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Panorama
Drei Geschwister an einem Tisch sprechen über ihr gemeinsames Schicksal.
Die verdrängte Gewalt
VON SUSANNE ROHLFING, 03.08.06, 06:57h
Die Geschwister Schlößer verloren ihre Eltern, als sie klein waren, und dann den Glauben an die Religion.
Marlene Schlößer steht gern früh auf, auch am Wochenende. Sie geht Brötchen holen und die Zeitung, bereitet das Frühstück vor und schleicht sich dann wieder zu ihrem Mann ins Schlafzimmer. Kurz hinter der Tür macht sie Halt und ruft leise: „Heinz!“ Ihren Heinrich sanft wach zu rütteln hat Marlene Schlößer sich in 47 Ehejahren abgewöhnt. Als sie es am Anfang der gemeinsamen Zeit mal versucht hat, schlug er wild um sich, „da bin ich fast unter dem Bett gelandet“, erinnert sich die 65-Jährige. Sie tat seine Eigenart als „eine kleine Macke“ ab. So etwas soll es ja geben bei Ehemännern.
Erst seit drei Jahren weiß Marlene Schlößer, dass die Schreckhaftigkeit ihres Mannes eine furchtbare Ursache hat. „Jede Berührung bedeutete früher direkt Kawalla“, sagt Heinrich Schlößer. Noch heute benutzt der 70-Jährige die Worte eines Kindes, um Misshandlungen zu beschreiben, die sein Unterbewusstsein nicht vergessen kann. Von 1941 bis 1950 lebte er in Kinderheimen in und um Köln unter der Obhut von Schwestern aus dem Orden der Borromäerinnen. Seine Mutter war bereits tot, als der Vater 1941 im Krieg fiel.
Für den Fünfjährigen und seine beiden Schwestern Elisabeth (damals sechs Jahre alt) und Betty (drei) war die unbeschwerte Kindheit abrupt vorbei. Es folgten Jahre, in denen Schläge und seelische Grausamkeiten für die Geschwister aus Köln an der Tagesordnung gewesen seien. Lange hat Schlößer das Erlebte verdrängt, nicht darüber gesprochen, versucht, nicht daran zu denken.
Erst als „Spiegel“-Autor Peter Wensierski 2003 mit einem Artikel über die skandalösen Zustände in deutschen Erziehungsheimen in den 50er und 60er Jahren das Thema öffentlich machte, ließ Schlößer die Erinnerungen wieder zu und erzählte seiner Frau seine Geschichte in voller Ausführlichkeit. Als der „Kölner Stadt-Anzeiger“ im Februar 2004 von ehemaligen Heimkindern aus Eschweiler berichtete, die ihre Misshandlung öffentlich gemacht hatten und daraufhin von dem betroffenen Orden und der Kirchengemeinde wegen des Verdachts auf Betrug angezeigt worden waren (Siehe „Betroffene klagen“), kam in Heinrich Schlößer eine vergessen geglaubte Wut hoch: „Sicherlich haben auch andere Kinder zu der Zeit Prügel bekommen. Aber was mich aufregt, ist, dass die Nonnen das abstreiten und sich Rechtsanwälte leisten, anstatt einmal zuzugeben, dass das damals so war.“ Wenn er öffentlich von seiner Vergangenheit erzählt, gehe es ihm nicht um Schadenersatz, sagt Schlößer, „es geht nur darum, zu zeigen, was sich die Kirche da geleistet hat“.
Die ewigen Prügel der Nonnen und Erzieherinnen haben ihm den Glauben genommen. „Aber das ist bei mir nicht so schlimm“, sagt Schlößer augenzwinkernd. „Ich habe in meiner Jugend so viel gebetet: Vor dem Aufstehen, nach dem Aufstehen, vor dem Frühstück, nach dem Frühstück, vor jeder Stunde, nach jeder Stunde. Ich glaube, das reicht noch für die nächsten 50 Jahre.“
Seinen Humor hat er sich irgendwie bewahrt, trotz der drakonischen Erziehungsmethoden. Wenn Heinrich Schlößer als kleiner Junge ins Bett gepinkelt hatte, bekam er Schläge - „und je mehr Prügel er bekommen hat, umso mehr hat er ins Bett gemacht“, erinnert sich seine Schwester Betty. Es kam auch vor, dass sich der kleine Heinrich am Morgen mit dem Laken auf den Hof stellen und warten musste, bis es getrocknet war.
