war, sah sich eine kurze Zeit lang fassungslos an, was ein
Kollege und zwei Kolleginnen unter christlicher Pädagogik
verstanden und praktizierten - und wurde bei der Heimleitung
vorstellig. Sie klärte die Heimleitung darüber auf, daß
die Gruppenleiterin U. K., von Beruf Erzieherin, die Hilfskraft
W. E., die wie zahlreiche andere der 500 MitarbeiterInnen über
keine pädagogische Ausbildung verfügt, und der
Praktikant E. G. über einen längeren Zeitraum mehrere
der dort lebenden jungen Menschen wiederholt psychisch und
physisch brutal mißhandelten und quälten. Auch
verbalen Beschimpfungen und Beleidigungen wie "Du Drecksau",
"Du Drecksack" und "Sauhammel" waren die
Heimbewohner wehrlos und hilflos ausgesetzt. In einem -
schriftlich festgehaltenen - Gespräch, das ein
Bereichsleiter im Auftrag der Heimleitung am 27. Januar 1995 mit
der Heilerziehungspflegerin führte, schilderte diese ein
brutales Geschehnis: Nach einem Sparziergang sei sie,
E. G. und ein paar Jugendliche auf das Haus 13 zugegangen:
"Christian F. lief voraus und ließ sich durch
Zurufe nicht zurückhalten. Christian F. war zur damaligen
Zeit sehr schwerhörig. Erst jetzt, nach seiner Operation,
hat sich dieses Handicap gebessert. Wir verloren Christian aus
dem Auge, und aus Angst, daß er davonläuft,
beschleunigten wir unseren Schritt und fanden ihn dann am
Hintereingang auf uns wartend. Herr G. ging auf ihn zu, gab ihm
zwei oder drei Ohrfeigen und schrie: »Du hast nicht
wegzulaufen, du weißt, daß du auf uns warten mußt,
ich habe es dir verboten, davonzulaufen!« Christian
legte sich, wie es seine Art in einer solchen Situation ist, auf
den Boden und Herr G. trat ihm in die Seiten, worauf Christian
schrie und weinte. Ich war zuweit von der Situation entfernt, um
direkt Einfluß nehmen zu können. Ich sah, wie Herr G.
dann Christian an den Haaren in das Haus zog und die vier Stufen
zu unserem Gruppeneingang hinauf. Christian krabbelte teilweise,
hat sich wieder fallenlassen, aber Herr G. hat ihn fest an den
Haaren gehalten und weiter zur Gruppentür hingezogen."
Der Bereichsleiter hielt weiter schriftlich fest:
"Frau K. berichtet weiter, daß sie die gesamte
Situation in der Gruppe als sehr strafend und wenig
verständnisvoll, was die Bewohner betrifft, erlebt. Der
psychische Druck und die psychischen Strafen wirken ihrer
Meinung nach ebenso mindestens genauso auf die Entwicklung der
Bewohner wie die körperliche Züchtigung. Frau K.
schildert auch, daß die sehr engen, straffen Regeln, die
die Bewohner betreffen, sich auch ganz stark auf die Mitarbeiter
auswirken und von daher kaum situationsorientiert im
Gruppenalltag gehandelt werden könne. Es sei kein
fröhliches Arbeiten, sondern es sei nur ein Gebote- und
Verordnungenausführen."
Die Heilerziehungspflegerin selbst wurde einem massiven
psychischen Druck ausgesetzt: Während einige nichtbetroffene
Kollegen und Kolleginnen sie später mit Worten wie: "Du
Nestbeschmutzerin" und "Du Verräterin"
beschimpften, schwiegen die anderen. Noch schlimmer: Die
christlichen MitarbeiterInnen schweigen auch weiterhin: aus
Angst, durch Solidarität könnte ihre (berufliche und
somit ökonomische) Existenz gefährdet werden. Sie
nehmen dabei billigend in Kauf, daß mindestens einige der
(sogenannten) behinderten Menschen möglicherweise auch heute
noch gequält und mißhandelt werden. Die
Beschuldigten selbst bestritten die Vorwürfe, machten aber
gleichzeitig Erinnerungslücken geltend und beriefen sich
rein vorsorglich auf das Notwehrrecht. Noch schlimmer: Im
Dezember 1988 war die Gruppenleiterin U. K. Mitverfasserin von
"Gruppennormen", die im März 1989 modifiziert
wurden. In diesen "Gruppennormen", die als christliche,
pädagogische Grundlage der klerikalen Heimerziehung
verstanden wurden, steht geschrieben:
Welche Mittel die kirchlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
für pädagogisch angemessen hielten, schrieben sie in
diesen "Gruppennormen" nieder:
"Aussondern in einen anderen Raum" - "kalt
duschen" - "Ohrfeige" - "scharf anschauen"
- "eine Arbeit übernehmen lassen" - "Jede/r
Mitarbeiter/in soll klar und deutlich handeln und die Antwort
geben, die in dieser Situation zu dem betreffenden Behinderten
und zu ihm selber paßt." - "Schlagen", so
die kirchlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, "ist das
allerletzte Mittel, um Grenzen deutlich zu machen." - "Nach
Absprache mit dem Erzieherteam" dürfen Betroffene, die
ihr Essen wegwerfen, kein neues Essen bekommen. - "Wer
entsprechende Mengen nascht, bekommt bei den nachfolgenden
Mahlzeiten nichts mehr." - Mit "Essensentzug"
mußten die Heimbewohner immer rechnen: "Wer nach dem
Gong und Gebet nicht zum Essen kommt, d.h. am Tisch sitzt, sagt
damit, daß er nichts will."
In einem "Gruppen-Buch" protokollierten die
Beschuldigten einen Teil ihrer strafrechtlich relevanten
Handlungen: Die verschiedenen Mißhandlungsformen sind dort
mit Akribie festgehalten. Hier einige Beispiele:
"Es sind große
Lätze da für die Schweinchen, sie liegen im oberen
Schrankfach."
"Michel hat ohne
Vorwarnung Blumen abgerissen. Er hat nicht gesehen, daß
der Wasserschlauch angeschlossen ist, es gab die kalte Dusche."
"Heiko kann sich sein
»aufgehobenes Essen« über den ganzen Tag
einteilen. Zum Frühstück hat er es nicht geschafft.
Etwas anderes gibt es heute nicht, bevor es nicht weg ist!
Vielleicht lernt der gute Mann dadurch einmal, wie man mit Essen
umgeht. Ich bin stink sauer!!!"
"Michel hat es mal wieder
geschafft! Nachdem er sich den Nachmittag über unmöglich
verhielt, erhielt er als Konsequenz für sein Verhalten zum
Abendessen Zwieback. Daraufhin zertrümmerte er sein Glas
und ging in sein Zimmer = negative Verstärkung. SCHÖN
WAR'S!" (»Negative Verstärkung«
bedeutet, den Heimbewohner unter Mithilfe mindestens eines
weiteren Heimmitarbeiters zu verprügeln. Der Autor)
"Michel hat nach dem
Abendessen Wurst geklaut = trocken Brot morgen zum Frühstück."
"Michel hat nach dem Frühstück Gerdis
Kaffe getrunken = trocken Brot."
Auch die folgenden Beispiele zeigen, daß die
(klerikale) "Schwarze Pädagogik" immer noch
traurige Realität ist:
Heimbewohner, die sich beim
Tischgebet - versehentlich - falsch bekreuzigt oder ein Gebet
falsch aufgesagt haben, mußten damit rechnen, daß
sie geprügelt oder vom Essen ausgeschlossen wurden.
Essensreste, die Heimbewohnern
bei der nächsten Mahlzeit wieder aufgetischt wurden,
gehörten ebenso zu dem Repressionsinstrumentarium wie
verschimmeltes Brot.
Heimbewohner, die ins Bett
machten, wurden an den Haaren ins Bad gezerrt und brutal unter
die kalte oder heiße Dusche gestellt oder in eine Wanne
mit kaltem oder heißem Wasser gezwungen; ihnen hat man
eine ganze Woche lang kein Mineralwasser gegeben.
Die Intimsphäre der
Heimbewohner wurde nicht beachtet: Im Flur mußten sich
alle nackt ausziehen und sich dann im Bad aufhalten. Das zweite
Bad, das der Gruppe zur Verfügung steht, wurde nicht
mitbenutzt.
Den Heimbewohnern wurde das Recht auf Sexualität,
das Ausleben sexueller Bedürfnisse verweigert: Erwischte
man einen bei der Onanie oder zwei beim Austausch homoerotischer
Bedürfnisse, griff man auf ein besonderes,
althergebrachtes, brutales Unterdrückungsinstrumentarium
zurück: Die Betroffenen wurden körperlich malträtiert
- sprich: körperlich mißhandelt -, dann unter die
kalte Dusche gezerrt und mit Worten wie: "Du schwule Sau!"
verbal beschimpft und beleidigt.
Eine Erzieherin, die erst seit eine Woche auf der Gruppe
132 tätig war, fertigte im Herbst 1994 umfangreiche
Tages-Protokolle. Diese schriftlichen Aussagen bedürfen
keiner näheren Kommentierung. Hier einige Auszüge:
"Der Besuch im Zoo ist zu
Ende. Am Zoo-Ausgang befinden sich einige Kioske. Alle sollen
Eis bekommen. Michael G. bekommt von U. K. zwei Ohrfeigen. Ich
frage: Was war los? Verstehe den Grund nicht und bekomme zur
Erklärung: Michael versteht Schläge am besten. Michael
weint - bekommt kein Eis. Er möchte bei anderen schlecken,
wird aber zurückgestoßen.
Außenstehende Besucher
haben die Situation bemerkt, wundern sich offensichtlich über
unsere Gruppe."
"W. E. kontrolliert die
Schultaschen. Grund? Sie findet ein zusammengelegtes Pausenbrot
mit Mettwurst. Das Brot ist ca. drei bis fünf Tage alt.
Frau E. zeigt mir das alte verdorbene Pausenbrot und erklärt,
daß der Bewohner Heiko S. sein Pausenbrot nicht gerne ißt
und es im Flurbereich versteckt. Ich erlebe, wie Heiko das
alte Brot essen muß. Heiko würgt das alte Brot ohne
Widerrede."
"Betreuer E. G. ist mit
Christian F. im Bad. Es ist dort sehr laut - Streitgespräch
mit Christian. Ich gehe in die Personaltoilette und höre,
daß Christian aufgefordert wird, aus dem Bad zu gehen.
Christian möchte sehr gerne baden (Zeit und Möglichkeit
wäre gegeben). E. G. fordert Christian nun sehr laut auf,
das Bad zu verlassen und ins Zimmer zu gehen. Ich höre
einen schmerzhaft-lauten Au-Schrei von Christian. Ich verlasse
die Toilette Richtung Gruppenraum. Christian stürzt an mir
mit nasser Kleidung vorbei. Er wird in sein Zimmer gesperrt. Ich
höre Christian laut schreien: »Mama, hilf mir, Mama,
komm!«. E. G. bestimmt, daß er zur Strafe zum
Abendessen Zwieback statt Würstchen bekommt. Christian
weint noch mehr. Ich gehe, schließe sein Zimmer auf.
Christian sitzt nackt bei geöffnetem Fenster auf dem Bett.
Ich frage: Warum weinst Du? Christian antwortet erst nicht.
Als ich ihn in den Arm nehme, erzählt er: »E. G. hat
mich mit heißem Wasser übergossen, mir tut der Rücken
weh.« Ich sehe, daß Christians Haut in der
Schulterpartie links gerötet ist."
"Micha will sein Essen:
Fisch mit Salat und Remouladensoße nicht essen. Er muß
aber den Teller leer essen, das ist Pflicht auf der Gruppe 132.
Frau E. beugt sich über Micha, er kann nicht mehr
ausweichen, und zwingt ihn, weiter zu essen. Micha weint, hat
den Mund voll und würgt mit vollem Mund.
Frau E. schlägt Micha auf
den Kopf und droht damit, daß er an diesem Wochenende
nicht heim darf, wenn er nicht ißt. Micha weint weiter und
schluckt nicht das Essen hinunter. Ich frage Frau E., ob wir das
Essen nicht besser wegnehmen, es wird verneint. Es ist 13.00
Uhr, und Herr G. kommt in die Gruppe (Dienstbeginn). Herr G.
nimmt die Situation wahr und sagt: »Heute ißt er
seinen Teller leer, das will ich genau wissen.« Herr G.
nimmt die Arme von Micha und dreht sie auf seinen Rücken.
Drückt sie nach oben. Micha schreit laut »Aua«,
dabei fällt die Speise aus dem Mund in den Teller. Frau E.
deutet auf den Teller und verlangt laut: »Iß auf!«
Micha weint immer noch und sagt: »Nein« Herr G.
schlägt hart auf Micha ein. Ich zähle drei Schläge.
Die Arme werden höher gedrückt, dadurch fällt er
mit dem Gesicht in den Teller.
Mein Dienst endete um 14.30
Uhr. Ich schämte mich vor mir selbst, weil ich unfähig
war zu helfen."
"Gespräch mit Herrn G. wegen Schläge an
Micha. Er findet, ich bin zu zart, überempfindlich. Er
beharrt darauf, daß sein Verhalten richtig ist. Ich weise
ihn darauf hin, daß seine Schläge strafbar sind und
kein Mittel, einen pupertierenden Jungen zu erziehen."
Die Erzieherin brachte das brutale Vorgehen von E. G. auf
einer Gruppenbesprechung zur Sprache. E. G. und U. K.
verteidigten die strafbaren Handlungen. "Das Verhalten von
Herrn G. wurde als Machtkampf toleriert, den Herr G. gewinnen
mußte", erinnert sich die Erzieherin. Auch ein
Gespräch mit dem Dipl.-Psychologen und Leiter des
Heilpädagogischen Fachdienstes, Herrn H., bei dem die
Erzieherin Rat und Hilfe suchte und diesen über die schweren
strafbaren Handlungen aufklärte, brachte sie nicht weiter.
Die Erzieherin hielt schriftlich fest, Herr H. "fühlt
sich nicht zuständig. Ich soll es selbst regeln". Und
Herr I., der Bereichsleiter und Diakon, der sich offenbar für
die Menschenrechte der betroffenen HeimbewohnerInnen nicht
interessierte, warf der Erzieherin "Indiskretion" vor.
Der Diakon (der zunächst auch weiterhin mit Zustimmung
des Vorstands und der Heimleitung die Funktion des
Bereichsleiters ausübte und für die betroffene Gruppe
132 weiter Mit-Verantwortung trug), wurde erst entlassen, als ein
von seiner Mitarbeiterin U. K. im Herbst 1994 niedergeschriebenes
"Pädagogisches Konzept" den Verantwortlichen
bekannt wurde. Der Diakon I. billigte diese
pädagogischen Richtlinien und gab ihnen seinen Segen. Auf
der Gruppe 132 wurden die MitarbeiterInnen aufgefordert, sich an
diese zu halten. Hier einige Auszüge, was unter
dem christlichen "Pädagogischen Konzept"
verstanden und praktiziert wurde:
"Wir beten morgens ein Morgengebet sowie zu den
Hauptmahlzeiten ein Bitt- und ein Dankesgebet. Darauf achten,
daß jeder ein Kreuzzeichen macht und ordentlich dasitzt."
- "Wer vor Gebetsschluß anfängt zu essen, wartet
eine Weile." - "Sonntags Kirchgang ist Pflicht für
alle." - "Wer in der Kirche nicht brav ist, braucht
auch keine sonntägliche Vergünstigung (Nachtisch,
Kuchen...)." - "Alle müssen pünktlich zum
Essen kommen, sonst wird abgeräumt. Der Zu-spät-Gekommene
kann ein Stück Brot und Tee haben." - "Wer seinen
Teller nicht leer ißt, bekommt den Rest zur nächsten
Mahlzeit, bevor es etwas anderes gibt."
