Wie
muss er sich
am Dienstagnachmittag bloß vorgekommen sein, der Paul
Brune [
ein ehemaliges Heimkind ], um [ das ] sein Lebtag lang
kein Huhn und kein Hahn gekräht hat.
Was ihm die Nonnen des Waisenhauses im westfälischen
Lippstadt ebenso wie die braunen Nazi-Schwestern der "Anstalt
für geisteskranke und geistesschwache Kinder" im
sauerländischen Niedermarsberg immer wieder eingebleut
haben. Damit wurde er klein gehalten, ebenso wie mit der fast
rituell wiederholten Beschimpfung, bei ihm und seinesgleichen
handele es sich um unnütze Brotfresser, Schmarotzer,
Minderwertige. Ja, man verstieg sich sogar soweit, das Leben des
Paul Brune als "lebensunwert" zu brandmarken. Eine
Beurteilung amtlicherseits, die ihn beinahe um sein von ihm
durchaus geliebtes, von anderen aber so gering geschätztes
Leben gebracht hätte. Bei diesem Paul
Brune - einem Nichts und einem Niemand - entschuldigte sich am
Dienstagnachmittag der Direktor des Landschaftsverbandes
Westfalen-Lippe, Wolfgang Schäfer, hochoffiziell in den
Räumen des Düsseldorfer Landtags. Und zwar für
das dem sehr geehrten Herrn Brune während der Nazizeit und
auch danach "widerfahrene schlimme Unrecht". Paul
Brune fuhr aus diesem Anlass extra in das Landtagsgebäude
nach Düsseldorf. Ein kleiner Mann mit inzwischen schon
leicht krummem Rücken, einem noch immer üppigen
Lockenkopf und einer schleppenden Stimme, die daher rührt,
dass Paul Brune so viele Jahre seines Lebens keinen Mucks von
sich geben durfte. Sonst setzte es was auf den "Schwätzermund".
Sonst wurden Kinder wie er voll bekleidet in einer mit kaltem
Wasser gefüllten Badewanne untergetaucht. Solange, bis sie
kaum noch Luft bekamen. Genau hierfür
entschuldigte man sich am Dienstag. Und noch für vieles
mehr. Es war eine längst überfällige Geste, mit
der Brune allerdings nicht mehr gerechnet hatte. Nach all den
lebenslangen Kämpfen, die er ausgefochten hatte, trotz der
vielen Steine, die man ihm allerorts in den Weg legte. Dabei
hatte man ihm das Widersetzen doch eigentlich ausgetrieben, mit
Hilfe von Zwangsjacken, in die man ihn steckte und die vom
verkrusteten Blut der geschlagenen, verletzten Heimkinder schon
ganz steif waren. Die verbliebene Zähigkeit
im Körper und in der Seele des Paul Brune ist das
Erstaunlichste an der Lebensgeschichte dieses Menschen. Er, der
wegen seiner Lebhaftigkeit und seines so wenig in die
Grabesstille der Anstalten passenden Redebedürfnisses nach
acht Jahren aus der "Idiotenschule" geflogen war, hat
Germanistik und Philosophie studiert. Sein Staatsexamen gemacht.
Doch wie es hierzu kam, wieso Paul Brune heute wie
selbstverständlich Brecht zitiert oder auf berühmte
Philosophen verweist, ist eine lange, eine traurige Geschichte.
Und wer sie zuerst hört, der wird sie kaum glauben.