Mit den Rohrstäben aus den Betten gab es Schläge auf die Hände. „Irgendwann hat uns das nichts mehr ausgemacht, wir kriegten es ja jeden Tag, dann mussten wir die Hände anders halten.“
Schlößer beklagt sich nicht, er berichtet ganz nüchtern, fast schon ein bisschen sarkastisch. Es habe auch Schläge auf die Waden oder ins Kreuz gegeben, „oder auch mal Gruppenkeile“: Dabei wurden die Jungs in zwei Reihen aufgestellt, und Heinrich Schlößer musste durch die Gasse laufen. „Jeder durfte schlagen und treten.“ Warum? „Weil den Nonnen wieder irgendetwas nicht gepasst hat.“
Den Mädchen wurde Unkeuschheit vorgeworfen, wenn sie mit den Händen unter der Bettdecke schliefen. „Es war ja kalt“, sagt Schlößers Schwester Betty. „Und dann haben wir Prügel bekommen, aber wir wussten gar nicht, was »unkeusch« bedeutet.“ Noch heute liege sie mit den Händen auf der Decke im Bett.
Nach seinem Artikel im „Spiegel“ erreichten Peter Wensierski unzählige Zuschriften ebenfalls Betroffener, die ihn veranlassten, ein Buch zu schreiben. Es erschien im Februar 2006 unter dem Titel „Schläge im Namen des Herrn“. Wensierski glückte mit dieser Veröffentlichung, was Alexander Markus Homes, einem Betroffenen, in 25 Jahren als Autor zu eben diesem Thema nie gelungen war: Die Kirche gestand ihre Schuld ein, zumindest ansatzweise.
Homes war bei seiner ersten Veröffentlichung im Jahr 1981 mit rechtlichen Schritten gedroht worden. In einem Vergleich vor dem Landgericht Wiesbaden einigte man sich schließlich darauf, dass er den Hinweis anfügte, die dargestellten Zustände seien „verfremdet und literarisch verarbeitet“. „Der Homes wurde offenbar nicht ernst genommen“, sagt der Autor heute selbst, „das konnte man mit dem Spiegel natürlich nicht machen“.
Im Gegenteil: Sowohl evangelische als auch katholische Kirchenvertreter äußerten erstmals Betroffenheit. Bischof Wolfgang Huber, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), sprach von einer „erschreckenden Unfreiheit“, die damals geherrscht habe. „Es erfüllt uns mit Scham, was dabei zutage tritt. Aber wir dürfen uns davor nicht verschließen; denn wenn dieses Unrecht nicht beim Namen genannt wird, wird die Würde der betroffenen Menschen heute genauso verletzt wie damals.“
In kleinen Fachkreisen sei das Thema auch schon vor Jahren besprochen worden, sagt Marlene Rupprecht, die Kinderbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, „aber das haben nicht viele zur Kenntnis genommen“. Erst jetzt seien auch Kirchenvertreter zum ersten Mal bereit, das vergangene Unrecht zu diskutieren.
Auch der Bundestag will sich nun mit dem Thema befassen. Im Herbst solle es vor dem Petitionsausschuss eine öffentliche Anhörung Betroffener geben. Es gehe um rentenrechtliche Fragen (viele Betroffene wurden jahrelang als Arbeitskräfte ausgebeutet), sagt Rupprecht, und darum, ob die ehemaligen Heimkinder ein Anrecht auf Opferentschädigung haben. Es müsse geklärt werden, „wer wofür welche Verantwortung hatte oder hat“. Ob es sich um Einzelfälle oder um eine „geduldete, permanente Verletzung von Menschen- und Persönlichkeitsrechten“ gehandelt habe. Und ob sich Deutschland ein Beispiel an Irland und Kanada nehmen sollte. Dort wurden von Kirche und Staat Fonds zur finanziellen Entschädigung der Opfer eingerichtet.
Frühe Traumatisierungen kämen oft im Alter wieder hervor, „die betroffene Generation ist jetzt dran“, sagt Rupprecht. „Manche haben das verarbeitet, andere haben es nicht gepackt, die gehen dabei drauf.“
Die Geschwister Schlößer haben sich durchgebissen. Alle drei haben eine Berufsausbildung abgeschlossen und geheiratet, die beiden Schwestern haben Kinder. Doch das Verhältnis der drei untereinander war jahrelang nicht besonders innig. Nur selten standen sie in Kontakt. „Das Bedürfnis war nicht da, früher durfte man ja nicht. Sich zu treffen, war immer mit Gefahr verbunden“, sagt Heinrich Schlößer. Auch das Vermächtnis einer grausamen Kindheit.
Peter Wensierski: „Schläge im Namen des Herrn“ (Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006, 300 Seiten, 19,90 Euro)
Alexander Markus Homes: „Heimerziehung: Lebenshilfe oder Beugehaft. Gewalt und Lust im Namen Gottes“ (Books on Demand, Norderstedt 2006, 22 Euro)
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