Über den alltäglichen Umgang mit einigen
"schwierigen Jungen" hält U. K. fest:
"Morgens darauf achten, daß er seinen
Schlafanzug zusammenlegt. Wenn er zuviel an Schränke,
Wände, Türen klopft, zur Beruhigung ins Zimmer
stecken. Wenn er ausflippt, Zimmer vorher ausräumen. - Wenn
er klaut, hat er die nächste Mahlzeit schon gegessen.
Aufpassen: klaut auch den Jungs vom Teller. - Möglichst
jeden Tag mit ihm spazierengehen. Wenn er sich heißgelaufen
hat, tut eine kalte Dusche ganz gut. - Wenn er Kleider zerreißt,
muß er sie bis zum nächsten Kleiderwechsel anziehen.
Mit zerrissenen Kleidern kann er nicht raus. - Den Mund
verbieten, wenn er zuviel redet. Wenn er sich danebenbenimmt,
kommt er in sein Zimmer. Manchmal wirkt auch eine kalte Dusche
beruhigend. - Im Notfall kann man ihn mit dem Bauchgurt im Bett
fesseln. Vorsicht, haut gerne ab!"
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Eine Strategie der Verharmlosung und des Verschweigens
Die Stiftung und die Heimleitung, die seit spätestens
Januar 1995 über umfangreiche Informationen bezüglich
der schweren Mißhandlungen verfügte, haben erst Wochen
später die Angehörigen der Betroffenen und die
MitarbeiterInnen über die Vorfälle wenigstens teilweise
aufgeklärt. Die Verantwortlichen, die über
mehr Informationen verfügten und sie dennoch zurückhielten,
verfolgten offenbar eine Strategie der Verharmlosung und des
Verschweigens: Ihr Ziel scheint es ursprünglich gewesen zu
sein, einen "Mantel des Schweigens" über das Stift
auszubreiten. Denn der Heimleiter des Stifts W. F., der
Geschäftsführer N. R., sein Stellvertreter D. N. und
der Vorsitzende der Stiftung, Pfarrer H. O. verschwiegen
offensichtlich gegenüber den Eltern, den MitarbeiterInnen
und der Presse die brutalen Menschenrechtsverletzungen, soweit
sie Kenntnisse über das ganze Ausmaß der Mißhandlungen
hatten. Sie gestanden in erster Linie ein, Betroffene seien
geohrfeigt worden, ohne daß eine Notwehrsituation vorlag.
Auch sei nicht im Affekt geschlagen worden. Sie klärten die
betroffenen Angehörigen der betroffenen Menschen nicht
darüber auf, daß christliche MitarbeiterInnen ihre
Söhne nicht nur geohrfeigt, sondern auch geprügelt oder
getreten oder zum Essen gezwungen oder mit Essensentzug bestraft
oder zur Bestrafung nach Belieben kalt oder heiß abgeduscht
oder verbald beleidigt hatten.
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Im März bzw. April 1995 richteten die
Verantwortlichen je ein Schreiben an die "lieben
MitarbeiterInnen" und an die betroffenen Angehörigen.
Den Angehörigen teilten sie schriftlich mit:
"Es gibt an dieser Sache nichts zu beschönigen
und zu verharmlosen." Den Betroffenen, denen "in den
zurückliegenden Jahren solche Schandtaten und Qualen
widerfahren sind, gehört unser ganzes Mitgefühl. Die
Verantwortlichen der St. Josefs-Stiftung entschuldigen sich
dafür bei ihnen, ihren Eltern und Angehörigen in aller
Form."
Die Verantwortlichen gingen auch auf das "Gruppenbuch",
"das zum Zweck hat, nur Organisationsabläufe
festzuhalten", ein. Trotz der schweren Mißhandlungen,
deren sich die Mitarbeiter in dem "Gruppenbuch" selbst
bezichtigten, wurde bei den heiminternen "Untersuchungen"
zunächst diesem "Gruppenbuch keine Bedeutung
beigemessen", obwohl die Verantwortlichen seit Januar 1995
wußten, daß dort ein Teil der Mißhandlungen mit
Akribie niedergeschrieben wurde. Erstaunt war man dennoch über
die Selbstbezichtigung der Täter und Täterinnen. Welch
ein Zufall: während der Ermittlungen verschwand das
"Gruppenbuch" plötzlich spurlos.
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Kritiker bedrohte man mit fristloser Kündigung
Ob die Verantwortlichen der St. Josef-Stiftung - im Rahmen der
heiminternen Ermittlungen - von sich aus tatsächlich an
einer größtmöglichen Aufklärung der schweren
psychischen und physischen Mißhandlungen interessiert
waren, könnte man durchaus bezweifeln: In einem Schreiben an
die "lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter" drohte
die Stiftung jedem mit massiver Gegenwehr, der es wagen würde,
mit entsprechenden Informationen an die …ffentlichkeit zu
gehen. So steht in den "Mitarbeiter -Nachrichten der St.
Josef-Stiftung Eisingen" vom 29. Januar 1996 geschrieben:
"Im Interesse aller MitarbeiterInnen des St.
Josef-Stiftes und der St. Josef-Stiftung als Ihrem Dienstgeber,
aber auch im Interesse der betroffenen Mitarbeiter erinnern wir
an die Schweigepflicht (Hervorhebung durch den Geschäftsführer
R.) eines jeden Mitarbeiters und jeder Mitarbeiterin. Die
Befriedigung eigener Neugier, die Lust auf Sensation und das
Bedürfnis, vertrauliche Informationen möglichst vielen
Unbeteiligten zugänglich zu machen, ist unkollegial und
schadet letztlich uns allen. Jede Mitarbeiterin und jeder
Mitarbeiter, der mit vertraulichen und dienstlichen Informationen
ãso lockerÒ umgeht, muß sich darüber im
klaren sein, daß ein solches Verhalten arbeitsrechtliche
und auch strafrechtliche Konsequenzen (Hervorhebung durch den
Geschäftsführer R.) haben kann."
Während die Stiftung bei Bekanntwerden der Vorfälle
im Januar 1995 zunächst (aus juristischen Gründen?)
unentschlossen war, den beschuldigten Mitarbeitern und
Mitarbeiterinnen fristlos zu kündigen (der Heimleiter F.
brachte U. K. und E. G. auf anderen Gruppen unter, U. K. wurde
sogar wieder Gruppenleiterin; die Suspendierungen - nicht
fristlose Kündigungen - erfolgten erst, als betroffene
Eltern davon erfuhren und die Presse über die Mißhandlungen
berichtete), herrschte nun plötzlich eine wie auch immer
geartete Rechtssicherheit, wie man unliebsame Kritiker, die
möglicherweise den Mut aufbringen würden, Vorfälle
von Mißhandlungen an die …ffentlichkeit zu bringen,
sofort »mundtot« machen konnte: durch die Androhung
einer fristlosen Kündigung und eines Strafverfahrens.
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Die Bedrohung durch den »Dienstgeber« scheint
bei den christlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen die
gewünschte Wirkung zu zeigen: Die »Mauer des
Schweigens« wird mit ihrer ganz persönlichen Hilfe
weiter aufrechterhalten. »Die Mauer des
Schweigens« konnten die Mitarbeiter/Innen, erfolgreich
unter Beweis stellen: Ende 1995 wurde heimintern
bekannt, daß ein medizinischer Masseur und Bademeister
Heimbewohnerinnen sexuell mißbraucht und ein Hausmeister
eine Heimbewohnerin mit sexuellem Hintergrund beleidigt hatte.
Der Hausmeister soll bereits vor etwa zehn Jahren wegen
Exhibitionismus aufgefallen sein. Die Heimleitung selbst war es,
die ihn damals gedeckt und schützend über ihm einen
Mantel der Barmherzigkeit ausgebreitete haben soll: Mit der
Auflage, sich einer Therapie zu unterziehen, habe sie ihn
weiterbeschäftigt. Diese klerikale Barmherzigkeit scheint
offenbar der »Dienstgeber« nun dem Hausmeister
verweigert zu haben: Mit sofortiger Wirkung wurde ihm und dem
medizinischen Masseur und Bademeister gekündigt.
Nachdem die Staatsanwaltschaft Würzburg von diesen
strafbaren Handlungen Kenntnis erlangte, nahm sie entsprechende
Ermittlungen gegen den medizinischen Masseur und Bademeister und
den Hausmeister auf. Aufgrund der Ermittlungsergebnisse
beantragte die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht gegen die
Beschuldigten Strafbefehle. Das Gericht verurteilte daraufhin den
medizinischen Masseur und Bademeister durch Strafbefehl wegen
sexuellen Mißbrauchs von Kranken in Anstalten in drei
Fällen zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten auf
Bewährung. Und den Hausmeister verurteilte das Gericht durch
Strafbefehl wegen Beleidigung (mit sexuellem Hintergrund) zu
einer Geldstrafe.
Die seit Frühjahr 1995 laufenden strafrechtlichen
Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Würzburg gegen acht
weitere (ehemalige) Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter des Stifts sind
Ende Dezember 1995 abgeschlossen worden.
Die Staatsanwaltschaft, die mehreren der Beschuldigten
(schwere) Körperverletzung, begangen an Schutzbefohlenen,
vorwarf, konnte jedoch nur Vorfälle ab 1990 berücksichtigen
- mit der Folge, daß die Ermittlungsverfahren gegen drei
Beschuldigte wegen Verjährung eingestellt worden sind. In
fünf Fällen wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom
Amtsgericht Strafbefehl mit Strafvorbehalt erlassen; die
angedrohte Strafe ist also auf »Bewährung«
ausgesprochen und wird erst im Wiederholungsfall vollstreckt;
diese Strafbefehle haben mittlerweile Rechtskraft erlangt.
Gegen die Beschuldigten E. G., U. K., W. E. und B. I. wurde
Anklage erhoben wegen schwere Körperverletzung, Mißhandlung
von Schutzbefohlenen und, im Falle des Diakons B. I., wegen
Verletzung der Garantenpflicht.
Im Herbst 1996, nach der Anklageerhebung, zog die
Staatsanwaltschaft plötzlich die Anklage zurück und
verzichtete somit auf eine Hauptverhandlung. Auf Anregung des
Würzburger Landgerichtspräsidenten beantragte die
Anklagebehörde den Erlaß von Strafbefehlen, die alle
Rechtskraft erlangt haben. Die Heilerziehungspflegerin und die
Gruppenleiterin wurden wegen vorsätzlicher Körperverletzung
in sieben Fällen und Mißhandlung Schutzbefohlener in
einem minderschweren Fall bzw. wegen zwei vorsätzlicher
Körperverletzungen und Beihilfe zu 120 Tagessätzen, der
Erziehungspraktikant wegen zwei minderschwerer Fällen von
Mißhandlung Schutzbefohlener und einer vorsätzlichen
Körperverletzung zu 90 Tagessätzen und der
Bereichsleiter und Diakon wegen Beihilfe zu 75 Tagessätzen
verurteilt.
Daß keine öffentliche Verhandlung stattfand, wurde
offiziell mit dem »Opferschutz« begründet, doch
in Wirklichkeit spricht einiges dafür, daß man den
Täter und Täterinnen, aber auch dem St. Josef-Stift
eine öffentliche Verhandlung ersparen wollte. Der
Landgerichtspräsident hatte - vermutlich - im Blick darauf,
daß die betroffenen Eltern Protest erheben könnten,
öffentlich erklärt, man wollte den Opfern den Auftritt
in einer Hauptverhandlung ersparen, und im übrigen hätten
die Mißhandlungen bei den betroffenen Opfer "keine
sichtbaren Spuren hinterlassen". Glaubt der
Landgerichtspräsident tatsächlich, daß diese
Mißhandlungen "keine sichtbaren Spuren hinterlassen"
haben? - Daß behinderte Menschen nicht an Körper und
Seele schmerzvoll leiden, nachdem sie eine lange Zeit schlimmste
Gewalt durch christliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wehr-
und hilflos ausgeliefert waren? Und: Wollte und will man diesen
Menschen etwa absprechen, Schmerzen, Angst, Trauer und
Hoffnungslosigkeit zu empfinden?
Im Mai 1997 wurde der - nicht mehr in der Einrichtung
beschäftigte - medizinische Masseur und Bademeister erneut
angeklagt und zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs
Monaten ohne Bewährung verurteilt, weil er während
seiner Tätigkeit im St. Josef-Stift eine behinderte Frau
sexuell mißbrauchte. Zugunsten des Angeklagten wertete das
Gericht sein Schuldbekenntnis und die Tatsache, daß es im
St. Josef-Stift "keine oder wenig Kontrollen" gegeben
habe, obwohl Überprüfungen "objektiv möglich
und nötig gewesen wären".
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Der Hilferuf an Bischof Scheele verhallte ungehört
innerhalb der Gemäuer
Der Vater eines betroffenen Kindes verfaßte an dem
Bischof von Würzburg, Paul Werner Scheele*, ein fünf
Seiten langes Schreiben. Inständig richtete der katholische
Christ die Bitte an "Eure Exzellenz", ihm
uneingeschränkte Hilfe und Beistand zu gewähren. Der
besorgte Vater fragte in seinem Schreiben vom 15. Dezember 1996
"Eure Exzellenz": "Ist es redlich, wenn
die Eltern erst aus der Presse von den Mißhandlungen an
ihren Kindern erfahren? Ist es redlich, wenn Eltern und
gesetzliche Betreuer strafrechtlich relevante Vorgänge erst
aus dem Buch von Herrn Homes erfahren? Ist es redlich, wenn man
Mitwisser der Untaten mit der Untersuchung der Vorfälle
betraut, so daß wichtige Beweismittel verschwinden können?
Ist es redlich, wenn bis heute kein Strafantrag im Zusammenhang
mit den durch Mitarbeiter des St. Josef-Stifts an anvertrauten
Menschen begangenen Straftaten von der Geschäfts- oder
Heimleitung sowie dem Vorstand bei der Staatsanwaltschaft
einging? Eine weitere Frage, die Sie beschäftigen
sollte, ist die Frage der Handhabung von Empfängnisverhütung,
Abtreibung und Sterilisation. Wissen Sie, wie diese heiklen
Komplexe in Ihrem St. Josef-Stift in Eisingen geregelt sind und
gehandhabt werden? Wie groß ist hier der Unterschied
zwischen Anspruch und Wirklichkeit?" Der Hilferuf
an Bischof Scheele verhallte ungehört innerhalb der Gemäuer
des Bistums Würzburg: Der besorgte Christ bekam keine
persönliche Antwort des Klerikers.
* Fußnote: Gemäß § 15 Abs. 3 der Satzung
der St. Josef-Stiftung steht diese Stiftung, die als
eingetragener Verein registriert ist, "unter dem Schutz und
der Aufsicht des Bischofs von Würzburg". Die im Herbst
1996 modifizierte Satzung trat erst nach ausdrücklicher
Genehmigung durch den Bischof von Würzburg und ihrer
Eintragung ins Vereinsregister in Kraft.
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Es gab einige Eltern, die gegenüber der St.
Josef-Stiftung protestierten und die Entlassung der Heimleitung
und der Geschäftsführung forderten. Ohne Erfolg!
Auch ein von der St. Josef-Stiftung im Spätsommer 1995
an die Gesellschaft für Forschung und Beratung im
Gesundheits- und Sozialbereich mbH in Köln in Auftrag
gegebenes Gutachten, das die Gutachter im Januar 1996 erstellten,
war für die Auftraggeber kein Grund, personelle Konsequenzen
zu ziehen. In dem Gutachten wird unter anderem festgehalten: Der
Heimleiter, W. F., der seit spätestens 25. Januar 1995 durch
Mitarbeiter erfahren hatte, daß Heimbewohner grausam
mißhandelt wurden, informierte noch am gleichen Tag den
damaligen Vorstandsvorsitzenden, Pfarrer O., und den
Geschäftsführer N. R. von den Vorfällen. Weder der
Heimleiter noch der Vorstandsvorsitzende hatten, so die
Gutachter, die übrigen Vorstandsmitglieder in Kenntnis
gesetzt.