So ging es auch Brigitte Hermann vom Petitionsausschuss des
nordrhein-westfälischen Landtags. Die Landtagsabgeordnete
der Grünen las die 69 Seiten der Eingabe Brunes, mit der er
schon viermal zuvor vergebens um eine Entschädigung gebeten
hatte. Doch diesmal nahm man ihn ernst, recherchierte und konnte
irgendwann nicht umhin, seine Schilderungen zu glauben. Was ihm
die jetzige Entschuldigung und die höchstmögliche von
der Härtefallkommission des Landes NRW zu bewilligende
Entschädigung als überlebendes Opfer der
Nazi-Euthanasie einbrachte. Er bekommt nun etwa
260 Euro monatlich für ein ganzes zerstörtes Leben.
Ein Leben, das eigentlich an dem Tag aufhörte normal zu
schlagen, als sich seine Mutter, die Paula Brune, mit ihren drei
jüngsten Kindern, darunter den noch nicht einmal
einjährigen Paul, im Dorfteich ertränken wollte. Ihr
Mann hatte sie, nachdem seine Frau von einem benachbarten Bauern
schwanger war und Paul gebar, mit Fäusten, ja mit dem
Hammer zur Raison bringen wollen. Bei ihrem Selbstmordversuch
ertrank Pauls vierjähriger Halbbruder. Eine Schwester, Paul
und die Mutter wurden gerettet. Paul kam, wie er später
herausfand, "so nass und verdreckt, wie man mich aus dem
Wasser gefischt hatte", sofort ins St.-Josef-Waisenhaus
nach Lippstadt. Dort begann sein Leidensweg.
Von nun an hieß es stillsitzen, stillschweigen. Der kleine
Paul hielt das nicht aus. Wenn keiner guckte, tanzte er herum,
neckte die anderen Kinder, die stumm stundenlang auf ihren
Stühlchen hockten. In seiner "Irrenhausakte" -
wie er hartnäckig das Dokument bezeichnet, das die vielen
ärztlichen Hauruckeinschätzungen seiner Person enthält
- schlug sich sein Verhalten als "gemeingefährliche
Umtriebe schon im frühkindlichen Alter" nieder.
Später, im
heimeigenen Horst-Wessel-Kindergarten, beschimpfte der Rektor,
ein alter Nazi, den Jungen, der sich schon vor der Einschulung
selbst das Lesen beigebracht hatte, vor der ganzen Klasse als
"erblich minderwertig". 1943
lieferten ihn die Nonnen ins Irrenhaus nach Dortmund-Aplerbeck,
von wo aus er kurz darauf ins St. Johannesstift nach
Niedermarsberg verlegt wurde, einer "Anstalt für
Geisteskranke, Schwachsinnige und Epileptiker". Er mache
den Eindruck eines normal begabten Kindes, hieß es
geradezu verwundert bei seiner Aufnahme. Trotzdem lautete die
Diagnose: "gemeingefährliche Schizophrenie".
Damals war das so etwas wie ein Todesurteil, denn die in
Aplerbeck und Niedermarsberg von den Nazis eingerichteten
"Kinderfachabteilungen" sollten sogenannte "erbkranke"
oder behinderte Kinder zur Euthanasie, also zur amtlicherseits
angeordneten und exekutierten Ermordung, auswählen. Auch
der kleine Paul war hierfür vorgesehen, Anstaltspsychiater
Heinrich Stolze hatte ihn als "lebensunwertes Leben"
eingestuft. Paul rettete - so glaubt er heute - ein Test, ein
fehlerfreies Diktat, bestehend aus kurzen Sätzen wie dem:
"Wir rufen Heil Hitler" , und ein Aufsatz, in dem er
schrieb: "Ich wohne in Deutschland. Der Führer wohnt
in Deutschland. Die Soldaten helfen ihm. Wir haben jetzt Krieg
mit den Russen und Engländern. Die schießen die
Soldaten, weil die unsere Häuser kaputt machen."
