Schläge und Missbrauch im Namen Gottes
Pierre, Marion und Gisela sind Ex-Heimkinder aus
Ostwestfalen-Lippe. Heute können sie offen über die Zeit
sprechen, in der sie von Ordensschwestern misshandelt wurden. Mit
einer bundesweiten Interessensgemeinschaft wollen sie jetzt
weitere Opfer auffindig machen und Entschädigung fordern
Liebster Gott, Du bist doch ... sicherlich stärker als
der katholische Gott. Oder? Bitte, ... lass mich Morgen
keine Schläge bekommen. ...Vor dem dünnen Rohrstock
- habe ich am meisten Angst. Tief ... haben sich die
Stockhiebe - gestern bei mir in meine Haut gegraben. Da ...
Schau her, blau und rot sind meine Schwellungen ... und ...
zwei Wunden sind sogar aufgeplatzt. Sie bluten! Es tut
alles so weh - ich kann mich ... kaum bewegen! Kannst Du,
liebster Gott den Rohrstock wegzaubern? (Auszug aus
"Nonnenmilch" von Pierre de Picco)
VON NATALIE WIESMANN
Freitags war kein guter Tag für den kleinen Pierre de
Picco. Freitags war Fisch-Tag im St. Hedwig-Kinderheim in
Lippstadt. Und den mochte er nicht, übergab sich meistens
über seinem Teller. "Ich musste das Erbrochene immer
wieder aufessen", erinnert sich der heute 46-Jährige mit
Grausen an seine Zeit im katholischen Kinderheim. Der Badetag
erwies sich als Tortur. "Wir wurden ins heiße Wasser
gesteckt, bis unsere Haut krebsrot war" sagt er und streicht
sich dabei über die Arme, als ob er das Brennen heute noch
spüren würde. Geschlagen mit Stöcken, Peitschen.
Die Weidenruten, mit denen die Kinder geschlagen wurden, mussten
sie selbst schnitzen. "Einmal warf mich eine der Schwestern
durch die Scheibe", sagt Pierre und zeigt seine verbliebene
Narbe am Oberarm.
Lange hat Pierre de Picco gebraucht, um über seine
Schreckenserlebnisse zu reden. Während eines Kuraufenthalts
in den 90er Jahren brach es dann aus ihm heraus, einfach so. "Ich
habe Bäche geweint", erzählt er. Und dann hat er
sich auf die Suche nach seinen Akten gemacht, wollte seine
Vergangenheit aufarbeiten. Außerdem hat er angefangen, seine
Erlebnisse in Gedichten und Gemälden auszudrücken.
Zehntausende Opfer in Deutschland
Mit sechs Jahre hatte man ihn eingewiesen, weil das Jugendamt
befand, dass seine Mutter mit einem Dutzend Kinder von
verschiedenen Männern zur Erziehung nicht mehr in Lage war.
"Ich hatte auf einem Bauernhof gelebt, ganz frei in der
Natur" sagt er mit wehmütigen Augenausdruck.Neun Jahre
war er im Heim eingesperrt, wurde von den Nonnen "im Namen
Gottes" geschlagen, gedemütigt, über ein Jahr lang
sexuell missbraucht. Seit er mit seinen Erlebnissen an die
Öffentlichkeit geht und sich die deutschen Medien zunehmend
mit dem Thema beschäftigen, hat er viel Resonanz von
Leidensgenossen erhalten.
"Auf einen Spiegel-Bericht hin haben sich bei der
Redaktion 500 Menschen gemeldet", weiß Pierre. Auf dem
ersten Treffen im November 2003 versammelten sich Betroffene aus
Westfalen, Aachen, Marburg und Cloppenburg. Weil dort so viel
Tränen flossen, verschob man die Vereinsgründung auf den
9. Januar diesen Jahres. Pierre de Picco ist Vorsitzender, Marion
Zagermann seine Stellvertreterin. 70 weitere Mitglieder zählte
der Verein bei seiner Gründung in Paderborn bereits. "Die
Bundes-Interessengemeinschaft der missbrauchten und misshandelten
Heimkinder in Deutschland von 1945 bis 1985" will weitere
Opfer zum Reden bringen: "Was uns widerfahren ist, muss
hunderttausenden Anderen passiert sein", schätzt Pierre.