Die "Fachdienste (z.B. medizinisch-therapeutischer
Fachdienst, Supervision)", ist dem Gutachten zu entnehmen,
"hatten zum Teil ausreichend Kenntnis von den Vorfällen
und haben nicht eingegriffen". Die Gutachter, die
zahlreiche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen befragten, halten in
ihrem Gutachten weiter fest:
"Nach Aussagen der InterviewpartnerInnen kann davon
ausgegangen werden, daß dem derzeitigen Heimleiter, W. F.,
wie auch seinem Vorgänger die Probleme auf der Gruppe 132
als auch wiederum die Leistungsprobleme des zuständigen
Bereichsleiters in Grundzügen bekannt waren. Beide
Problembereiche hätten - bereits seit längerem -
Interventionen der Heimleitung z.B. im Hinblick auf die
Personalfluktuation, die Angehörigenarbeit und die
Aufgabenerfüllung des Bereichsleiters (z.B. Beratung,
Anordnung von Supervision ) nahelegen müssen. Das Vorgehen
der beiden Heimleiter muß jedoch als eher zögernd und
abwartend beurteilt werden, so daß auch mit Blick auf die
Heimleitung (zumindest) von einer unzureichenden Wahrnehmung von
Aufsichts- und Führungsfunktionen gesprochen werden muß."
Die Gutachter kritisieren in ihrem Gutachten auch das
ursprüngliche Festhalten an die beschuldigten Mitarbeitern
und Mitarbeiterinnen, denn diesen hätten "angesichts
der schwerwiegenden Hinweise auf erhebliches Fehlverhalten
fristlos gekündigt werden müssen. Ihre Versetzung in
andere Gruppen war ein gravierender Fehler mit erheblichen
atmosphärischen Konsequenzen bei Beschäftigten, Eltern
und …ffentlichkeit. Nur eine fristlose Kündigung wäre
- unbeschadet einer arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung - ein
klares Signal der Einrichtung zugunsten der Bewohnerfürsorge
gewesen. Ebenso bleibt das lange Festhalten am Bereichsleiter
unverständlich, hier hätte ebenfalls frühzeitig
eine fristlose Kündigung ausgesprochen werden sollen".
Nachdem weitere Vorwürfe gegen den Heimleiter und dem
stellvertretenden Geschäftsführer bekannt wurden,
trennte sich die St. Josef-Stiftung im Frühjahr 1997 von
beiden durch entsprechende »Auflösungsverträge«;
die St. Josef-Stiftung soll ihnen die Beendigung der
Beschäftigungsverhältnisse mit hohen Abfindungen
versüßt haben. Der ehemalige stellvertretende
Geschäftsführer arbeitet seitdem in einer der Caritas
angeschlossenen Einrichtung für Drogenabhängige als
Heimleiter.
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"Die Kirche muß auch Kritik ertragen können!"
Eine besorgte, christliche Familie, deren Kind nicht der
brutalen Gewalt durch christliche MitarbeiterInnen ausgesetzt
war, richtete am 10. Dezember 1996 ein Schreiben an Domkapitular
K. R. vom Bischöflichen Ordinariat Würzburg: "Grüß
Gott, Herr R! Weihnachten steht vor der Tür, das Fest
der Liebe und der Freude - so wird es dann auch wieder in unseren
Kirchen gepredigt. Dies ist auch der Grund, warum wir Ihnen
unsere Erfahrung mitteilen... Wir dachten: Das St. Josef-Stift
ist eine kirchliche Einrichtung, jedoch haben wir noch nichts
davon bemerkt. Zu all den schrecklichen Dingen, die da geschehen
sind, hat die Kirche bis jetzt geschwiegen. Weder eine
Entschuldigung noch ein Wort, daß sich der Caritasverband
dafür einsetzt, diese Sachen lückenlos auszuklären
(...) Kein Wort und Mitgefühl für unsere Behinderten,
die ja laut Medien über Jahre diese Mißhandlungen
erleiden mußten, obwohl die Geschäftsleitung davon
wußte. Jeder Tierschützer erhält dafür, daß
er sich für mißhandelte Tiere einsetzt, mehr
Unterstützung und Verständnis als hier Eltern und
Behinderte erfahren haben (...) Die Kirche muß auch Kritik
ertragen können. Die Kirche macht sich so stark, wenn es um
Verhütung und Abtreibung geht. Hier geht es um Menschen aus
Fleisch und Blut mit einem Herzen im Leib, die genauso der Liebe
und Zuneigung bedürfen wie alle Menschen; es sind keine
Monster (...) Diese Kirche thront auf einem sehr hohen Roß.
Wer ihr nicht paßt, den übergeht man, läßt
ihn zappeln. Kein Wunder, daß so viele Menschen aus der
Kirche austreten."
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Anfang 1998 wurde öffentlich bekannt, daß eine
Heimbewohnerin ohne Einwilligung der Eltern im Rahmen einer
amtsärztlichen Untersuchung von zwei Humangenetikern der
Universität Würzburg untersucht worden ist. Hierbei
wurden von der Betroffenen Fotos angefertigt. Die Leiterin des
medizinisch-therapeutischen Dienstes des St. Josef-Stifts, Frau
Dr. H., Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
versicherte später gegenüber der Geschäftsführung
der St. Josef-Stiftung, daß dies der einzige Fall gewesen
sei, bei dem sie ohne die notwendige Zustimmung der betroffenen
Eltern gehandelt habe. Diese Darstellung bekräftigte sie
durch eine eidesstattliche Versicherung, wobei ihr die Bedeutung
solch einer eidesstattlichen Erklärung bekanntgewesen sein
dürfte: Die Abgabe einer falschen Versicherung an Eides
Statt ist strafbar - und wird mit Freiheitsstrafe von bis zu drei
Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Es bestehen offenbar -
möglicherweise - Zweifel an der Richtigkeit dieser
eidesstattlichen Versicherung.
Ob es sich hier tatsächlich um einen Einzelfall handelt,
ist mehr als fraglich: Wie Frau Dr. H. und der
Humangenetiker Prof. Dr. G. , Leiter der der Universität
Würzburg angeschlossenen Abteilung für Medizinische
Genetik im Institut für Humangenetik, auf einer
Informationsveranstaltung im März 1998 im St. Josef-Stift
einräumten, habe man etwa 160 bis 170 Heimbewohnern Blut
abgenommen. Mindestens 30 behinderte Menschen habe man
darüberhinaus weitergehende humangenetische Untersuchungen
unterzogen. Professor G. begründete dies u. a. damit, daß
bei den Behinderten die einst gewonnene Diagnose nach heutigem
medizinischen Kenntnisstand oft überholt ist: "Die
humangenetisch ausgebildeten Ärzte sind in der Lage,
Behinderungen unklarer Ursache abzuklären."
Im Rahmen der Untersuchungen seien die Betroffenen "nur
äußerlich angeschaut" worden; für Eingriffe
wie Blutabnahme seien schriftliche Einverständniserklärungen
der Eltern eingeholt worden. Auf der Informationsveranstaltung
räumte der Humangenetiker nunmehr ein, ihm hätten
solche Erklärungen nicht vorgelegen; er habe vorausgesetzt,
so seine letzte Version, daß solch eine Erklärung
vorliege, wenn ihm ein anderer Arzt Blut schicke. Eine
von dem Elternbeirat veranlaßte Umfrage bei den Eltern und
Betreuern hatte jedoch ergeben, daß der größte
Teil von ihnen nicht informiert wurde, demnach eine Einwilligung
zu diesen Eingriffen in zahlreiche Fälle nicht vorlag.
Im April 1998 räumte das
Humangenetische Institut laut der Frankfurter Rundschau ein,
tatsächlich "jahrelang Blutproben behinderter
Heimbewohner ohne deren Einverständnis und Wissen für
Forschungszwecke genutzt zu haben".
Die Bayerische Landesärztekammer, vom St.
Josef-Stift um eine Stellungnahme gebeten, erklärte, eine
Einverständniserklärung von Eltern oder Betreuern ist
dann nicht notwendig, wenn die Untersuchung für die
Therapie medizinisch indiziert ist: "Wenn eine sinnvolle
therapeutische Indikation bestand, dann war es in Eisingen
offenbar üblich, einen Mediziner von außerhalb des
Stifts heranzuziehen."
Unter juristischen Gesichtspunkten betrachtet ist von einer
Körperverletzung auszugehen, wenn eine ausdrückliche
Einwilligung des Betroffenen bzw. dessen Eltern bzw. des
Vormundschaftsgericht nicht vorliegt. Für derartige
Untersuchungen muß immer eine entsprechende Zustimmung
vorliegen. Entsprechend ist die Staatsanwaltschaft Würzburg
aktiv geworden und hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Frau Dr. H. hat im Februar 1998 der Geschäftsleitung
gegenüber erklärt, daß St. Josef-Stift zu
verlassen und sich selbständig zu machen; natürlich
habe ihre eigene Kündigung nichts mit den Vorfällen zu
tun.
Der 1989 aufgelöste Geschlossene Jugendwerkhof Torgau war
mit Abstand die härteste, brutalste
Jugenderziehungseinrichtung in der DDR. Aufgrund seiner
organisatorischen Struktur, Aufbau, Bauart und
Sicherheitsvorkehrungen glich er dem Strafvollzug in Haft-und
Jugendstrafanstalten. Das Areal, das zuvor als Gefängnis
diente, war 4.000 qm groß, das Gelände von drei Meter
hohen Mauern umgeben, auf der als Kletterschutz Glasscherben
einbetoniert waren, an den Ecken der Umfassungsmauer gab es
Wachtürme, am Gebäude selbst befanden sich
Scheinwerfer, die Türen und Fenster hatten Vergitterungen
mit zum Teil Sichtblenden. Die Zellen nutzte man unverändert
als Arrestzellen, die ehemaligen Gefängnistüren mit
Spion wurden unverändert übernommen. Die
Mädchen und Jungen waren überall mit Stahltüren
und Gittern umgeben.
Die Jugendlichen, die nach Torgau abgeschoben wurden, waren
nicht straffällig. Torgau war Synonym für brutalste
Gewalt, die nur ein Ziel hatte: die völlige Anpassung und
somit Unterwerfung an die Disziplinierungsanstalt. Torgau war
aber auch die Ultima ratio im Erziehungssystem der DDR:
Jugendliche, die sich der "Schwarzen Pädagogik"
der Jugendwerkhöfen und Spezialkinderheimen nicht
bedingungslos unterwarfen, wurden in der Regel spätestens
hier gebrochen.
Etwa 5.000 Mädchen und Jungen durchliefen diese
Diziplinierungsanstalt von ihrer Gründung 1965 bis zu seiner
Schließung 1989.
Die "Stätte des Grauens" unterstand Margot
Honeckers Volksbildungsministerium. Die gesetzliche Grundlage für
den Jugendwerkhof Torgau wurde durch die "Anordnung über
die Spezialheime der Jugendhilfe" der DDR vom 22. April 1965
geschaffen: "Der geschlossene Jugendwerkhof ist eine
Disziplinareinrichtung im System der Spezialheime der
Jugendhilfe. In dieser Einrichtung werden Jugendliche im Alter
von 14 bis 20 Jahren aufgenommen, die in Jugendwerkhöfen und
Spezialkinderheime die Heimordnung vorsätzlich schwerwiegend
und wiederholt verletzen. Der Aufenthalt darf in der Regel 6
Monate nicht übersteigen. Über die Aufnahme entscheidet
auf Antrag des Leiters des Spezialheimes der Leiter der
Zentralstelle für Spezialheime der Jugendhilfe."
Die Jugendlichen waren der Willkür ihrer ErzieherInnen
wehr- und hilflos ausgeliefert. Die Gründe der Bestrafung
waren insbesondere Flucht, Arbeitsverweigerung, Mißachtung
der Haus- oder Arrestordnung, Störung der Nachtruhe oder des
Unterrichts, renitentes Verhalten, gruppenzersetzendes Verhalten,
Kontakte zum anderen Geschlecht usw. Die Straf- und
Sanktionsmittelen bestand insbesonde aus Gruppenabsonderung,
Nachtisolierung, Verlängerung des Heimaufenthalts,
körperliche und seelische Gewalt, Freiheitsberaubung,
Demütigung, Entwürdigung. Auch der Sport wurde als
Strafinstrumentarium eingesetzt. Zum militärischen Drill
gehörten insbesondere: "Sturmbahnlaufen",
"Entengang", mit Gewichten beschwert mehrere Hofrunden
drehen, der sogenannte "Stuhlgang", bei dem der
Jugendliche mit einem Stuhl in den Flur treten, über den
Stuhl springen und anschließend mit dem Stuhl in den Händen
10 Kniebeuge machen mußte, und der sogenannte "Torgauer
Dreier", der aus Liegestütz, Hocke und Hockstrecksprung
bestand.
Ein Dokument der vollzogenen "Schwarzen Pädagogik"
ist auch eine Anweisung über die Anwendung und Gebrauch von
Schlagstöcken, in der geschrieben steht, daß drei
Schlagstöcke, die nur in Notwehr oder zur Abwendung einer
persönlichen, unmittelbar bestehenden Gefahr Verwendung
finden dürfen, im Erziehungszimmer vorhanden sein müssen.
Aussagen Betroffener bestätigten, daß immer wieder
zugeschlagen wurde. Auch "Kopfnüsse" und das
Schlagen mittels eines Schlüsselbundes gehörten dazu.
Doch die mit Abstand schlimmste Bestrafung in Form des Straf-
und Unterdrückungsinstrumentariums war die zwangsweise
Unterbringung in einer Arrestzelle. Einer Anordnung über
die zeitweilige Isolierung von Minderjährigen aus
disziplinarischen Gründen in den Spezialheimen der
Jugendhilfe vom 1. Dezember 1967 ist zu entnehmen:
"Bei besonders schwerwiegenden und wiederholten
Verstößen gegen die Heimordnung, bei wiederholter
Arbeitsverweigerung, bei Aufwiegelung anderer Minderjähriger
und bei wiederholten Fluchtversuchen kann in Spezialheimen zur
Sicherung anderer Personen, zur Sicherung des Minderjährigen
selbst sowie zur Beseitigung einer akuten Gefahr eine
zeitweilige Isolierung veranlaßt werden. Bei jeder
zeitweiligen Isolierung ist stets sorgfältig zu überlegen,
welche Wirkung und Reaktion diese Maßnahme beim
Minderjährigen auslösen wird."
In den Heimen der DDR, und zwar unabhängig ihrer
jeweiligen Bezeichnung, wurden Kinder und Jugendliche nicht nur
mit der Isolierung, also dem Einsperren in Isolierzellen,
bedroht: unzählige Mädchen und Jungen haben immer
wieder viele Stunden, manchmal sogar Tage in den Isolierzellen
verbringen müssen.
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"Das ist
unsere Endlösung"
Einen Einblick in den Heimalltag in der ehemaligen DDR konnten
sich die West-Deutschen kurz vor der Wiedervereinigung im Sommer
1990 verschaffen. Die Illustrierte STERN beschrieb, mit
großen Fotos bebildert, das menschenverachtende,
würdelose... Leben in verschiedenen Anstalten des
SED-Staats, so zum Beispiel im "Medizinisches Zentrum Kreis
Stralsund".