Paul blieb, während viele, viele Kinder einfach so
verschwanden. "In meiner Zeit", sagt Paul Brune, "von
Anfang September 1943 bis Anfang der 50er Jahre sind hier 500
Kinder gestorben. Ganz zu schweigen von den Kindern, die 43/44
in die Vernichtungsanstalten geschickt wurden." Noch heute
fragt er sich unentwegt, wie er diese Kinderhölle hat
überleben können. Denn der kleine, gerade mal
achtjährige Paul sah die Kinder seiner Station, die zu den
"braunen" Schwestern mit ihren Peitschen in die
"Kinderfachabteilung" des Erdgeschosses verlegt
wurden, nie wieder. Immer häufiger musste er im Gewand des
Messdieners hinter dem Anstaltspfarrer und den Kindersärgen
zum heimnahen Friedhof gehen. Jahre später,
als er all dem längst entronnen war, suchte er die Nonnen
seines Waisenhauses auf, die ihn zur Euthanasie nach
Dortmund-Aplerbeck abgeliefert hatten. Dort stieß er auf
eine Mauer des Schweigens und der Ablehnung. Der Anstaltspfarrer
hat ihn, als er auch bei ihm anklingelte, "schlicht aus
seiner Wohnung geworfen". Irgendwann erfuhr er dann, dass
Psychiater Dr. Heinrich Stolze, dem er die Einstufung als
"lebensunwertes Leben" verdankte, 1953 wegen seiner
Mitwirkung am Euthanasie-Programm vom Landgericht Münster
"wegen erwiesener Unschuld" freigesprochen worden war.
Das Schwurgericht war, wie damals üblich, einem
psychologischen Gutachten gefolgt, wonach Stolze für die
Zeit seiner Taten einem "Irrtum über das Erlaubtsein
seines Handelns" erlegen war. Für
Paul Brune war mit der Rettung seines Lebens seine stumpfsinnige
Heimzeit allerdings längst nicht zu Ende. Weitere zehn
Jahre verbrachte der Junge, dem später bei psychologischen
Tests eine überdurchschnittliche Intelligenz nachgewiesen
wurde, hinter den dicken Mauern der Niedermarsberger "Anstalt
für geisteskranke und geistesschwache Kinder". Dort
blieb auch nach 1945 alles beim Alten. Manch ein Kind, daran
erinnert sich Paul Brune genau, starb auch weiterhin an den ihm
durch Pfleger und Aufseherinnen zugefügten Verletzungen, an
Tritten, Schlägen, Knebeln, durch Eintauchen in kochendes
Wasser. Die Bilder der zerlumpten Gestalten, die all dies
überlebten, bringen Paul Brune noch heute manche Nacht um
den Schlaf. Dann sieht er sie wieder, diese Kinder mit ihren
"hängenden Schultern, gekrümmten Rücken,
apathischen Gesichtern, stumpfsinnigen Augen. Wir waren
deprimierende Gestalten, denen das Interesse an der Welt
ausgetrieben wurde." In seinem Fall ist das misslungen.
Nach mehreren Fluchtversuchen, zeitweiliger Knechtsarbeit bei
einem Bauern, einem Selbstmordversuch mit E 605 kam er zwar
zunächst in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie in
Münster, in den sogenannten "Schutthaufen".
Diesmal hatte man ihm, "ruckzuck", einen Wasserkopf
attestiert. Auch dort
wehrte er sich. Dagegen, dass ihm ein Mitpatient seine Rotze ins
Gesicht pustete, ein anderer ihn mit Kot beschmierte. Prompt
bekam er die Quittung: er störe den Frieden der Abteilung,
zeige keine "Krankheitseinsicht", sei einfach
paranoid. Inzwischen war er 18 Jahre alt. Konnte Gedichte wie
Goethes Erlkönig auswendig, rezitierte in seiner
verlangsamten Sprache Schillers Zauberlehrling oder die Kraniche
des Ibikus. All dies hatte er aufgeschnappt, geklaubt aus
verstohlen gelesenen Büchern. In Münster
traf er zum ersten Mal auf Menschen, die sich nicht nur im
Kasernenhofton miteinander verständigten, die miteinander
