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Manfred Kappeler, Erziehungswissenschaftler
"Gehorsam, Diziplin, Unterordnung"
Erziehungswissenschaftler zur Heimerziehung in der Nachkriegszeit von Karsten Deventer
In kirchlichen und staatlichen Heimen wurden bis in die 70er Jahre Kinder und Jugendliche oft seelisch und körperlich misshandelt sowie als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Der Erziehungswissenschaftler Prof. Manfred Kappeler beschäftigt sich seit Jahren mit diesem dunklen Kapitel der Heimerziehung. Er meint: "Es kann niemand sagen: Wir haben das nicht gewusst."
22.04.2008
Frontal21: Wir haben in den letzten Jahren viele Heimkinder kennengelernt, die von Demütigungen, Schlägen und Misshandlungen in Kinder- und Jugendheimen berichten - trotzdem sprechen die Verantwortlichen immer noch von Einzelfällen. Wie ist Ihre Meinung?
Manfred Kappeler: In den Heimen herrschte eine systematische Gewalt. Es lag in der Struktur der Einrichtungen, und es lag natürlich auch an der gesellschaftlichen Situation, in der diese Einrichtungen bestanden. Man muss aber auch sagen, dass es nicht Aufgabe der Jugendhilfe war, schlechte gesellschaftliche Verhältnisse zu verlängern, sondern ihnen zu begegnen.
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„Wenn Arbeit Erziehungsmittel ist, dann ist die Definition dessen, was Arbeit ist, den so genannten Erziehenden und ihrer Willkür überlassen.“
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Frontal21: Die Katholische Kirche spricht in einem internen Papier davon, dass Kinder und Jugendliche in den Heimen nicht als Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Sie sollten zum Beispiel in der Landwirtschaft mitgeholfen haben, und zwar in dem Maß, wie es zu dieser Zeit auch in Familienhaushalten üblich war.
Kappeler: Der Vergleich zwischen den Familienhaushalten und den Heimen kann nicht aufrecht erhalten werden, weil die Beiträge, die Kinder in einer Familie zum Haushalt leisten, in einer ganz anderen Situation von ihnen erbracht werden. Das ist die Familiensituation. Wenn die Verhältnisse einigermaßen intakt sind, dann gibt es darüber Absprachen. Der Unterschied ist, dass in den Heimen das Ganze unter Zwang geschieht, dass die Kinder ständig kontrolliert werden, und dass sie auch für alles, was den Aufsicht führenden Personen nicht passt, bestraft werden. Der Unterschied ist eben die straffe Disziplin, und dass eben in der Heimerziehung diese sehr strenge Arbeit als ein notwendiges Erziehungsmittel betrachtet wird, um die Kinder zu Disziplin, zur Ordnung, zur Sauberkeit und zum Fleiß zu erziehen, und damit wird Arbeit auf eine Ebene gebracht, die mit Arbeitsverhältnissen und Qualifizierung zu einer Berufsarbeit überhaupt nichts zu tun hat. Wenn Arbeit Erziehungsmittel ist, dann ist die Definition dessen, was Arbeit ist, den so genannten Erziehenden und ihrer Willkür überlassen. Und das haben die Kinder in den Einrichtungen natürlich gespürt.
ZDF
Auch Helmut Klotzbücher musste als Heimkind hart arbeiten.
Acht bis zehn Stunden am Tag schufftete er im Steinbruch.
Frontal21: In dem Papier der katholischen Kirche steht, dass die Arbeit in den damaligen Erziehungsheimen für Jugendliche eine "Arbeitstherapie" gewesen sein soll. Wie ist Ihre Einschätzung?
Kappeler: Also der Begriff Therapie hat da natürlich überhaupt nichts zu suchen. Wenn man von einem fachlichen Therapiebegriff ausgeht, da geht es ja um eine geschützte Atmosphäre, da geht es um viel Zeit und genaues Hinschauen, da geht es um starke, verlässliche Beziehungen. Das alles mit dieser Art von Zwangsarbeit in den Heimen zu verbinden, das kann man nicht mal euphemistisch nennen. Das ist eigentlich unglaublich, dafür diesen Begriff zu verwenden.
Frontal21: Zum Teil haben Jugendliche auch für Unternehmen gearbeitet, was wissen Sie davon?
Kappeler: Es gab diese Form der Leiharbeit, könnte man sagen, dass die Träger der Einrichtungen in den Einrichtungen selber in Absprache mit Industriebetrieben Produktionsstätten errichtet haben. Die Jugendlichen wurden dafür nicht entlohnt. Es gab keinen Arbeitsvertrag. Was sie verdient haben, bleibt in der Grauzone. Die Jugendlichen haben nie erfahren, was der Heimträger für ihre Arbeit, die sie leisten mussten, bekommen hat. Sie selber haben dafür nichts bekommen. Heute ist es außerordentlich schwierig, solche Sachen zu rekonstruieren, denn es lassen sich oft überhaupt keine Verträge, auch nicht zwischen den Einrichtungen und den ehemaligen Firmen finden. Allerdings gibt es jede Menge Hinweise in den Akten der jeweiligen Personen, dass sie solche Arbeit geleistet haben.