Viele seien in lebenslanger psychiatrischer Behandlung, dem
Alkoholismus verfallen, nicht wenige hätten sich umgebracht.
Lebendigkeit wurde bitter bestraft
Marion Zagermann hat ihre zahlreichen Selbstmordversuche
überlebt. Ihre Leidensgeschichte begann sehr früh: Mit
zehn Monaten hatte sie ihre alleinerziehende Mutter ins
Paderborner Bonifatius-Heim gegeben, weil sie mit ihrer Tochter
nicht mehr klarkam. "Ich war ein Zappelphilipp", erklärt
die heute 47-Jährige. Bis zum sechsten Lebensjahr wurde sie
nachts ans Bett geschnallt, tagsüber an einen Stuhl
gefesselt. Die Nonnen, die dem Vincentinerinnen-Orden angehörten,
hatten noch weitere Foltermethoden für die kleine Marion
vorgesehen: Sie hielten ihren Kopf unter eiskaltes Wasser, um
ihren Spieldrang zu drosseln. Als Marion die Kälte nicht mehr
spürte, erhöhten die Schwester die Dosis: Sie wurde in
ein kaltes Bad gesetzt und unter Wasser getaucht - bis zur
Bewusstlosigkeit. "Weil ich evangelisch war, feierte man dort
auch nicht meinen Geburtstag" sagt sie mit traurigem Blick,
als ob es gestern vorgefallen wäre.
Vom Regen in die Traufe
Heim Nummer zwei war für Marion das evangelische
Diakonissen-Heim im westfälischen Scherfede. Dort waren die
Bedingungen kein Deut besser als im katholischen Heim. "Ich
war eine Rebellin", erzählt sie, "ich brauchte viel
Auslauf". Liebe bekam man im Heim nicht, dafür Sadismus:
So wurden die Kinder zum Baden in den Fluss Diemel geschickt, in
dem haufenweise Blutegel schwammen. Die Schwestern hätten
eine Freude daran gehabt, den Kindern dabei zuzuschauen, wie sie
versuchten, sich von den Würmern zu befreien. "Ich hatte
sie überall, sogar..." sagt sie und deutet mit ihrem
Kopf zwischen ihre Beine. Als sie ihn wieder erhebt, stehen ihr
die Tränen in den Augen. "Ich will nie wieder hören,
die Zeiten waren damals einfach so." Beim Waschen standen die
Schwestern hinter ihr und wuschen sie mit einem harten
Waschlappen, so dass sie zwei Tage lang nicht mehr auf die
Toilette konnte. Tagelang wurde sie bei "Muckefuck" und
hartem Brot eingesperrt. Als sie einmal rausgelassen wurde, sei
sie "reflexartig" auf den Balkon gerannt, um sich
hinunterzuwerfen. "Ich war schon damals ziemlich depressiv",
erzählt sie.
Mit Valium ruhig gestellt
Und irgendwann war sie dann drogenabhängig, denn auch mit
Medikamenten versuchten die Nonnen, Marion zu "disziplinieren".
Valium und Truxalettensaft waren damals die gängigen
Beruhigungsmittel für Heimkinder. Nach einem Aufenthalt in
der Psychiatrie, wo sie "auf Entzug" war, kam sie als
14-Jährige ins St.-Johannes-Stift in Paderborn, wo sie zum
ersten Mal gut behandelt wurde. Mit sechzehn Jahren wurde sie dort
entlassen und verblieb bis zu ihrer Volljährigkeit in einem
Erziehungsheim, der Klosterschule "Haus Waldfrieden" in
Ibbenbüren. Dort versuchte sie dann mehrmals wegzulaufen und
rannte blindlings in eine Ehe, in der sie fast schlimmer behandelt
wurde als in ihrer Heimzeit. Ein Schrecken ohne Ende. "Eigentlich
geht es mir erst besser, seit ich die anderen kennengelernt habe",
sagt sie. Heute hat Marion Rheuma und Arthrose, ist aber nur noch
"latent suizidal". "Und ich gehe zum ersten Mal
aufrecht", sagt sie. Sie hätte vorher nur auf den Boden
geschaut und sich hinter dicken Brillen versteckt. "Nur wenn
ich mich überfordert fühle, schließe ich mich ein
und will nichts mehr sehen."
Eingesperrt wegen Elvis-Lied
Als Gisela N. Marion vor ein paar Jahren kennenlernte, war sie
sich fast sicher, dass sie eine Leidensgenossin vor sich hatte.