Die STERN-Mitarbeiter wurden von der Leiterin der Anstalt, der
Kinderneuropsychiaterin Frau Dr. R., in die Abgründe eines
Systems geführt, das "nicht förderungsfähige"
Kinder im Vorschulalter "aussortiert und zur Verwahrung in
Heime und psychiatrische Krankenhäuser abschiebt". Frau
Dr. R. rechtfertigte gegenüber dem STERN die Käfig- und
Zwingerhaltung mit einer faschistisch durchsetzten Terminologie:
"Sie werden sehen, 50 von 70 Kindern hier sind Vollidioten.
Denen ist es völlig egal, wo sie liegen. Die haben keine
Hospitalismusschäden. Denn dazu gehört ein gewisser
Intellekt." "Schlafsaal für Schlafsaal wird
aufgeschlossen", so die STERN-Mitarbeiter, "Käfig
an Käfig, Bett an Bett. Darin liegen gefesselte Kinder,
unter Netzen zusammengekauerte Leiber ... Chefärztin Dr. R.
führt uns in Räume, in denen Jugendliche in großen
Käfigen hausen. ãWir haben hier keinen Platz für
Isolierzellen. Ich bin froh, daß die Männer unserer
Schwestern für die Kinder diese Hundezwinger aus Gußeisen
gebaut haben. Sie haben sie schön bunt angemalt, damit sie
ein bißchen freundlicher aussehen. Das ist unsere
Endlösung." Die Ärztin, die versicherte, daß
die Kinder "mindestens die doppelte Dosis" von
Medikamenten (zum Beispiel das Beruhigungsmittel Haloperidol und
Faustan, das DDR-Valium, aber auch sexualdämpfende
Medikamente), die ein Erwachsener bekommt, zur Ruhigstellung
erhalten, erzählte den STERN-Mitarbeitern im Plauderton von
Kindern, die "ohne Krankheitssymptom" plötzlich
gestorben sind, an Atemstillstand oder Kreislaufzusammenbruch:
"Cornelia war eine ganz Kernige. Sie konnte laufen, selber
essen und sich anziehen. Wir mußten sie fast immer in den
Käfig sperren. Eines Abends hat sie ein paar Mal nach Luft
geschnappt und war tot. Einfach so."
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Der Anordnung zur "Durchführung der zeitweiligen
Isolierung" sind auch die "Bedingungen und Formen der
zeitweiligen Isolierung" zu entnehmen:
Die Isolierung durfte demnach nur bei Jugendlichen
durchgeführt werden, "die älter als 14 Jahre
sind. In Ausnahmefällen dürfen Kinder, die das 12.
Lebensjahr vollendet haben, für maximal 12 Stunden isoliert
werden". Das Recht zur Anordnung der Isolierung lag bei dem
Heimleiter. Dieser mußte vor der Einweisung mit dem
Betroffenen ein Gespräch führen, "in dem u.a. die
Gründe der Einweisung genannt werden. Die Anordnung ist
schriftlich zu begründen und der Akte des Minderjährigen
beizufügen".
Weiter heißt es in der Anordnung:
"Die Isolierung kann als Isolierung während der
Freizeit oder als Arrest angeordnet werden. Die Isolierung
während der Freizeit kann für die Dauer von 6 Tagen
angeordnet werden. Der Minderjährige besucht dabei die
Schule bzw. geht einer Arbeit nach. Seine Freizeit verbringt er
im Arrestraum des Heimes. Arrest darf in der Regel bis zur Dauer
von 3 Tagen angeordnet werden. Während des Arrestes wird
der Jugendliche auch vom Schulbesuch und von der Arbeit
ausgeschlossen. Muß in Ausnahmefällen der Arrest für
mehr als 3 Tage angeordnet werden, so ist hierzu die Zustimmung
des für die Einrichtung zuständigen Referates
Jugendhilfe des Rates des Bezirkes erforderlich. Der Arrest darf
höchstens auf 12 Tage ausgedehnt werden. Für Kinder
bis zu 14 Jahren darf Arrest nicht angeordnet werden."
Auch die Einrichtung des Arrestraumes ist in dieser
Anordnung festgeschrieben:
Die Grundfläche soll "mindestens 6 x 2 m"
betragen und einen "Rauminhalt von mindestens 20 m3"
haben. "Das Fenster soll etwa 60 x 120 cm groß, hoch
angebracht und aus Drahtglas sein. Zur Sicherung sind mindestens
12 mm starke Eisengitter allseitig in die Außenwand
einzulassen. Die Tür soll aus starkem Material bestehen.
Außer einem Schloß sind zur Sicherung zwei starke
Riegel außen anzubringen. Es darf keine Klinke in den
Innenraum hineinragen. Um den Raum von außen her übersehen
zu können, ist ein mit starkem Glas abgedeckter Spion
anzubringen, der mit einer Klappe versehen ist ... Die
Möblierung des Arrestraumes besteht aus: 1 Bett mit
Matratze (möglichst an der Wand verschraubt), 1
Wandklapptisch, 1 Hocker (möglichst an der Wand
befestigen), Toiletteneimer bzw. Spülklosett. Das Bett ist
tagsüber an der Wand anzuschließen. Bei nicht fest
mit der Wand verbundenen Betten sind die Auflagenmatratzen
tagsüber zu entfernen."
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Verstoß
gegen die Menschenrechte
"Aus dem Selbstverständnis sozialistischer Pädagogik
waren Umerziehung, pädagogisches Regime und
politisch-ideologische Indoktrination geeignete Mittel der
Erziehung. Dieser Ansatz bedeutete im GJWH (Geschlossener
Jugendwerkhof) Torgau Disziplinierung, Unterdrückung,
Verweigerung angemessener psychologischer Betreuung, letztlich
einen schweren Verstoß gegen die Menschenrechte. Der
Verstoß gegen die Menschenrechte wirkt besonders
erschwerend, da es sich bei den Insassen um minderjährige
Jugendliche gehandelt hat, die einer besonderen Fürsorge der
Gesellschaft bedurft hätten ... Der Jugendwerkhof diente als
Sammelbecken für eine ganz spezielle Randgruppe der
Gesellschaft und reproduzierte diese immer wieder, so daß
es auch zu Zweit- und Dritteinweisungen kam. Letztlich war eine
Erfahrung vieler Randgruppen in der ehemaligen DDR, daß
Auffälligkeit oder Anderssein massiv unterdrückt und
aus der ...ffentlichkeit verdrängt wurde ... Die Art und
Weise der Unterbringung und Behandlung der minderjährigen
Jugendlichen stellt unseres Erachtens 1. eine grobe
Mißachtung der Persönlichkeit des Jugendlichen 2.
eine Unterdrückung und Deformation der Individualität
des Menschen und 3. einen schweren Verstoß gegen
elementare pädagogische Prinzipien dar. Die in der
Einrichtung tätig gewesenen Pädagogen, die freiwillig
dort arbeiteten, haben sich moralisch schuldig gemacht. Sie haben
sich schuldig gemacht, indem sie sich in den Dienst dieser
Disziplinierungsanstalt begaben und darüber hinaus in
eigener Verantwortung zusätzlich willkürliche
Repressalien gegenüber den Jugendlichen verübten."
Auszug aus dem "Abschlußbericht des Unabhängigen
Untersuchungsausschusses zu Vorgängen im ehemaligen
Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau"
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Im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gab es eine
beängstigend hohe Selbstmordrate. Mädchen und Jungen im
Alter ab 14 Jahre haben immer wieder versucht, sich auf
verschiedene Weise das junge Leben zu nehmen: durch Erhängen,
durch Trinken von Giftstoffen, durch Schlucken von Nägeln
oder Nadeln, durch Aufschneiden der Pulsader.
In der DDR gab es verschiedene Typen von Heimen:
Aufnahmeheime, Jugendwerkhöfe, Geschlossener Jugendwerkhof,
Sonderheime und Spezialheime. In einer Anordnung über
Spezialheime der Jugendhilfe, die im Einvernehmen mit den Leitern
der zuständigen zentralen Organe des DDR-Staatsapparates und
in †bereinstimmung mit dem Freien Deutschen
Gewerkschaftsbund - Sozialversicherung - entstanden ist, wird zum
Beispiel festgehalten:
"In den Spezialheimen werden schwererziehbare und
straffällige Jugendliche sowie schwererziehbare Kinder
aufgenommen, deren Umerziehung in ihrer bisherigen
Erziehungsumgebung trotz optimal organisierter erzieherischer
Einwirkung der Gesellschaft nicht erfolgreich verlief. Der
Aufenthalt im Spezialheim stellt eine Etappe im Prozeß der
Umerziehung dieser Kinder und Jugendlichen dar."
Die Umerziehung wurde vollzogen "auf der Grundlage der
sozialistischen Schulpolitik und Pädagogik mit dem Ziel der
Heranbildung vollwertiger Mitglieder der sozialistischen
Gesellschaft und bewußter Bürger der Deutschen
Demokratischen Republik". Der Prozeß der Umerziehung,
ist dieser Anordnung zu entnehmen, "vollzieht sich im Heim
im Rahmen der Allgemeinbildung, (...) der staatsbürgerlichen
Erziehung, einer sinnvollen Freizeitgestaltung und einer straffen
Ordnung und Disziplin. Die Kinder und Jugendlichen werden aktiv
in den Erziehungsprozeß einbezogen".
In Meerane bei Zwickau existierte solch ein
Spezial-Kinderheim, das im Gegensatz zum Jugendwerkhof Torgau die
"Wende" überlebte. Auch hier war man durch die
Umerziehung sehr bemüht, durch eine straffe Ordnung und
Disziplin aus jungen Menschen "vollwertige Mitglieder der
sozialistischen Gesellschaft" zu machen. Anfang der
neunziger Jahre übernahm das Diakonische Werk Sachsen das
Heim, das sich nunmehr Georg-Krause-Kinderheim nennt. Die "Wende"
überlebt haben auch einige der dort beschäftigten
ErzieherInnen - sie wurden übernommen und
weiterbeschäftigt.
Kinder sollen in dem Spezialkinderheim bis mindestens 1989
wehr- und hilflos einer menschenunwürdigen und
menschenverachtenden "Schwarzen Pädagogik"
ausgesetzt gewesen sein: ErzieherInnen hätten insbesondere
mit physische, psychische, verbale Gewalt und Freiheitsberaubung
die Kinder durch ihre "Kindheit" begleitet. Das
behaupten mehrere ehemalige Heimkinder gegenüber der
Staatsanwaltschaft Chemnitz. Mario S. ist einer von ihnen. Der
heute 23jährige war von 1986 bis 1989 im Spezialkinderheim
Meerane untergebracht. Im Oktober 1996 erstattete er gegen sieben
ErzieherInnen, von denen drei heute noch dort tätig sind,
Strafanzeige wegen Mißhandlung Schutzbefohlener,
Körperverletzung und - in einem Fall - sexuellen Mißbrauch.
Mindestens fünf ehemalige Heimkinder haben sich Mario S.
durch die Erstattung eigener Strafanzeigen angeschlossen.
Mario S., der sich nach seiner Heimzeit dreimal das Leben
nehmen wollte, erinnert sich, daß er bereits am ersten Tag
im Spezialkinderheim Meerane mit der brutalen Heimwirklichkeit
konfrontiert wurde:
"Ich sollte mich der Erzieherin L. vorstellen, doch
ich wollte nicht, ich weinte und wollte wieder heim. Ich blickte
zu ihr hoch, zitterte am ganzen Körper und drehte mich von
ihr weg. Plötzlich spürte ich einen Schmerz im Gesäß,
Frau L. hatte zugetreten." Frau L., Mutter von zweier
Kinder im Alter von 3 und 10 Jahren, soll die Mißhandlungsform
auf erschreckender brutaler Weise gesteigert haben. Mario S.,
den Tränen nahe, scheint, während er mit bewegender
Stimme weiter berichtet, diese von ihm als "Kindheit des
Grauens" bezeichnete Zeit noch einmal zu durchleben: "Sie
zog mich an den Haaren, nahm meinen Kopf, steckte ihn in ein
Waschbecken und drehte das kalte Wasser auf. Ich weinte noch
lauter. Sie packte mich wieder an den Haaren und steckte dann
meinen Kopf in ein WC und betätigte die Spülung.
Nachdem die Wasserspülung aufhörte, fragte sie mich,
ob das nun reiche. Vor Angst bejahte ich. Am Wochende zwang sie
mich, mit einer Nagelbürste den Korridor zu reinigen."
Während dieser Heim-Zeit hatte Mario S. nur ein Ziel vor
Augen: Flucht!:
"Als ich am Sonntag bei einem Sparziergang die
Flucht ergriff und zur Oma fuhr, wurde ich bei ihr von der
Polizei abgeholt und ins Heim zurückgebracht. Zur Strafe
sperrte mich Frau L. in einer Kellerzelle mit vergitterten
Fenster ein, wo ich die Nacht verbringen mußte."
In dieser Zelle sei er mehrmals eingesperrt worden, so auch
wegen Störung der Nachtruhe.
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Arrestbelehrung
Da Sie die Hausordnung des Jugendwerkhofes Torgau nicht
eingehalten haben, werden Sie mit Arrest bestraft. Sie haben sich
im Arrest entsprechend der nachstehenden Ordnung zu verhalten:
a) Ihnen ist im Arrest verboten: 1. Das Singen und Pfeifen
2. Das Lärmen 3. Das Herausschauen aus dem Fenster
4. Das Benutzen der Lagerstätte außerhalb der
Nachtruhe 5. Der Besitz von Büchern, Zeitungen,
Bleistiften und dergleichen 6. Das Beschmieren und
Beschriften der Wände und Türen 7. Jede Art der
Unterhaltung mit anderen Jugendlichen.
b) Weiterhin haben Sie folgende Anordnung zu befolgen: 1.
Wird die Arrestzelle geöffnet, haben Sie eine stramme
Haltung einzunehmen und Meldung zu machen. Inhalt der Meldung
ist: Name - Dauer des Arrestes - Grund des Arrestes - die schon
verbüßte Zeit. 2. Der Hocker hat in der Mitte der
Zelle zu stehen. 3. Die Lagerstätte steht in der Zelle
links neben der Wand am Fenster. 4. Der Kübel steht in
der Zelle rechts neben der Tür. Dinge des persönlichen
Bedarfs, wie Zahnbecher, Seife, Kamm werden außerhalb des
Arrestes aufbewahrt. 5. Alle in der Zelle vorhandenen
Einrichtungsgegenstände sind schonend zu behandeln. (...)
c) Sollten Sie gegen die Arrestordnung verstoßen, werden
notwendige erzieherische Maßnahmen - Arrestverschärfung
- angewandt. Die in den Arrestzellen und in anderen
Räumlichkeiten befindlichen roten Alarmmelder sind nur im
Notfall zur Benachrichtigung eines Erziehers zu nutzen. Jeder
Mißbrauch ist verboten.
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Mario S. erinnert sich sehr lebhaft an den Erzieher
M., der ihn sexuell mißbraucht habe:
"Bei einer ihrer Besuche schenkte mir meine Oma eine
Stoffmaus, die mir Herr M. nach Besuchsende abnahm. Eines abends
holte mich Herr M. aus dem Bett; er forderte mich auf, ihm ins
Erzieherzimmer zu folgen. Er holte die Stoffmaus aus einem
Schrank und ging mit mir ins Nachtwachezimmer. Herr M. hielte
mir spielerisch die Stoffmaus ans Gesicht, dann an den Bauch und
an mein Geschlechtsteil. Er rieb die Stoffmaus eine längere
Zeit lang an mein Geschlechtsteil, und ich bekam dadurch eine
Erektion. Herr M. hatte noch nicht genug und schlug mir mit
einem Schreibstift auf den Penis."
Mario S. erinnert sich, daß die Kinder sich vor
dem Duschen nackt in einer am Fußboden angebrachten Linie
aufstellen mußten. Hierbei sei es auch vorgekommen, daß
der "Erzieher mit einem Stöckchen die Kinder an den
Geschlechtsteilen berührte". Auch seien die Kinder hin
und wieder von Erziehern und Erzieherinnen eingeseift worden.