Interessant ist ja, dass dieser Arbeitsverdienst der Jugendlichen, dass das, was die Träger dafür bekamen, zur Senkung der Heimkosten benutzt wurde. Und das war auch schon in den 50er Jahren per Gesetz eindeutig ausgeschlossen. Da steht eindeutig drin, dass der Verdienst, den Jugendliche zum Beispiel im Rahmen der Fürsorgeerziehung haben, nur ihnen selber zugute kommen darf und nicht zur Senkung der Heimkosten verwendet werden darf.
Frontal21: Immer wieder hört man, dass die Erziehung in den Heimen den üblichen Erziehungsmethoden der 50iger und 60iger Jahre entsprachen - was sagen Sie als Wissenschaftler dazu?
Kappeler: Also, dass Gehorsam ein zentraler Wert aller Erziehung war, das ist zweifellos richtig. Aber wie das dann realisiert wurde in den einzelnen Familien, in denen die Kinder aufgewachsen sind, das sah dann doch ganz anders aus als mit dieser starken Zucht und dieser Kontrolle und Disziplinierung in den Heimen. Und deswegen ist das ein sehr fragwürdiger Vergleich, der meines Erachtens nur den Sinn hat zu sagen: so war eben der Zeitgeist, und es konnte nicht anders sein, und damit ist jede Verantwortung vom Tisch und man ist aus dem Schneider, und braucht sich zu nichts mehr stellen. Das ist der Sinn dieser Geschichte. Die Jugendhilfe, das zeigen die Gesetze, hatte aber ganz klar den Auftrag, die oft sehr schlechten Erziehungsverhältnisse, aus denen die Kinder und Jugendlichen in der Heimerziehung kamen, nicht zu verlängern und noch weiter zu verschärfen, sondern ihnen eine Alternative zu bieten, und insofern ist diese Rede unter sozialpädagogischen Gesichtspunkten überhaupt nicht zu akzeptieren.
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„Postfaschistische Tradition bedeutet, dass die Erziehungs- auffassungen der Nationalsozialisten in der Jugendhilfe und ihren Einrichtungen weitergelebt haben nach 1945 und zwar bis in die 70er Jahre hinein.“
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Frontal21: Wir wissen von verschiedenen ehemaligen Heimkindern, dass sie an Orten gearbeitet haben, die vorher von den Nationalsozialisten schon für Zwangsarbeit benutzt haben [ sic = wurden ]: Gibt es da eine Tradition?
Kappeler : Ja. Es gibt einmal die Kontinuität an den Orten, in den Einrichtungen. In denselben Gebäuden, in denselben Mauern haben vorher KZ-Häftlinge gearbeitet, hat es schon vor 1933 Arbeitshäuser gegeben. Diese Kontinuität ist da, aber noch interessanter ist natürlich die personale Kontinuität. In den Köpfen ist das einfach weitergelaufen in diesem System. Postfaschistische Tradition bedeutet, dass die Erziehungsauffassungen der Nationalsozialisten in der Jugendhilfe und ihren Einrichtungen weitergelebt haben nach 1945 und zwar bis in die 70er Jahre hinein. Erst durch die Heimkampagne des Jahres 1968 und in den Jahren danach wurde Licht in dieses Verhältnis gebracht. Das waren die Erziehungsauffassungen in Bezug auf Gehorsam, Disziplin, Unterordnung. Das war natürlich auch die Nicht-Anerkennung eines Kindes als Individuum, als Subjekt. In diesem postfaschistischen System wurden die Kinder zu Objekten der Willkürmaßnahmen der Erzieher und es gab natürlich überhaupt keine Vorstellung von demokratischer Mitbestimmung, Selbstbestimmung.
Es gibt übrigens eine Fülle von Untersuchungen, von Berichten, von Materialien, die alle diese Zustände schon in den späten 40er Jahren thematisieren, dokumentieren. Und es kann niemand sagen: Wir haben das nicht gewusst. Die Debatte darüber ist jungendhilfeintern immer gelaufen. Und deswegen ist es sehr eigenartig, wenn heute Spitzenvertreter von großen Wohlfahrtsverbänden und von Landesjugendämtern sagen: Ja, tut uns leid. Bedauerlich, aber das System war in Ordnung. Das kann ich nur als eine Abwehrstrategie begreifen.