"Ich sehe das im Ausdruck der Augen", so Gisela. Sie
zeigt Bilder aus Heimen in den 60ern oder 70ern: "Die jungen
Mädchen haben alle schiefe Münder und wirken schon fast
tot". Gisela kam als 15-jährige in ein Dortmunder
Erziehungsheim, das vom Vincentinnerinnen-Orden geleitet wurde.
Sie hatte auf einem Stadtfest Rock'n Roll getanzt und ist eine
Nacht nicht nach Hause gekommen. Als "verwahrlost" wurde
sie eingeliefert, so schnell ging das damals. "Verwahrlost
wurde ich erst im Heim". Wenn sie in der Großwäscherei
arbeiten mussten, träumte Gisela sich weit weg: Sie malte
sich aus, dass sie in die DDR auswandern würde und bei der
VOPO zur Spionin gegen die Bundesrepublik ausgebildet würde.
Am schlimmsten empfand sie das erzwungene Singen von Liedern, in
denen Gott gedankt wurde für all das Gute, was ihnen auf
Erden geschah: "Ich hatte das Gefühl, dass mir auch noch
meine Gedanken genommen werden." Die junge Frau wurde fast
verrückt, zwei Jahre lebte sie hinter mehrfach verriegelten
Fenstern, durfte nie an die frische Luft. Weil sie ein Lied ihres
geliebten Elvis vor sich her sang. wurde sie in Isolierhaft
gesperrt.
Ein katholisches Taliban-Regime
Als sie volljährig war, ging sie nach Amerika und konnte
aber nirgends sesshaft bleiben: "Ich hatte immer so viel, wie
in meinen Wagen passte." 42 Jahre lang hat Gisela über
ihre Erlebnisse geschwiegen. Bis der Film "Die unbarmherzigen
Schwestern" ins Kino kam, der von ähnlichen
Misshandlungen in irischen Heimen erzählte. Die 58-Jährige
vergleicht die Zeit im Heim mit einem katholischen
,Taliban-Regime'. Wie die meisten der Ex-Heimkinder ist sie aus
der Kirche ausgetreten: "Die mit den dicken Kreuzen sind die
Schlimmsten". Pierre wirft ein: "Es war ein
Terrorregime, eine Kombination aus Nazi-Ideologie und fanatischem
Katholizismus." Alle fordern sie Entschädigung, auch für
die Zwangsarbeit, die sie verrichtet haben. Es war üblich,
dass die Kinder und Jugendlichen umsonst in Großwäschereien,
Großküchen oder Großschreinereien arbeiteten. Die
Schule lief "nebenher".
Selbsthilfegruppe und Lobby
Nur eine Nonne, Schwester Margit aus dem St.Hedwig-Heim in
Lippstadt, versuchte, nett zu den Kindern zu sein. "Dafür
wurde sie so gemobbt", erinnert sich Pierre. Auch hätten
Sozialarbeiter ihr Anerkennungsjahr abgebrochen, weil sie die
Quälereien an Heimkindern nicht ausgehalten hätten. Es
kommt das Gefühl auf, die Kirchen hätten allgemeine
Folter-Richtlinien herausgeben, so sehr ähneln sich die
Geschichten der Opfer. Haben sie eine Erklärung für die
heimübergreifenden sadistischen Methoden? "Die hatten
selbst enorme Probleme", meint Pierre. Viele seien an ihrer
unterdrückten Sexualität zerbrochen und das wäre in
Hass umgeschlagen. Was ihm aber sein Lebensleid nicht nimmt.
Außerdem bestreiten die Kirchen und Heime bisher die
Anschuldigungen, Schläge und Missbrauch hätte es bei
ihnen nie gegeben. Der Verein ist deshalb nicht nur Anlaufstelle
für Betroffenene, die zusammen ihre Geschichte aufarbeiten.
Er soll auch eine Lobby für den Kampf um Aufklärung und
Entschädigung sein.
Betroffene können sich melden bei [ Martin
Mitchell, in Australia, @ [email protected]
].
taz NRW Nr. 7262 vom 20.1.2004, Seite 3, 267
Zeilen (TAZ-Bericht), NATALIE WIESMANN
© Contrapress media GmbH Vervielfältigung nur mit
Genehmigung des taz-Verlags
|