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19.12.2006
Heimkinder
Helft,
jetzt !
Von
Tissy Bruns
Auch in
katholischen Heimen für Kinder und Jugendliche hat es das
gegeben: Demütigung, Misshandlung, drakonische Strafen. Der Satz
ist kein Schuldbekenntnis aus Irland, er steht im aktuellen
Caritas-Jahrbuch. Wie irische Kinder gelitten haben in kirchlichen
Heimen, hat ein bewegender Film der deutschen Öffentlichkeit
bekannt gemacht. Aber auch die Bundesrepublik trägt an einer
Geschichte verborgenen Unrechts, an dem kirchliche und staatliche
Einrichtungen beteiligt waren.
Das Schicksal der deutschen
Heimkinder der 50er und 60er Jahre ist zweimal verdrängt worden.
Das erste Mal, als sie, oft aus nichtigen Anlässen, einer
erniedrigenden, prügelnden Fürsorge anvertraut wurden. Und
noch einmal, nachdem unter dem Einfluss der 68er-Bewegung in den 70er
Jahren die Heimerziehung umgekrempelt worden ist. Bessere
Verhältnisse kehrten ein. Doch die oft lebenslangen Folgen der
Jahre in Freistatt im Teufelsmoor, im Dortmunder Vincenz-Heim oder im
hessischen Kalmenhof mussten die Betroffenen allein ertragen. Keine
Bitte um Entschuldigung, keine materielle Wiedergutmachung, keine
Ächtung dieser Praxis. Stattdessen Scham, Verdrängen,
Vergessen.
Zweieinhalb lange, manchmal beklemmende Stunden hat
sich der Petitionsausschuss des Bundestags vor einer Woche nun
Lebensgeschichten der Frauen und Männer angehört, die sich
hinter dem Satz aus dem Caritas-Jahrbuch verbergen: Kinderarbeit,
Prügel, Isolation und willkürlicher Essensentzug, sexueller
Missbrauch, sedierende Medikamentengabe, Hospitalisierung von
Kleinkindern. Und erniedrigende Botschaften, die Kinder und
Jugendliche zu einem wertlosen Nichts herabgewürdigt haben.
Es
sind Geschichten, die man nicht glauben möchte, die
Abwehrreflexe hervorrufen. Sind es Einzelfälle, Ausnahmen? Es
stimmt, dass nicht in allen Heimen dieser Zeit solche Zustände
geherrscht haben. Aber die Recherchen, die Peter Wensierski in seinem
Buch „Schläge im Namen des Herrn“ Anfang dieses
Jahres zusammengetragen hat, die Arbeit des Vereins der ehemaligen
Heimkinder, schließlich die offiziellen Akten der beteiligten
Institutionen sprechen eine klare Sprache. Es handelt sich nicht um
Einzelfälle. Es geht nicht nur um die Folgen eines autoritären
Zeitgeistes, der Prügel ganz normal fand.
Der Befund
lautet: In kirchlichen und staatlichen Heimen ist es damals zu
fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen an Kindern gekommen. Es gab
Akten und Schriftverkehr über prügelnde Erzieher, das
Versagen der Aufsicht, eine unentrinnbare Rechtlosigkeit von
wehrlosen Schutzbefohlenen. Es finden sich Ursachen im Geist dieser
Zeit: ein autoritäres Erziehungsverständnis, Kontinuitäten
zur Nazi-Diktatur, die materielle, persönliche, moralische
Überforderung von Eltern, Erziehern oder Heimleitern, die auf
der Schattenseite des aufstrebenden Wirtschaftswunderlandes lebten.
Rechtfertigen lässt sich damit aber nichts. Denn mit den
besonderen Umständen jener Zeit ist die eigentliche Versuchung
nicht untergegangen. Sie ist, im Gegenteil, zeitlos, die öffentliche
Doppelmoral, die, wenn es die Umstände fordern oder nur
ermöglichen, ihre Unzulänglichkeiten auf dem Rücken
der Schwächsten austrägt. In DDR-Heimen sind Kinder
misshandelt und gebrochen worden – in einem diktatorischen
Regime. Dass aber nach einer Diktatur die latente Machtanmaßung
über Schwächere nicht automatisch verschwindet, davon
zeugen die ehemaligen Heimkinder der frühen Bundesrepublik.
Es
ist eine Frage des Anstands, wenn Bundestag und Bundesregierung
Wiedergutmachung in Form von Rentenanerkennung und Therapiehilfen
leisten. Es ist eine Frage der Selbstachtung der demokratischen
Gesellschaft, die alte Erziehungspraxis als Menschenrechtsverletzung
zu ächten. Sie, die selbst keinen Anwalt hatten, sind mit dieser
Forderung die Anwälte der Kinder, Jugendlichen und Alten von
heute. Die Lebensgeschichten der Heimkinder erschüttern; ihr
Plädoyer, dass sie sich nicht wiederholen dürfen, hat große
Kraft.
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