Mario S. erinnert sich an einen Jungen, dessen Eltern
die Ausreise in die BRD beantragt hatten und deren Antrag
genehmigt wurde. Erzieher M. wollte die Meinung der Kinder hierzu
erfahren und fragte, was sie davon hielten.
"Ich erklärte ihm", berichtet Mario S.,
"dem T. ginge es in der BRD ganz bestimmt besser als hier
in diesem Knast. Herr M. gab mir einen heftigen Tritt ins Gesäß
und zog mich heftig an den Haaren. Damit nicht genug: Ich mußte
von 20 bis 23 Uhr ununterbrochen stramm stehen und die Arme
waagrecht nach vorne hin ausstrecken. Und als meine Knie
einknickten, schlug er mit einem dicken Stock in die Kniekehlen.
Die heftigen Schmerzen und Krämpfe durch das lange Stehen
interessierten ihn nicht."
Mario S. erinnert sich auch an den Erzieher H., der
nach der "Wende" im Heim Karriere machte, indem er zum
Heimleiter aufstieg:
"Vor dem hatten alle Kinder Angst, da er als brutal
und gefährlich galt. Er schlug zu, wenn einer was
angestellt hatte, und verteilte Strafarbeiten wie Schuhputzen,
Reinigen des Treppenhauses mit einer Zahnpürste."
Erzieher H., der auch von anderen Zeugen als brutal eingestuft
wurde, habe einen Jungen besonders brutal mißhandelt,
berichtet Mario S.:
"Ich habe mitansehen müssen, wie Herr H. einen
Jungen seiner Gruppe immer wieder schlug; der Junge hatte auf
dem Rücken grünlichblaue Flecke. Ich habe auch
gesehen, daß Herr H. den Jungen, der nur mit einem Slip
bekleidet war, einmal auf dem Korridor mit einer Peitsche
schlug."
Auch ihm, berichtet er, habe der Erzieher H. "mit dieser
Riemenpeitsche geschlagen, er schlug zwei- bis dreimal auf meinen
Rücken. Ich mußte auch Liegestütze machen".
Der damalige Heimleiter des Spezialkinderheims, versichert
Mario S., "hatte zum Teil Kenntnis von den Mißhandlungen,
denen ich ausgesetzt war, doch der schwieg. Ich habe ihm zum
Beispiel einmal Hämatome an meinem Körper gezeigt, doch
er interessierte sich für diese Verletzung nicht".
Nicht nur von ErzieherInnen sei Gewalt ausgegangen. Auch der
frühere Musiklehrer des Spezial-Kinderheims Meerane, Herr
I., an dem Mario S. keine gute Erinnerung hat, sei ihm gegenüber
gewalttätig gewesen: Herr I. habe ihm damals während
des Musikunterrichts eine "Gitarre auf den Kopf geschlagen,
weil ich den Unterricht störte. Da ich anfing zu lachen, zog
Herr I. mich vom Stuhl und stieß mich mit den Kopf gegen
die Wand". Mario S. erinnert sich, daß er eine starke
Beule mit einer Platzwunde davon getragen habe, "die
geklammert werden mußte". Dieser Vorfall wurde,
erinnert sich Mario S., der Erzieherin Frau P. mitgeteilt: "Frau
P. interessierte sich nicht für die Wunde am Kopf. Sie
ordnete an, daß ich die Piss-Becken mit einer Zahnbürste
zu reinigen habe. Danach wurde ich in die Kellerzelle
eingesperrt." Der Musiklehrer hatte das große
Glück, nach der "Wende" Karriere zu machen: Herr
I. wurde stellvertretender Oberbürgermeister der Stadt
Meerane.
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"Deine Mutter ist
tot"
Rainer C., der von Anfang 1982 bis Juli 1984 im
Spezialkinderheim Meerane untergebracht war, erinnert sich noch
heute an diese Heimzeit und an die "Erzieher". Der
Autor gibt wieder, was Rainer C. seinen eigenen Angaben nach dort
erlebt hat - und zitiert, der Authentizität wegen ohne
stilistische Eingriffe vorzunehmen, aus dessen
Gesamtausführungen:
Rainer C. berichtet, Erzieher H., der nach der "Wende"
bis November 1997 Heimleiter der Einrichtung war, habe ihn wie
auch andere Kinder "Liegestütze, Kniebeuge" und
den "Entengang um die Tischtennisplatte bis zum Umfallen"
machen lassen: "Auf den Stühlen standen Eimer Wasser,
wir mussten unter den Stühlen durchkriechen. Wenn wir den
Stuhl mit den Rücken berührt haben, ist der Eimer
umgekippt und auf uns raufgefallen. Dann haben wir bei ihm in
einer Reihe stehen müssen, dann ist er mit einen Arm hintern
Rücken und hat mit der anderen Hand seinen Vollbart
gestrichen und suchte sich einen Schüler aus - und sagte:
»Nun, mein Sohn, wo ist die Leber?« Wenn er es nicht
wußte, wo die Leber sitzt, schlug er mit aller Gewalt den
Schüler in die Leber, so daß er zusammenbrach. Und
grinste unverschämt." Erzieher H. habe, so Rainer
C., einen "farbigen" Jungen brutal mißhandelt, so
daß dieser "mit einem blauen Auge aus dem Keller
kam". Der Junge R. oder der Junge M., so Rainer C.
weiter, habe "einmal vor der Kellertreppe gestanden und
wurde mit einer Kugel der Größe einer Bolienkugel
beworfen. Der Junge konnte nicht mehr nach links oder rechts
wegspringen, denn da war die Mauer. Die Kugel fiel ihm auf den
Zeh. Und der Zeh war geschwollen".
Über Herrn I., dem heutigen stellvertretenden
Oberbürgermeister der Stadt Meerane, berichtet Rainer C.:
"Herr I. war Musiklehrer und Erzieher. Herr I. war ein
knallharter Erzieher. Ich wurde von diesem Erzieher zwei mal
zusammengeschlagen. Das erste mal ist es im 2. Stock passiert,
indem er mich aus dem Bett zog und mich in den Flur schlief. Er
zog mich auf den Fußboden und schlug mich mit Füße
und Hände zusammen. Ich wurde am ganzen Körper
getroffen sowie auch am Kopf. Danach musste ich Kniebeugen,
Liegestützen und Entengang machen. Das hat sicher 2 Stunden
gedauert. Den anderen Tag bin ich ins Krankenhaus gekommen. Das 2
mal spielten wir auf den Hof, da hat mir ein Jugendlicher etwas
gesagt. Darauf habe ich ihm geantwortet. Da wird Herr I. sicher
gedacht haben, daß ich ihn meinte. Und schnappte mich an
den Haaren - und zog mich wieder rein. Er schlief mich über
den ganzen Flur und riß mich die Kellertreppe runter. Ich
knallte mit dem Kopf auf die Stufen und gegen die Mauer. Danach
hat er mich wieder zusammen geschlagen, und ich wachte in der
Einzelzelle auf. Dann bin ich wieder ins Krankenhaus gekommen.
Ich hatte stark gebrochen und starke Schmerzen im Kopf. Ich hatte
kaum etwas gesehen, alles war schwarz vor meinen Augen. Beim 3
mal wußte ich nicht, was passiert ist, ich bin im
Krankenhaus aufgewacht. Der Arzt sagte mir, ich habe eine
Gehirnerschütterung. Ich musste beim Herrn I. im Entengang
die Treppe runter gehen, und das war ihn anscheinend zu langsam -
und er schupste mich. Und ich flog mit den Kopf gegen die Mauer.
Ich habe häufig auch sehr starke Kopfschmerzen. Ich
denke auch sehr oft an dieses Heim zurück. Die letzte Zeit
ist bei mir kein anderes Thema mehr. Ich hoffe es, daß ich
endlich vergessen kann. 1982 ist meine Mutter
gestorben. Diese Nachricht übermittelte mir Herr I. Er
sagte: »Komme bitte mit. Gab es irgendwelche Probleme in
deiner Familie?« Ich sagte »Ja«. Er sagte ganz
locker zu mir: »Deine Mutter ist tot.« Ich durfte
nicht zu Beerdigung fahren. Ich selbst, wenn ich heute
in dieses Kinderheim reingehen würde nach 15 Jahre, würde
ich Ihnen genau zeigen können, wo die Einzelzelle und die
Duschen im Keller waren. Ich hatte mir in dieser Einzelhaft
Selbstmord versucht. Ich habe heute noch die Narben an meinen
Armen."
Über die - damalige - Heimerzieherin Frau G. berichtet
Rainer C.: "Ich kam ins Kinderheim Meerane. Das war gleich
am ersten Tag, da musste ich meine Sachen auspacken. Ich habe
gleich von der Frau G. eine geknallt bekommen. Bei dieser
Erzieherin wurden wir ständig mit Liegestützen,
Kniebeugen und Entengang gequält, bis uns die Füße
schmerzten und zu zittern anfingen. Da mußten wir uns in
einer Reihe vor die Tischtennisplatte hinstellen und uns
ausziehen. Dann begann sie zu lachen über unsere
Geschlechtsteile und zeigte mit den Finger. Die Frauen hatten uns
häufig eiskalt duschen lassen. Und haben uns immer dabei
zugeschaut. Wir mußten immer vom 2. Stock bis in den Keller
nackig runterlaufen. Und wir wurden gezwungen, alles zu essen.
Ich selbst habe heute noch von Tomaten ein starkes Graußen.
Es dürfen heute keine Tomaten auf den Tisch."
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Im Rahmen des Strafermittlungsverfahrens haben zahlreiche
ehemalige Heimkinder den Ermittlungsbehörden die Straf- und
Sanktionsmitteln wie folgt beschrieben: Daß Reinigen des
Korridors mit einer Fingernagelbürste habe genauso zum
Heimalltag gehört wie Gewalt in Form von Tritte in den
Hintern, an den Ohren ziehen, mit der flachen Hand ins Gesicht
schlagen, grobes Anfassen im Genick oder an den Armen, den Kopf
ins Erbrochene drücken, Kniebeuge und Liegestütze
machen, kalte Dusche, Treppen auf- und absteigen, verbale Gewalt
(Idioten, Schweine), das Einsperren in eine Zelle (ein ehemaliges
Heimkind berichtete: "Man mußte sich dann vor der
Zelle, die nicht beheizt war, nackt ausziehen; in der Zelle gab
es keine Decke. Ich selbst war dort oft eingesperrt, so zum
Beispiel, weil ich die Nachtruhe störte. Ich mußte
ohne Frühstück, Mittagessen und Abendbrot den ganzen
Tag dort bleiben"). Immer wieder sei es der Erzieher H.
gewesen, der ihn da eingesperrt habe.
In einem SPIEGEL-Bericht, der am 6. Oktober 1997 erschien,
verteidigte Heimleiter H., der von mehreren Zeugen schwer
belastet wurde, sich und seine Kollegen gegen die
"Verleumdungen": "Wir haben auch zu DDR-Zeiten
unter sehr schwierigen Verhältnissen versucht, den Kindern
Wärme und Geborgenheit zu geben." Mario S., den
Hauptzeugen der Staatsanwaltschaft Chemnitz, diffamierte er als
"weichen, linksgestrickten Jungen", der, aufgestachelt
von anderen, nichts als "Verleumdungen" verbreite: "Der
Junge ist gescheitert, und nun will er uns dafür zum
Sündenbock machen." Um generell die Glaubwürdigkeit
des Hauptzeugen in Frage zu stellen, wurde dieser letztendlich
vom Heimleiter und vom stellvertretenden Oberbürgermeister
I. zu einem kranken Menschen abgestempelt. Entsprechend forderten
beide ein Glaubwürdigkeitsgutachten.
Einen Tag nach der SPIEGEL-Veröffentlichung wurde den
Beschuldigten von höchster Stelle der Stadt Meerane die
"Absolution" erteil: In einer "Amtlichen
Stellungnahme zu öffentlichen Vorwürfen gegen den
Ersten Beigeordneten der Stadt Meerane" vom 7. Oktober 1997
erklärte der Oberbürgermeister von Meerane, Dr. O.:
"Mir ist bekannt, daß gegen Herrn I., Erster
Beigeordneter der Stadt Meerane, und gegen Erzieher des
Kinderheimes »Georg-Krause«, Amtsstraße 5 in
Meerane, ein Ermittlungsverfahren läuft. Hierfür ist
allein die Staatsanwaltschaft zuständig. Solange keine
Ergebnisse vorliegen, gibt es seitens der Stadt Meerane keinen
Handlungsbedarf. Im übrigen bin ich überzeugt, daß
sich die Vorwürfe als haltlos erweisen werden."
Sicherlich ist es ein purer Zufall, daß Dr. O. heute
Oberbürgermeister und der damalige Musiklehrer I. heute sein
Stellvertreter ist. Vor seiner Zeit als
Oberbürgermeister hatte Dr. O. in Meerane eine Arztpraxis
und war als Arzt auch für das Spezial-Kinderheim Meerane
tätig. Ob Dr. O. zu den Ärzten gehörte, die zu
verantworten haben, daß Heimkinder teilweise zur
Ruhigstellung Tranquilizer wie "Frenolon" erhielten,
ist heute nicht mehr zu eruieren.
Auch der Diakonie-Direktor, J. B., erklärte dem
Heimleiter H. seine uneingeschränkte Solidarität:
Gegenüber der Leipziger Volkszeitung versicherte er Anfang
Oktober 1997: Für eine Beurlaubung des Heimleiters gebe es
keinen Anlaß, "vor allem, wenn man sich klarmacht, daß
nach einem Jahr noch kein Ermittlungsergebnis vorliegt".
Einige Wochen später war Heimleiter H. kein Heimleiter
mehr. Den Posten des Geschäftsführers vom
Erziehungsförderverein e.V. Meerane, Träger der
Heimeinrichtung, den dieser seit Anfang der neunziger Jahre
innehat, führt er auch weiterhin aus.
Die Staatsanwaltschaft hat gegen zahlreiche frühere und
noch tätige MitarbeiterInnen Anklage erhoben; die gesamte
Anklage wurde vom Landgericht Chemnitz nicht zugelassen. Die
Begründung lautete: Alle in der Anklageschrift aufgeführten
Straftaten seien verjährt. Hiergegen hat die
Staatsanwaltschaft folgerichtig in zahlreichen Fällen, die
ihrer Rechtsauffassung nach nicht verjährt waren, Beschwerde
beim Oberlandesgericht Chemnitz eingelegt. Das Oberlandesgericht
hat mittlerweile der Beschwerde in den wesentlichen Punkten
stattgegeben mit der Folge, dass das Landgericht das
Hauptverfahren jetzt eröffnen muß.
Dem früheren Leiter des Erzbischöflichen Kinderheims
St. Kilian in Walldürn (Neckar-Odenwald-Kreis), E. K., der
dort von 1969 bis Oktober 1995 Direktor war, wurde im Frühjahr
1995 vorgeworfen, über "längere Zeiträume
verteilt kontinuierlich immer wieder Kinder geschlagen" zu
haben. Der Diplom-Psychologe R. R., der bis Ende 1994 in dem
Heim, in dem 80 Kinder zwischen fünf und achtzehn Jahren
untergebracht sind, arbeitete, hatte gegen den
achtundsechzigjährigen Priester, der auch gleichzeitig der
Beichtvater des Kinderheims war, eine entsprechende Strafanzeige
gestellt. Der Diplom-Psychologe berichtete den
Ermittlungsbehörden:
"Der Heimleiter rühmte sich wiederholt der
Tatsache, daß er Kinder schlägt, gegenüber den
ErzieherInnen und einem betreuenden Psychologen. Er stellte
diese Mißhandlung als notwendige pädagogische
Maßnahme dar. Dieses Schlagen von Kindern fand nicht im
Affekt unwillkürlich statt. Im Gegenteil wurden die Kinder
oft erst tagelang nach ihrem ãVerbrechenÒ
geschlagen."