Frontal21: Die ehemaligen Heimkinder fordern Entschädigungen für ihre nicht bezahlte Arbeit und die Rentenausfälle. Ist eine Forderung nach Entschädigung realistisch?
Kappeler: Diese Forderung ist notwendig, und sie ist selbstverständlich. Also von Seiten derjenigen, die die Forderung stellen, ist das ein ganz entscheidender Schritt, diesen Mut aufzubringen, in die Öffentlichkeit zu gehen, und diese Forderungen zu stellen, weil diese Forderungen ja auch abgewehrt werden. Und sie müssen erleben, dass das, was sie erlebt haben und worüber sie öffentlich berichten, wieder in Frage gestellt wird, und dass Ihnen mit tausend Zweifeln begegnet wird.
Was die Heimkinder brauchen, sind politische Lösungen, und die halte ich für möglich. Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags wird in diesen Tagen abschließend die verschiedenen Anhörungen auswerten und dem Bundestag einen Bericht vorlegen mit Vorschlägen, und der Bundestag muss dann der Regierung Vorgaben machen, wie damit umgegangen werden soll. Ich glaube, dass eine der schnellsten und auch moralisch effektivsten Lösungen wäre, ein Stiftungsmodell zu wählen wie bei den NS-Zwangsarbeitern, und in diese Stiftung müssten die Beteiligten, die großen Träger, Caritasverband, Diakonisches Werk, die Landesjugendämter Gelder einzahlen. Aus dieser Stiftung müssten dann den betroffenen Antragstellern schnell und unbürokratisch geholfen werden. Der Heimkinderverein selber hat letztens gesagt, wir geben uns und der Gesellschaft noch drei Jahre Zeit, also bis 2011. Und in dieser Zeit wollen wir, dass sich die Gesellschaft dieser Verantwortung stellt. Am Anfang müsste aber eine völlig vorbehaltlose und ernst gemeinte Entschuldigung der Kirchen, der großen Wohlfahrtsverbände und des Bundestages stehen, in der dieses Leid anerkannt und den Opfern ihre Würde zurückgegeben wird.
Fronatl21: In der DDR gab es die so genannten Jugendwerkhöfe, zum Beispiel in Torgau. Jugendliche aus diesen Heimen wurden nach der Wende entschädigt. Weshalb dieser Unterschied zu der Behandlung der Heimkinder in Westdeutschland?
Kappeler: Meine These lautet: Dieses Kapitel der bundesrepublikanischen Geschichte ist eben ein Kapitel, das diesen Mythos von der demokratischen, auf der Grundlage von Menschenrechten sich entwickelnden Bundesrepublik auch in Frage stellt. Es ist ein Teil, der überhaupt nicht mit diesem Selbstbild und diesem Selbstverständnis in Einklang zu bringen ist. Und ich erlebe das ja immer wieder bei meinen Diskussionen, dass mir gesagt wird: Sie wollen doch wohl nicht die Bundesrepublik mit der DDR vergleichen. Oder noch schärfer, wenn ich von dem postfaschistischen System rede: Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass es in der Bundesrepublik so weitergegangen ist wie im Nationalsozialismus. Also dieser Versuch, den bundesrepublikanischen Weg als einen von den Menschenrechten geleiteten und von der Menschenwürde bestimmten zu stilisieren, dieser Versuch wird natürlich durch diese ganze Geschichte stark in Frage stellt. Und hier gibt es große politische Widerstände.
Frontal21: Was berührt Sie in dieser ganzen Problematik der Heimkinder eigentlich am meisten?
Kappeler: Das Schlimmste ist die systematische Demütigung, die die Kinder und Jugendlichen erfahren mussten, mit Folgen für das ganze Leben. Die ständige Ansprache: Du bist nichts wert; Dir kann man nicht glauben; Du wirst es sowieso nicht schaffen; Du bist ein Versager; Du bist verwahrlost; Du bist ein Kinde der Sünde, die den Alltag der Kinder bestimmten - das ist furchtbar. Da fehlen mir manchmal die Worte. So systematisch und ununterbrochen gedemütigt zu werden, wo man dann eigentlich nur noch im Widerstand und in der Rebellion seinen Selbstwert oder sein Selbstbewusstsein entwickeln kann, und dann dafür aber extrem bestraft wird, das ist einfach das Schreckliche. Man kann über viele einzelne dieser Dinge reden, aber das Schreckliche ist die Gesamtheit dieser Erfahrungen, und der konnte sich kaum ein Kind entziehen.
Viele, viele haben sich einfach versteckt in der Gesellschaft, haben die Zeit zugedeckt und verdrängt, nicht einmal mit ihren engsten Angehörigen darüber geredet. Deswegen ist es auch so schwer, aus dieser lebenslangen Erfahrung von Demütigung und Geringschätzung auszubrechen und jetzt zum Beispiel öffentlich darüber zu reden.
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