redeten, diskutierten. Ein Priester, wegen Unzucht mit
Minderjährigen dorthin eingewiesen, feilte mit ihm an
seiner Aussprache, übte mit ihm die deutsche Grammatik,
setzte sich in Briefen an das Vormundschaftsgericht für
Paul ein. Und hatte Erfolg. Eines Tages wird Paul abgeholt, ist
von nun an auf sich selbst gestellt. Zunächst
schlägt er sich bei Bauern als Hilfsarbeiter durch. Nutzt
jede Minute für seine Bildung. "Von den Stunden der
Verzweiflung bei diesem Bemühen will ich erst gar nicht
reden." Es gelingt ihm, sein Abitur nachzumachen,
Germanistik und Philosophie zu studieren. Er lernt Psychiater
kennen, die entsetzt sind über das, was in seiner
Krankenakte steht, die ihn ermuntern, für das ihm angetane
Unrecht auf Entschädigung zu drängen. 1966 reicht er
seine erste von insgesamt fünf Eingaben beim
Petitionsausschuss ein. Erst die letzte, bei der ihn die
Grünen-Politikerin Brigitte Hermann unterstützte, ist
erfolgreich. Doch die unhaltbaren Diagnosen der Naziärzte
haben ihn nicht nur um seine Kindheit, sondern auch um seinen
Beruf gebracht. Als er 1978 seine Referendarzeit an einem
Gymnasium beginnen will, schaltet sich das Bochumer
Gesundheitsamt ein. "Ein ewiger Student? Eine soziale
Drohne?" sinniert ein Amtsarzt schriftlich über Paul
Brune und verweist in seinem Eifer, Brunes Referendarzeit zu
verhindern, auf einen Eintrag, 1943 vom Nazirektor der
Horst-Wessel-Schule vorgenommen. Danach sei Brune "das
Schulbeispiel für asoziales Verhalten infolge Erbanlage".
Und als reiche dies nicht aus, um Brune zu diskreditieren, fügt
dieser Amtsarzt im Jahre 1978 noch hinzu: "Paul Brune
stammt aus einer ehebrecherischen Beziehung der Mutter."
Brune nahm dies nicht hin, wusste sich inzwischen zu wehren.
Über das Verwaltungsgericht bekam er die Erlaubnis, sein
Referendariat abzuschließen. Doch Lehrer werden durfte er
nie. Irgendwie kann er das auch verstehen. "Man hat ja
nicht wissen können, ob nicht doch an all dem, was da in
meiner ,Irrenhausakte ' stand, etwas dran gewesen ist",
sagt er, traurig, aber ohne jeden Zorn. Zu
seiner Familie hat er keinen Kontakt, obwohl er sie alle
aufgesucht hat: die Halbgeschwister, seinen wirklichen Vater und
seinen Stiefvater. Wie waren sie doch überrascht, ja
fassungslos, dass der kleine Paul noch lebte! Keiner war jedoch
wirklich an ihm interessiert. Als 21-Jähriger fuhr er zu
seiner inzwischen auf dem Bauernhof einer Schwester lebenden
Mutter. Die hat ihn sofort erkannt. "Was willst Du hier,
was willst Du hier?", empfing sie ihn in Panik und
wiederholte immer wieder: "Ich kann Dir nicht helfen. Woher
weiß Du überhaupt, dass ich hier wohne?" Der
Besuch war so deprimierend, dass Paul Brune ihn nie wiederholte.
Noch heute lebt er in einer mit philosophischen
Werken, Literatur über die NS-Zeit, Romanen und Krimis
vollgestopften Studentenbude im Bochumer Univiertel. Auf die
Frage, ob er sich selbst als einen unglücklichen Menschen
bezeichnen würde, schüttelt er heftig den Kopf. Um
dann, zögernd und nachdenklich hinzuzufügen::
"Seltsamerweise nicht. Manchmal, da packt es mich
allerdings schon. Vor allem des Nachts. Dann knipse ich die
Lampe an, schnappe mir ein Buch und tauche einfach weg."
[
document info ] Autor: Journalistin Ingrid
Müller-Münch Copyright © Frankfurter Rundschau
2002 Dokument erstellt am 14.01.2003 um 18:00:12
Uhr Erscheinungsdatum 15.01.2003
[
Erstveröffentlichung auf dieser Webseite: 8. Juni 2004]
|