Er schilderte den Ermittlern einen konkreten Fall:
"Zum Beispiel der vierzehnjährige Markus M.
Sein Vergehen war, daß er mittags beim Geschirrspülen
mit seinen Gruppenkameraden herumalberte. Als er einem Freund
den Spüllappen nachwarf, traf er die Eßzimmertischlampe
und beschädigte eine kleine handtellergroße
Glasscheibe (Schätzwert ca. 10,- DM). Tage später
begegnete das Kind dem Heimleiter auf dem Hof in Anwesenheit
seiner Erzieherin. Wie das von den Kindern im Kinderheim
verlangt wird, redete der Junge den Heimleiter mit Herr Rektor
an und fragte ihn, wie es ihm gehe."
Die Worte dieser Erzieherin über den weiteren Verlauf des
Geschehens gibt er so wieder:
"Herr K. sprach Markus
wegen einer Glasscheibe an, die Markus an einer Lampe im
Gruppenraum vorher beschädigt hatte und schlug ihm ins
Gesicht. Danach gab er Markus die Hand, bedankte sich ironisch
dafür, daß Markus die Lampe kaputt gemacht habe, und
schlug ihm nochmals ins Gesicht."
"Zu vier weiteren Kindern", berichtete er,
"liegen konkrete Angaben von ErzieherInnen,
HeimbewohnerInnen und Psychologen vor, in denen von Herrn K.
begangene Mißhandlungen an Kindern beschrieben werden. Die
Art des Mißhandelns unterschied sich von Schlagen bis
Treten; gemeinsam ist allen Vorfällen, daß Kinder,
die oft schwere Gewalterfahrungen zu bewältigen haben, ein
weiteres Mal von einer vertrauten Bezugsperson mißhandelt
und traumatisiert wurden."
Die - weitere - Karriere eines kindlichen Opfers dieses
Heimleiters, das bereits vor seinem Aufenthalt im Kinderheim St.
Kilian in verschiedenen Heimen und psychiatrischen Anstalten
leben mußte, hat er in einem Protokoll festgehalten:
"Es ist eine traurige Karriere, wenn ein Kind, das
von Herrn K. geschlagen wurde, verhaltensmäßig im
Kinderheim derart eskaliert, daß er nur noch in die
nächste Kinder- und Jugendpsychiatrie abgeschoben werden
konnte. Seitdem wanderte dieses Kind bis heute weiter durch die
Psychiatrien und gilt als schwerst verhaltensauffällig. Für
den Heimleiter eine notwendige Erziehungsmaßnahme, für
das Kind eine verpaßte Lebenschance!"
Beichtvater K. "zwang die Kinder", erinnert sich
der Diplom-Psychologe, bei ihm höchstpersönlich die
Beichte abzulegen. "Themenschwerpunkt dieser Beichte",
die als Beichtgespräche abgehalten wurden, sei immer wieder
"das Thema Homosexualität und Onanie" gewesen.
R. R. fragt sich heute:
Daß - damals - "ein ehemaliger Heimzögling
noch als Jugendlicher zu Herrn K. in die Wohnung im
Kinderheim zieht und mit diesem zusammen lebt", wundert ihn
heute noch. Bemerkenswert ist, daß dieser Junge, so der
Diplom-Psychologe, mit anderen Heimkindern in der Wohnung des
Priesters Pornofilme angeschaut habe.
Der Priester erklärte hierzu später, der Kontakt zu
dem Jungen sei moralisch einwandfrei gewesen:
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Hilferuf an Weihbischof Wolfgang Kirchgässner
Dem Weihbischof Wolfgang Kirchgässner vom
Erzbischöflichen Ordinariat Freiburg, dem Träger der
Einrichtung, schrieb der Diplom-Psychologe kurz vor seinem
Ausscheiden aus der Einrichtung einen Brief - und erwähnte
die "untragbare Situation hier im Haus": "In
der Folge wurde mir selbst grundlegende psychologische Arbeit wie
zum Beispiel Elternarbeit, Arbeit mit ErzieherInnen oder Kontakte
mit zuständigen Jugendämtern nur noch möglich,
wenn ich bereit war, mich massiven Angriffen der Geschäftsleitung
auszusetzen. Daß mir dann sogar vorgeworfen wurde, ich sei
bei den ErzieherInnen beliebt und zu aktiv als Diplom-Psychologe,
mag vielleicht eher eine humurvolle Komponente haben. Das
Arbeiten in Ihrem Kinderheim wurde mir mit diesen, aber auch mit
vielen anderen Vorfällen so unerträglich gemacht, daß
ich eine Arbeitsstelle verlassen muß, für die mich
auch die Heimleitung trotz aller Anfeindungen für
hochqualifiziert bezeichnet hat und mir ausdrücklich
erklärte, daß die Qualität meiner Arbeit und
meines Engagements außer jeglichem Zweifel sei."
Zum Schluß dieses Schreibens drückte er seine
Hoffnung aus, "daß mit diesem Brief das geschlossene
Schweigen durchbrochen wird und die im Haus verbliebenen
MitarbeiterInnen und Kinder bitter nötige Hilfe von ãaußenÒ
erhalten, die ihnen wieder Mut und Würde zurückgibt".
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Der Dipl.-Psychologe bekam vom Weihbischof, Wolfgang
Kirchgässner, keine persönliche Antwort. In seinem
Auftrag erwiderte ihm der Leiter der Abteilung Caritas und
Soziales des Erzbischöflichen Ordinariats Freiburg,
Domkapitular Dr. B. U., auf diesen Brief hin:
Daraufhin erwiderte R. R., sichtlich enttäuscht über
die Reaktion, kurz:
"Ihr Schreiben ist mir zugegangen und befremdet mich
insoweit, daß man fast der Meinung sein könnte, es
bestätige inhaltlich die Aussage von Herrn K., der im
Kinderheim gegenüber einem Erzieher die Aussagen mit
folgendem Inhalt machte:
».. und ans Ordinariat können Sie so viel
schreiben, wie Sie wollen. Glauben tun die eh nur mir. Bei der
Kirche ist es nämlich so wie auch beim Staat: Eine Krähe
hackt der anderen kein Auge aus.« Sollte dies also
tatsächlich so sein, daß Sie im Konfliktfall
blindlings den Heimleiter stützen, ohne den Nöten
anderer Gehör zu schenken, dann müssen Sie in jedem
Fall für die Mißstände im Kinderheim als
mitverantwortlich bezeichnet werden."
In einem später angefertigten Protokoll schreibt der
Diplom-Psychologe R. R. folgendes:
"Aus welchem Grund hält die Erzdiözese
Herrn K. noch immer in der gesamten Verantwortung für das
Kinderheim und setzt damit die Kinder unter Umständen
weiteren Mißhandlungen aus, signalisiert aber den Kindern
zumindest unmißverständlich, daß sie auch
weiterhin dem ausgesetzt sind, der sie geschlagen hat?"
In großer Sorge um die Kinder, aber auch der
MitarbeiterInnen schaltete er die Gewerkschaft Öffentliche
Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) in diese
Auseinandersetzung ein. In einem Schreiben an das Erzbischöfliche
Ordinariat Freiburg forderte die ÖTV Domkapitular Dr. U.
auf, bis zur Klärung der gegen den Priester gerichteten
Vorwürfe diesen von seinen Dienstpflichten zu entbinden.
In einem Erwiderungsschreiben räumte der Kirchenmann ein,
daß K. "einigen Kindern des Heimes eine Ohrfeige
gegeben hat". Doch trotz der von Dr. U. erwähnten
staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen den Priester hielt
das Erzbischöfliche Ordinariat unbeirrbar an dem Priester
fest und sprach von einer "gezielten Kampagne" eines
ehemaligen Mitarbeiters des Hauses:
"Unsererseits sehen wir keine unmittelbare
Veranlassung, Herrn Rektor K. von seinen Dienstpflichten zu
entbinden. In einer Gesamtbewertung der Ereignisse seit dem
letzten Jahr haben wir den Eindruck gewinnen müssen, daß
Herr K. auch das Opfer einer gezielten Kampagne ist, die von
einem ehemaligen Mitarbeiter des Hauses ausgeht. Wir werden uns
aber durch keinerlei Kampagnen unter Druck setzen lassen,
sondern mit Bedacht auf die entstandene Situation reagieren. Sie
dürfen davon ausgehen, daß unsere Entscheidungen von
der Sorge um das Gesamtwohl der Einrichtung getragen sind."
Die ÖTV schaltete daraufhin das Ministerium für
Familie, Frauen, Weiterbildung und Kunst in die
Auseinandersetzung ein und führte in einem u. a. aus:
"Es geht darum, daß nach Informationen von
verschiedenen Seiten von dem 68jährigen Rektor dieses
Heims, Pfarrer K., Kinder immer wieder gezielt und in
entwürdigender Weise geschlagen und getreten werden ...
Auch in Walldürn sind die Schläge weithin bekannt."
In dem Schreiben drückte die ÖTV auch Unverständnis
über die Reaktion des Erzbischöflichen Ordinariats aus:
"Die Haltung des Erzbischöflichen Ordinariats, hier
nicht einzugreifen, ist uns auch deshalb unverständlich,
weil Herr K. offensichtlich schon in früheren Zeiten durch
Schläge von Kindern in seiner Eigenschaft als Lehrer im
Jugenddorf Klinge aufgefallen sein soll. Ebenso sollen sich
Kinder des Heims bereits an die Heimaufsichtsbehörde gewandt
haben. Es werden zudem Vorwürfe erhoben, Kinder seien vom
Rektor zu Spenden für kirchliche Projekte gezwungen
worden." Das Ministerium forderte daraufhin das
Erzbischöfliche Ordinariat Freiburg zu einer Stellungnahme
auf. In einem Schreiben an das Ministerium unterstellte das
Erzbischöfliche Ordinariat der ÖTV, dieses "in
unrichtiger und unvollständiger Weise über Vorkommnisse
im Erzbischöflichen Kinder- und Jugendheim St. Kilian in
Walldürn und das Verhalten des Erzbischöflichen
Ordinariates informiert" zu haben. "In einer
Gesamtbewertung der Ereignisse sind wir deshalb zum damaligen
Zeitpunkt (im Mai 1995) zum Entschluß gekommen, Herrn K.
nicht zu suspendieren. Dieser hat aber inzwischen von sich aus um
seine Beurlaubung gebeten, bis die Anschuldigungen der
Körperverletzung in vier Fällen gerichtlich geklärt
sind. Mit Schreiben vom 4. Oktober 1995 haben wir diesem Ersuchen
entsprochen." Daß der Priester plötzlich
durch die Intervention des Ministeriums - freiwillig oder
unfreiwillig ? - um seine Beurlaubung vom Dienst gebeten hatte,
ist anzunehmen: Beide Schreiben, das an das Ministerium und das
an den Priester, tragen das gleiche Datum: 4. Oktober 1995.
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Erzbischöfliches Ordinariat hielte an dem Geistlichen
fest
Erstaunlich ist, daß das Erzbischöfliche Ordinariat
zu diesem Zeitpunkt (Oktober 1995) mindestens seit fünf
Monaten von den schwerwiegenden Vorwürfen und den
staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen den Priester Kenntnis
hatte und an dem Geistlichen als Heimleiter, Direktor und
Beichtvater unbeirrbar festhielt. Beachtenswert ist aber auch,
daß der Geistliche Rat kurz zuvor, im Jahre 1994, mit der
Konradsplakette des Erzbischöflichen Ordinariats Freiburg
ausgezeichnet worden ist. Das unbeirrbare Festhalten
des Erzbischöflichen Ordinariats an E. K. als Heimleiter,
Direktor und Beichtvater brachte letztendlich nichts: Mit einer
Geldstrafe in Höhe von DM 7 500 wegen körperlicher
Mißhandlung Schutzbefohlener in drei Fällen durch das
Amtsgericht Buchen belegt, hat dieser seinen endgültigen
Rücktritt erklärt.
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Die Staatsanwaltschaft Mosbach und das Amtsgericht Buchen
kamen zu dem Schluß, daß der Priester zumindest in
drei Fällen den Rahmen einer Erziehungsmaßnahme
"überzogen" habe. Und trotzdem erstaunt
die Vorgehensweise der Mosbacher Staatsanwaltschaft: Im Rahmen
des Strafermittlungsverfahrens gegen den Priester ging es u. a.
auch um folgende weitere strafbare Handlungen: "drei
Ohrfeigen zum Nachteil" des Kindes Norbert K. und "eine
Ohrfeige und Fußtritte zum Nachteil" des Kindes Mario
H.
Diese dem "Beschuldigten zur Last gelegten Taten"
sind, so die Staatsanwaltschaft Mosbach in ihrer - zeitgleich mit
dem ergangenen Strafbefehl - vollzogenen Einstellungsverfügung
vom 5. Oktober 1995, gemäß § 154 Abs. 1 StPO
(Strafprozeßordnung) eingestellt worden. Eine völlige,
der Strafprozeßordnung widersprechende (Fehl-)Entscheidung:
§ 154 Abs. 1 StPO setzt nämlich laut dem Kommentar zur
Strafprozeßordnung von Kleinknecht/Meyer-Goßner*
(*Fußnote: Kleinknecht/K. Meyer/L. Meyer-Goßner,
Strafprozeßordnung. Gerichtsverfassungsgesetz, Nebengesetze
und ergänzende Bestimmungen. Beck`sche Kurzkommentare 6, 42.
neu bearb. Aufl. München 1995) voraus, daß diese zur
Einstellung kommenden Tatvorwürfe "nicht beträchlich
ins Gewicht" fallen und die "materiell-rechtlichen
Strafzwecke in ihrem Kern nicht tangiert und nicht wesentlich
beeinträchtigt werden".
Immerhin handelt es sich hierbei um die Tatvorwürfe der
Körperverletzung und der Mißhandlung von
Schutzbefohlenen (§§ 223, 223 b StGB), die bei
Verurteilung zu einer höheren Geldstrafe bzw. einer
Gefängnisstrafe hätte führen können. Anders
ausgedrückt: Warum hat die Staatsanwaltschaft Mosbach, die
den Strafbefehl nur auf die von dem Priester "verteilten"
Ohrfeigen stützte, die strafrechtlich relevanteren und viel
schwerwiegenderen - von ihr aber eingestellten - Tatvorwürfe
nicht mit zum Gegenstand eines Strafbefehls erklärt oder -
sicherlich noch naheliegender - generell eine öffentliche
Anklage, die sicherlich zu einer öffentlichen
Hauptverhandlung geführt hätte, erhoben? Wollte -
möglicherweise - die Staatsanwaltschaft Mosbach im Interesse
des Priesters und der katholischen Kirche eine öffentliche
Hauptverhandlung um jeden Preis vermeiden?
Der zuständige Leitende Oberstaatsanwalt, Herr J.,
erklärt hierzu dem Autor mit Schreiben vom 25. Juli 1996,
daß "das Kind K. bei seiner Anhörung angab, der
Beschuldigte habe lediglich versucht, es zu ohrfeigen. Es habe
aber weglaufen können ...". Der Priester selbst
habe eine Körperverletzung bestritten. Diese
Darstellung steht im Widerspruch zu der von seiner Behörde
vollzogenen Einstellungsverfügung vom 5. Oktober 1995. Dort
ist von "drei Ohrfeigen" (Hervorhebung durch den Autor)
die Rede.
Im Falle des Kindes H., das als Zeuge erst gar nicht angehört
worden ist, erklärte der Leitende Oberstaatsanwalt,
"mit einer Wahrscheinlichkeit (hätte) lediglich
eine Körperverletzung zum Nachteil des Kindes H. in die
öffentliche Klage einbezogen werden können". Wohl
wissend, daß das Kind von dem Geistlichen - nach Angaben
von Zeugen, die davon gehört hatten - nicht nur geohrfeigt,
sondern auch getreten worden sein soll, fügt der Vertreter
der Staatsanwaltschaft, der sich die Frage stellen muß,
warum man das Kind nicht anhörte, rein vorsorglich hinzu:
"Daß dies zu einer erheblich höheren
Gesamtstrafe geführt hätte, als sie in dem
Strafbefehlsantrag niedergelegt ist, erscheint ausgeschlossen."
Dies ist eine kühne Behauptung, denn dem Ankläger
ist hinreichend bekannt, daß das Gericht "Herr des
Verfahrens" ist. "Im Hinblick auf diese
Sachlage", verteidigt er die zuständige Kollegin,
"halte ich die Entscheidung der Dezernentin, zugunsten einer
schnellen Erhebung der öffentlichen Klage auf eine weitere
Aufklärung zu verzichten, für vertretbar."
Die Fürsorgepflicht für den Priester scheint trotz
der Geldstrafe beim Erzbischöflichen Ordinariat ungebrochen
fortzubestehen: Der Geistliche, der nach Rechtskraft des
Strafbefehls auch weiterhin in dem Kinderheim wohnt, wurde mit
der seelsorgerischen Betreuung des Konvents der Mallersdorfer
Schwestern, die zahlreiche leitende Positionen auf den
Wohngruppen bis hin zur stellvertretenden Heimleiterin innehaben,
betraut. Domkapitular Dr. U. stellt zu dem Verbleib des
Priesters ausdrücklich fest:
"Im Entscheidungsprozeß aber werden wir nicht
unter Druck entscheiden, auch nicht, wer, wo und wie lange
wohnt."
Und in aller Deutlichkeit stellt er unmißverständlich
klar, daß "der Direktor K. (es) nicht verdient hat,
hier wie ein Hund davongejagt zu werden." Ungebrochen
scheint aber auch die für den Priester vorhandene kollegiale
Solidarität eines im Kinderheim tätigen Mitarbeiters,
von Beruf: Diplom-Psychologe, zu sein. Dieser Herr H. B. erklärte
in einen an den Diplom-Psychologen R. R. gerichteten Schreiben:
"Ich möchte Ihnen sagen, daß mich Ihre
Handlungsweise angewidert hat und daß Sie für mich
Ihre Reputation verloren haben ... Sie wissen genau, daß
Herr K. nicht der mit Vorliebe prügelnde Heimleiter ist,
als der er in der …ffentlichkeit hingestellt wurde."
Der Priester und Heimleiter selbst, dem die …TV auch
vorwarf, schon seit Ende der sechziger Jahre Kinder und
Jugendliche immer wieder "massiv getreten und geschlagen"
sowie Mitarbeiter "entwürdigend" behandelt zu
haben (das Erzbischöfliche Ordinariat in Freiburg bestritt
die von der ÖTV in diesem Zusammenhang aufgestellte
Behauptung, sie habe Kenntnis von solchen Vorfällen und sei
untätig geblieben), rechtfertigte die körperliche
Mißhandlung von Kindern, soweit er sie gegenüber der
Staatsanwaltschaft einräumte, "als pädagogische
letzte Maßnahme". Der Geistliche kennt offenbar keine
wie auch immer geartete Reue: Nicht als Täter, sondern als
Opfer sieht er sich: "als Opfer einer Machenschaft, als
Opfer einer Kampagne, die bis in die Privatsphäre geht".
Noch schlimmer: "Jetzt werde ich als massiver Schlägertyp
dargestellt."
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Schwester D. wurde aufgefordert, Züchtigungen zu
unterlassen
Nach einer mir vorliegenden eidesstattliche Versicherung soll
selbst die Schwester Oberin in einem Fall im Unterricht die Hand
gegen ein Kind erhoben haben: Vor allen Kindern habe sie einen
Jungen geohrfeigt. Ende Oktober 1996 leitete die
Staatsanwaltschaft Mosbach gegen die Oberin des Schwesterkonvents
und stellvertretende Heimleiterin Schwester D. ein
Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Mißhandlung
Schutzbefohlener ein. Im Mai 1997 wurde das Verfahren nach
Zahlung einer Geldauflage von DM 300 eingestellt. Schwester D.
habe, so die Staatsanwaltschaft in ihrer Einstellungsverfügung,
ein Kind geohrfeigt, "die eine Gesichtshälfte war
danach gerötet"; einem anderen Kind habe sie "ca.
3-4 Sekunden an den Ohren gezogen". Ein anderes Kind, so ist
es der Einstellungsverfügung zu entnehmen, gab an, "ab
und zu von der Beschuldigten an den Ohren gezogen worden zu sein,
wie oft dies geschehen sei, wisse er nicht mehr; er habe dies
jedoch nicht als schlimm empfunden. Bezüglich dieser
weiteren Vorfälle war eine für eine Anklageerhebung
ausreichend konkretisierbare Tat nicht nachweisbar, da W. sich
weder an Ort und Zeit noch an genauere Einzelheiten erinnern
kann". Die Identität eines anderen Kindes, dem
Schwester D. "einmal an den Haaren gezogen haben soll",
konnte nicht ermittelt werden. Das Sozialministerium
Baden-Württemberg teilte dem Autor in dieser Sache durch
Schreiben vom 19. August 1997 mit: Schwester D. sei zu den
Vorwürfen gehört worden. "Hierbei wurde sie
aufgefordert, körperliche Züchtigungen in Zukunft zu
unterlassen." Schwester D. "sagte zu, dies künftig
zu beachten". Nicht nachvollziehbar ist, daß alleine
aufgrund dieser Zusicherung das Sozialministerium erklärte:
Schwester D. kann "nach unserer Auffassung in ihren
Funktionen belassen werden".
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Der Autor, der sehr intensiv recherchierte, hat
absichtlich so ausführlich von den differenzierten Vorgängen
um diese Anklage berichtet, um zu zeigen, wie schwer eine
Aufklärung von derartigen Geschehnissen gemacht wird. Es
geht ihm vor allem auch um die institutionalisierten
Machtstrukturen, die bei allen Beteiligten große Ängste
hervorrufen können; aus diesem Grund werden einzelne
Personen nur mit den Anfangsbuchstaben ihres Namens bezeichnet.
Doch nur wenn Sachverhalte der beschriebenen Art offen dargelegt
werden, können Mißstände überhaupt erst
durchschaubar und erkannt werden.
Die hier beschriebenen unmenschlichen Zustände legen
Zeugnis dafür ab, daß die "Schwarze Pädagogik"
immer noch Teile unseres Erziehungssystems beherrscht und nicht
der Vergangenheit angehört. Sie wird eben oft noch
unverhohlen und bewußt gegen Kinder und Jugendliche
eingesetzt. Hierbei spielt es überhaupt keine Rolle, ob die
"Täter" und "Täterinnen" aus dem
konfessionellen, privaten oder staatlichen Heimbereich oder aus
dem familiären Umfeld kommen: Opfer sind auch weiterhin
junge Menschen, die der psychischen und physischen Gewalt,
Erniedrigung, Demütigung und den hiermit verbundenen
Schmerzen, Trauer, Einsamkeit und traumatischen Erlebnissen der
"Schwarzen Pädagogik" hilflos und wehrlos
ausgesetzt sind.
"Das (...) zum Ausdruck kommende Anliegen, den
Schutz von Kindern vor Mißhandlung und/oder sexuellem
Mißbrauch zu verbessern, wird von mir rückhaltlos
geteilt... Entgegen Ihrer rechtspolitischen Ansicht sehe ich
jedoch keinen Handlungsbedarf durch Änderung der §§
258, 13 oder 138 StGB für verantwortliche Mitarbeiter in
Heimen eine strafbewehrte Anzeigepflicht für
Körpermißhandlungen und/oder sexuellen Mißbrauch
an in diesen Heimen untergebrachten Kindern zu schaffen..."
Peter Caesar Landesjustizminister von Rheinl.-Pfalz
3 Die Nichtanzeige eines Kindesmißbrauchs
erfüllt keinen Straftatbestand - oder: Kartell des
Schweigens
Wie sieht die strafrechtliche Bewertung aus, wenn Heimträger,
Heimleitung und Geschäftsführung über ausreichende
Kenntnisse hinsichtlich schwerer Mißhandlungen -
einschließlich sexueller Mißbrauch - an Kinder und
Jugendlichen verfügen und die Strafverfolgungsbehörden
nicht durch entsprechende Anzeigen einschalten? Anders gefragt:
Liegt ein strafbewehrtes Verhalten der Verantwortlichen vor, wenn
sie, wie insbesondere die Fälle St. Josephshaus und St.
Josef-Stift zeigen, keine Anzeige erstatten und somit eine
mögliche weitere Gefährdung der ihnen anvertrauten
Schutzbefohlenen billigend in Kauf nehmen? Und: Gerät nicht
zwangsläufig die gesamte Heimerziehung in Verruf, wenn weder
die Strafverfolgungsbehörden, noch die …ffentlichkeit,
noch das zuständige Landesjugendamt - Heimaufsicht - im
Rahmen der vorgeschriebenen Meldepflicht durch die
Verantwortlichen, aber auch durch »untergeordnete«
MitarbeiterInnen Aufklärung erfahren?
Der Autor hat sich sehr intensiv mit dieser Rechtsfrage
beschäftigt: Die Nichtanzeige von Gewalttaten - konkret:
Körpermißhandlung, seelische Mißhandlung und
sexueller Mißbrauch - an Kindern und Jugendlichen in der
Heimerziehung erfüllt keinen Straftatbestand!
Im Rahmen massiver Auseinandersetzungen, insbesondere zwischen
dem Autor und dem Bistum Mainz, hatten die Verantwortlichen
einräumen müssen, über ausreichende Kenntnisse zu
verfügen, wonach ein Teil der ihnen anvertrauten
Schutzbefohlenen schlimmste Gewalt ausgesetzt gewesen sein
sollen. Noch schlimmer: Durch ein "Kartell des Schweigens"
hatten das Bistum Mainz und das St. Josef-Stift über die
(mutmaßlichen) Täter und Täterinnen einen Mantel
der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe ausgebreitet; sie
wurden "geschützt" und zunächst
weiterbeschäftigt mit der Folge, daß die ihnen
anvertrauten Kinder und Jugendlichen - möglicherweise -
weiterhin der Gefahr wehr- und hilflos ausgesetzt gewesen sein
könnten, Opfer von Straftaten zu werden. Von einigen hat man
sich erst dann - in der Regel - durch Auflösungsverträge
getrennt, nachdem mutige MitarbeiterInnen (anonym) an die Presse
herangetreten sind. Die anderen hat man innerhalb der
Katholischen Kirche weiterbeschäftigt.
Es ist ein sozial- und rechtspolitischer Skandal, wenn sich
die verantwortlichen Heimträger - wie hier das Bistum Mainz
und die St. Josef-Stiftung Eisingen - nach dem öffentlichen
Bekanntwerden der von absoluter Gewalt geprägten "Schwarzen
Pädagogik", die in ihren Einrichtungen herrschte bzw.
geherrscht haben soll, auf diese Rechtslücke, den
"rechtsfreien Raum", die Regelungslücke zum
Straftatbestand der Strafvereitelung bzw. der Nichtanzeige von
Straftaten verschanzen (können), ohne strafrechtliche
Verfolgung befürchten zu müssen.
So verfaßte der frühere Justitiar der St.
Josef-Stiftung, N. S., eine Stellungnahme anläßlich
eines Pressegesprächs, das am 8. Oktober 1996 im St.
Josef-Stift Eisingen stattfand. Anlaß hierfür war das
Buch des Autors:Gestohlene Kindheit, in dem dieser bereits den
Fall St. Josef-Stift beschrieben hatte. Der Justitiar a.D.
reagierte u. a. auf dem Vorwurf des Autors, daß die
Verantwortlichen von schwesten Mißhandlungen Kenntnis
hatten und zunächst untätig blieben:
"Es ist abwegig, in diesem Zusammenhang den Vorwurf
der Strafvereitelung zu erheben. Die Geschäftsleitung hat -
unter rechtlichen Gesichtspunkten - richtig und mit der gebotene
Eile gehandelt. Eine Weitergabe detaillierter Informationen an
Außenstehende konnte mit Rücksicht auf den Schutz der
Behinderten und auf die der Geschäftsleitung und den
Mitarbeitern der St. Josef-Stiftung obliegenden Schweigepflicht
ohnehin nicht in Betracht kommen."
Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Würzburg
(Az.: 225 Js 19394/96) wegen Verdacht der Strafvereitelung gegen
mehrere Verantwortlichen der St. Josef-Stiftung in Eisingen, die
von Mißhandlungen Kenntnis hatten und diese nicht gegenüber
der Strafverfolgungsbehörde zur Anzeige brachte, ist
eingestellt worden. In der Einstellungsverfügung vom 04.
August 1997 steht wortwörtlich geschrieben:
"Den Beschuldigten liegt Strafvereitelung zur Last,
begangen dadurch, daß sie in ihrer jeweiligen Funktion in
der Leitungsebene des St. Josef-Stiftes in Eisingen von
Mißhandlungen bzw. Körperverletzungen z. N. der dort
untergebrachten Betreuten bewußt und trotz dieses Wissens
die Vorgänge nicht unterbunden bzw. die entsprechenden
Mitarbeiter nicht bei den zuständigen
Strafverfolgungsbehörden angezeigt hätten...
Der Tatbestand der Strafvereitelung, § 258 StGB, ist
nicht erfüllt."
In dieser Einstellungsverfügung wird unter Hinweis auf
eine dem Autor vorliegende BGH-Entscheidung zum § 258 StGB -
Strafgesetzbuch - (BGH, Urteil vom 30.04.1997 - 2 StR 670/96)
weiter vorgetragen:
"Geschütztes Rechtsgut des § 258 StGB ist die
staatliche Rechtspflege. Eine Garantenpflicht, d.h., die
Verpflichtung, für dieses Rechtsgut einzustehen, trifft nur
solche Personen, denen das Recht die Aufgabe zuweist, Belange der
Strafrechtspflege wahrzunehmen. Das bedeutete für das Delikt
der Strafverfolgungsvereitelung, daß für die Abwendung
des Vereitelungserfolges nur einstehen muß, wer von Rechts
wegen dazu berufen ist, an der Strafverfolgung mitzuwirken, also
in irgendeiner Weise dafür zu sorgen oder dazu beizutragen
hat, daß Straftäter nach Maßgabe des geltenden
Rechts ihrer Bestrafung oder sonstigen strafrechtlichen Maßnahmen
zugeführt werden. Als in der Leistungsebene eines
Behindertenheimes Tätige gehören die Beschuldigten
nicht zum Kreis derjenigen, denen die Strafverfolgung als
amtliche Aufgabe anvertraut ist, wie dies etwa bei Strafrichtern,
Staatsanwälten oder Polizeibeamten der Fall ist. Damit
begründet allein die Stellung in der Hierarchie des St.
Josef-Stiftes in Eisingen keine Garantenstellung der
Beschuldigten. Eine solche könnte sich allenfalls aus
sondergesetzlichen Vorschriften ergeben, wie dies etwa in §
40 WStG (Wehrstrafgesetz) geschehen ist. Eine vergleichbare
Rechtsgrundlage für eine Verpflichtung, Straftaten von
unterstellten Mitarbeitern anzuzeigen, existiert für den
Bereich von Pflegeheimen nicht."
Das Bistum Mainz hat über seinen Rechtsdirektor und
Justitiar, Herr H. B., der im Hinblick darauf, daß das
Bistum seit spätestens Anfang 1992 über ausreichende
Kenntnisse bezüglich der Mißhandlungsvorwürfe im
St. Josephshaus verfügte und nicht die Strafvollzugsbehörde
einschaltete, in den Mainzer Bistumsnachrichten vom 27. November
1996 erklärt:
"Der Vorwurf einer Strafvereitelung ist nicht begründet:
Das Unterlassen einer Strafanzeige ist nur dann strafbar, wenn
eine Rechtspflicht zur Anzeige besteht. Das ist nicht der Fall
gewesen, da die Entscheidung im Ermessen des Verwaltungsrates lag
und ein Ermessensmißbrauch nicht vorliegt."
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Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen gegen Bischof Lehmann
abgelehnt
Die Rechtsauffassung des Bistums Mainz wurde von der
Staatsanwaltschaft Darmstadt (10 Js 47586/96) vollinhaltlich
bestätigt: In einem Schreiben der Strafverfolgungsbehörde
vom 23. Februar 1997, in dem ein "Antrag auf Einleitung
strafrechtlicher Ermittlungen gegen den Bischof des Katholischen
Bistums Mainz, Dr. Karl Lehmann" eines früheren
Mitarbeiters der Einrichtung nicht entsprochen worden ist, ist
eine Art "Ehrenerklärung" für den Kleriker
enthalten:
"Nur im Blick darauf, daß der Beschuldigte sich
unter anderem auch gegen den Verdacht nach § 258 a StGB
(Strafvereitelung im Amt durch Nichtanzeige von Straftaten)
ausdrücklich verwahrt hat, sei abschließend bemerkt,
daß der Beschuldigte selbstverständlich nicht zu dem
in dieser Vorschrift angesprochenen Personenkreis gehört; ob
und gegebenenfalls wann er nach Kenntnis vom Verdacht auf
Straftaten seitens des Heimpersonals Strafanzeige hätte
erstatten sollen oder wollen, lag in seinem hier nicht zu
überprüfenden Ermessen."
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Das Verhalten der St. Josef-Stiftung und des Bistum Mainz
ist weder aus christlicher noch aus strafrechtlicher Sicht
akzeptabel. Hier geht es um (junge) Menschen, die sich in ihrer
Obhut befinden. Sie haben das Recht auf Achtung und
Unversehrtheit ihrer Menschenwürde. Sie haben somit auch das
Recht auf Schutz vor jeglicher Gewalt, auch in einem
konfessionell orientierten Heim. Diese im Grundgesetz und in der
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und
in der Konvention über die Rechte des Kindes verbrieften
Rechte werden mit Füßen getreten, wenn Heimträger
und (verantwortliche) Mitarbeiter in Heimen von
Körpermißhandlungen und/oder sexuellen Mißbrauch
an Kindern Kenntnis haben und, weil sie sich bei Nichtanzeige
nicht strafbar machen, hierüber schweigen (dürfen).
Und: Die Verantwortlichen bleiben oft untätig und schützen
nicht die Kinder, sondern die mutmaßlichen Täter und
Täterinnen. Dieser rechtspolitischer Skandal muß
im Interesse der Heimkinder schnellstmöglich beseitigt
werden. Der Autor denkt hier ausdrücklich an die noch nicht
vollzogene sechste Strafrechtsreform.
Der Autor hat den Bundesjustizminister, Schmidt-Jortzig, den
rheinland-pfälzischen Landesjustizminister Peter Caesar und
den bayerischen Staatsminister der Justiz, Hermann Leeb, mit den
Fällen St. Josephshaus und St. Josef-Stift konfrontiert und
um eine Stellungnahme gebeten; insbesondere zu seiner Forderung,
diesen rechtspolitischen Skandal durch eine entsprechende
Modifikation der StGB §§ 258 Abs. 1, 13 Abs. 1 oder 138
Abs. 1 StGB zu beheben.
Der Bundesminister der Justiz ließ dem Autor mit
Schreiben vom 18. September 1997 u.a. antworten:
"Die von Ihnen aufgeworfenen Rechtsfragen werden auch im
Bundesministerium der Justiz als rechtspolitisch bedeutsam
bewertet. Im einzelnen darf ich hierzu folgendes bemerken: Das
von Ihnen angesprochene Urteil des Bundesgerichtshofes vom 30.
April 1997 zur Frage einer möglichen Strafbarkeit von
Strafvollzugsbediensteten nach § 258 Abs 1, § 13 StGB
(Strafvereitelung durch Unterlassen) wegen der Nichtanzeige von
im Strafvollzug begangenen Straftaten ist hier bereits einer
ersten Prüfung unter dem Gesichtspunkt unterzogen worden, ob
gesetzgeberische Maßnahmen veranlaßt sind. Derzeit
wird die Problematik mit den Landesjustizverwaltungen erörtert.
Eine in diesem Zusammenhang diskutierte Gesetzesänderung
wäre die Statuierung einer speziellen Anzeigepflicht im
Strafvollzugsgesetz.
Von der Anwendbarkeit der §§ 258m 13 StGB auf
Strafvollzugsbedienstete zu trennen ist die allgemeinere
Problematik der Normierung von präventiv ausgerichteten
Meldepflichten im Hinblick auf Fälle sexuellen
Kindesmißbrauchs. Auch diese Frage ist derzeit Gegenstand
intensiver Beratungen zwischen Bund und Ländern. Gründlicher
Erörterung bedürfen dabei insbesondere die Fragen, ob
strafbewehrte Anzeigepflichten unabdingbar geboten sind.
Bejahendenfalls wäre die schwierige Frage zu entscheiden, ob
- wie von Ihnen vorgeschlagen - eine generelle strafbewehrte
Anzeigepflicht in Gestalt einer Erweiterung der
Ausnahmebestimmung in § 138 Abs. 1 StGB in Betracht zu
ziehen wäre, oder ob nicht spezielle Anzeigepflichten für
bestimmte betroffene Berufsgruppen genügten. Insoweit werden
im Moment beispielsweise im Hinblick auf den Bereich der
Jugendhilfe Änderungen im Sozialgesetzbuch VIII geprüft.
Sollte sich die Statuierung von Anzeigepflichten dagegen am Ende
nicht als sinnvoll erweisen, wäre für bestimmte
Berufsgruppen, die gemäß § 203 StGB
strafbewehrten Schweigepflichten unterliegen, an die
spezialgesetzliche Regelung (auch hier käme etwa das
Sozialgesetzbuch VIII in Betracht) von Anzeigebefugnissen zu
denken. Ich möchte Sie um Verständnis dafür
bitten, daß die abschließende Klärung der
angesprochenen Fragen noch eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen
wird und darf Ihnen gleichzeitig versichern, daß Ihr
Schreiben bei den noch anzustellenden †berlegungen
Berücksichtigung finden wird."
Der Landesjustizminister Peter Caesar antwortete mit Schreiben
vom 17. September 1997 dem Autor höchstpersönlich. Der
Minister sieht "keinen Handlungsbedarf", das
Strafgesetzbuch so zu ändern, daß die hier in Rede
stehende Nichtanzeige von Straftaten in Zukunft unter Strafe
gestellt wird:
"Zunächst möchte ich mich für Ihr
Schreiben herzlich bedanken. Das darin zum Ausdruck kommende
Anliegen, den Schutz von Kindern vor Mißhandlung und/oder
sexuellem Mißbrauch zu verbessern, wird von mir
rückhaltlos geteilt... Entgegen Ihrer rechtspolitischen
Ansicht sehe ich jedoch keinen Handlungsbedarf durch Änderung
der §§ 258, 13 oder 138 StGB für verantwortliche
Mitarbeiter in Heimen eine strafbewehrte Anzeigepflicht für
Körpermißhandlungen und/oder sexuellen Mißbrauch
an in diesen Heimen untergebrachten Kindern zu schaffen... (Ein)
Dienstvorgesetzter ist, soweit er nicht unter den Personenkreis
des § 258 a StGB fällt, nur dann verpflichtet,
Straftaten seines Untergebenen anzuzeigen, wenn ihm dies nach
pflichtgemäßem Ermessen geboten erscheint. Ein
Verstoß gegen diese Dienstpflicht kann als Dienstvergehen,
jedoch nicht als Straftat geahndet werden."
Die weitere Begründung seiner ablehnenden Haltung
gegenüber einer "Ausdehnung der Anzeigepflicht"
ist, wie insbesondere die Fälle Bistum Mainz und St.
Josef-Stiftung dokumentieren, nicht nachvollziehbar.
"Eine weitere Ausdehnung der Anzeigepflicht erachte
ich auch nicht als sinnvoll. Zum einen kann es im Einzelfall
gerade auch unter Berücksichtigung der Interessen des
Opfers eine schwerwiegende Entscheidung sein, ob Strafanzeige
erstattet werden muß oder nicht. Zum anderen soll
vermieden werden, daß nicht jedes strafbare oder nicht
strafwürdige Verhalten zur Erfüllung einer
vermeintlichen Anzeigepflicht den Ermittlungsbehörden zur
Kenntnis gebracht wird. In letzter Konsequenz könnte dies
auch dazu führen, daß sich ein Denunziantentum
ausbreitet, das weder im Interesse der Betroffenen noch der
Strafverfolgungsbehörden liegt und den Rechtsfrieden
nachhaltig stören würde."
Der bayerische Staatsminister der Justiz, Hermann Leeb,
ließ dem Autor - ausgehend von dem Fall St. Josef-Stift
Eisingen - mit Schreiben vom 19. September 1997 u.a. lapidar
antworten:
"Die Frage, ob Heimträger
und (verantwortliche) Mitarbeiter in Heimen, die Kenntnis von an
Kindern begangenen Straftaten haben, schweigen dürfen, geht
freilich über das Strafrecht hinaus. Auch die Frage, ob die
Beschuldigten weiterbeschäftigt werden können, ist
keine primär strafrechtliche Frage. Ich habe Ihr Schreiben
deshalb dem Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und
Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit zugeleitet."
"Isolierung, Hospitalismus und Autoritarismus sind
nur scheinbar ständige Probleme der Heimerziehung. Aber
ihre Gegenpole: Indifferentismus, Überforderung durch zu
frühe Freiheit und Autoritätsschwund sind ebenso
gefährlich."
Kurt Frör Die öffentliche
Erziehung als Beitrag zur †berwindung der Erziehungsnot,
in: AFET-Mitgliederrundbrief 1964, S. 34 f., hier: S. 35
4 Was dieses Buch will - oder: Die Rechte des
Kindes
Dieses Buch ist keine Anklage gegen die Heimerziehung:
Die "Anklage" richtet sich aber gegen die namentlich
bekannten Heime und die "namenlosen" Heime, in denen
junge Menschen Mißhandlungen aller Art hilflos und wehrlos
ausgesetzt sind - und wo leider immer noch die "Schwarze
Pädagogik" mit all ihren schlimmen Folgewirkungen für
die Betroffenen um sich schlägt.
Dieses Buch ist auch eine "Anklage" gegen die
Heimträger und die Verantwortlichen in Heimen, die zum
einen MitarbeiterInnen, die nicht schweigen und gegen die
Mißachtung der Menschenwürde von jungen Menschen
protestieren und Menschenrechtsverletzungen an die
Öffentlichkeit bringen (wollen), unter Hinweis auf ihre
sogenannte Schweigepflicht massiv mit arbeitsrechtlichen und
strafrechtlichen Konsequenzen bedrohen; und die zum anderen
Eltern, die sich gegen die Mißhandlung ihrer Kinder zur
Wehr setzen (wollen), mit der massiven Bedrohung entgegensetzen,
ihre Söhne und Töchter zu entlassen - und die Eltern
somit in der Regel erfolgreich zum Schweigen bringen.
Dieses Buch dient dazu, die Öffentlichkeit, aber
auch die MitarbeiterInnen konfessioneller, privater und
staatlicher Heime und alle anderen Institutionen, die
Verantwortung für die (Heim-)Erziehung tragen,
wachzurütteln.
Dieses Buch soll helfen, das Schweigen - der leider immer
noch überwiegenden Mehrheit - der Eltern, die von der
Mißhandlung ihrer Kinder erfahren, zu brechen; die aus
Angst stillhalten und dadurch das weitere Mißhandeln ihrer
Söhne und Töchter billigend in Kauf nehmen, weil sie
entweder die "Schwarze Pädagogik" dulden bzw. für
sich akzeptieren oder weil sie durch die massive Bedrohung der
Verantwortlichen (die wiederum um die Tatsache wissen, daß
es in der Regel für die betroffenen Eltern schwer ist,
einen neuen Heimplatz in der Nähe des Elternhauses zu
finden), ihre Kinder aus den Heimen zu entfernen, schweigen.
Dieses Buch ist aber auch für alle Erwachsenen
geschrieben, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben und
deren Kindheit, Menschenwürde, Wünsche und
Bedürfnisse, deren Gefühle und Autonomie respektieren.
Es soll sie bestärken, diesen Weg weiterzugehen. Hierbei
macht der Autor ausdrücklich überhaupt keinen
Unterschied, ob diese Erwachsenen in Familien oder in
konfessionellen, privaten oder staatlichen Heimen mit jungen
Menschen in Berührung kommen. Es gibt selbstverständlich
auch konfessionell orientierte Erzieher, Erzieherinnen, Nonnen
und Patres, die die vom Grundgesetz garantierte Menschenwürde
junger Menschen respektieren und diese nicht mit Füßen
treten.
Die Heimerziehung, die sich seit den siebziger Jahren zum
Teil Stück für Stück positiv verändert hat
(hierzu gehört auch das Entstehen von Kleinstheimen,
Außenwohngruppen, Jugendwohngemeinschaften), hat auch
weiterhin eine Existenzberechtigung, solange es keine
durchgreifenden Alternativen gibt: Die Heime sind für - im
Elternhaus - mißhandelte Kinder und Jugendliche die Ultima
ratio. Und solange junge Menschen mit der Heimerziehung in
Berührung kommen, haben sie - und das gilt
selbstverständlich auch für Kinder in anderen
außerfamiliären Einrichtungen und für Kinder in
Familien - das unwiderrufliche Menschenrecht auf Würde und
Unversehrtheit.
Auch für diese Kinder und Jugendliche gilt die 1989 von
den Vereinten Nationen verabschiedete Konvention über die
Rechte des Kindes. Jeder Staat, der diese Konvention ratifiziert,
verpflichtet sich, die dort festgelegten Rechte zu gewähren.
Hier ein Auszug: Kinder haben Rechte: Das Recht auf
Gleichheit, unabhängig von Rasse, Religion, Herkunft und
Geschlecht; das Recht auf eine gesunde, geistige und körperliche
Entwicklung; das Recht auf besondere Betreuung im Falle
körperlicher oder geistiger Behinderung; das Recht auf
Liebe, Verständnis und Geborgenheit; das Recht auf Schutz
vor Grausamkeit, Vernachlässigung und Ausbeutung; das Recht
auf Schutz vor allen Formen der Diskriminierung und auf eine
Erziehung im Geiste der weltweiten Brüderlichkeit, des
Friedens und der Toleranz.
Es ist Alice Miller vollinhaltlich zuzustimmen, die in ihrem
vielbeachteten Buch: Am Anfang war Erziehung schreibt:
"Solange das Kind als Container angesehen wird,
in den man unbeschadet alle »Affektabfälle«
hineinwerfen kann, wird sich an der Praxis der »Schwarzen
Pädagogik« nicht viel ändern. Zugleich werden
wir uns über die rapide Zunahme der Psychosen, Neurosen und
der Drogensucht bei Jugendlichen wundern, über die
sexuellen Perversionen und Gewalttätigkeiten empören
und entrüsten, Massenmorde als einen unumgänglichen
Teil unseres Lebens anzusehen."
Alexander Markus Homes*
* Über Reaktionen, Informationen, Berichte von
betroffenen (ehemaligen) Heimkindern und (ehemaligen) Erziehern
würde der Autor sich freuen (Anschrift: Alexander Markus
Homes, c/o Gerhard Hanenkamp Schulstr. 80, 26903 Surwold
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