Der Betreiber dieser nichtkommerziellen Webseite ist der hoch-engagierte Martin Mitchell in Australien (ein ehemaliges “Heimkind” in kirchlichen Heimen im damaligen West-Deutschland) |
Aufschlußreicher Artikel aus der katholischen ORDENSKORRESPONDENZ:
Zeitschrift für Fragen des Ordenslebens - Nr. 47, Jahrgang 2006, Heft 2.
Buchrezension von Joachim Schmied. Rezension des SPIEGEL-Buches
von Peter Wensierski: "Schläge im Namen des Herrn -
Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik".
ORDENSKORRESPONDENZ Zeitschrift für Fragen des Ordenslebens Organ der deutschen Ordensobern-Vereinigungen
Neue Bücher - Rezensionen: WENSIERSKI, Peter SCHLÄGE IM NAMEN DES HERRN Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik. Nur mit großer Betroffenheit kann man Peter Wensierskis aufrüttelndes Buch lesen. Er behandelt eine Etappe bundesrepublikanischer Jugendfürsorge und Heimerziehung, die in den Seelen vieler Betroffener tiefe und unauslöschliche Spuren hinterlassen hat. Man fragt sich, ob es in den ersten 20 Jahren nach dem Ende des Dritten Reiches wirklich so wenig mentale Distanz gegeben hat. Was konnte von den Ansätzen der Reformpädagogik aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in die Nachkriegszeit gerettet werden? War die Pädagogik der 1950er Jahre wirklich so „schwarz“, wie es die Studien von Alice Miller, Katharina Rutschky und anderen bereits herausgearbeitet haben? Auslöser der Spurensuche des SPIEGEL-Redakteurs war der Film „Die Unbarmherzigen Schwestern“ über die erniedrigende Behandlung so genannter „gefallener Mädchen“ in einem Erziehungsheim der Magdalenen-Schwestern. Wensierski kam in Kontakt mit einer ehemaligen Heimbewohnerin, die ähnliche Erfahrungen durchgemacht hatte. Bei der von Vinzentinerinnen geführten Einrichtung stieß sie jedoch auf eine Mauer des Schweigens. Auf der Internetseite des heute noch existierenden Kinderheims sind die Jahre zwischen 1927 und 1966 einfach übersprungen. Die weiteren Recherchen führten zu einem erschreckenden Ergebnis. Das Dortmunder Kinderheim war kein Einzelfall, sondern Teil eines Erziehungssystems, dessen Hauptziel die Aufrechterhaltung von Ordnung war. Die gesellschaftlichen Normen, gerade auch im Bereich von Ehe und Familie, wurden von den staatlichen Behörden mit oder gegen Willen der Eltern an den minderjährigen Kindern exekutiert. Diese Normen griffen vor allem dann, wenn „sittliche Verwahrlosung“ auf Grund als zu stark empfundener Sexualisierung, aber auch so harmlosen Anlässen wie einer Affinität zu amerikanischer Musik und Mode oder spätem Nachhausekommen diagnostiziert wurde. Die Jugend- und Fürsorgeämter sorgten dann für die Einweisung in eines der rund 3000 Kinderheime. Diese Einrichtungen wurden sowohl von staatlichen als auch von kirchlichen Trägern geleitet. Die konkreten Erzieherinnen und Erzieher waren auf ihren Beruf allerdings oft nur unzureichend vorbereitet und mit der pädagogischen Aufgabe überfordert. Um sich durchzusetzen, sahen sie oft als einzige Möglichkeiten die Anwendung von Strafen, verbunden mit körperlicher und seelischer Gewalt. Viele der von Wensierski interviewten ehemaligen Heimkinder hatten über Jahrzehnte hin nicht den Mut, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Sie leiden bis heute an den Folgen einer lieblosen Behandlung, an einem Kartell des Misstrauens, dem sie in den Heimen begegneten, und an der Unfähigkeit vieler ehemaliger Erzieherinnen und Erzieher, sich der eigenen Vergangenheit mit ihren Schattenseiten zu stellen. Dass es ausgerechnet der harte Kern der „Rote Armee Fraktion“ war, der Ende der 1960er Jahre die Öffentlichkeit auf das Schicksal von Heimkindern aufmerksam machen wollte, der von Ulrike Meinhof gedrehte Film „Bambule“ jedoch wegen der Befreiung Andreas Baaders aus dem Gefängnis nicht gesendet wurde, hat der Aufmerksamkeit für das Thema wahrscheinlich eher geschadet. In das staatliche System der Kinderfürsorge waren auch katholische Ordensgemeinschaften eingebunden. Wensierski benennt in seinem Buch verschiedene Beispiele von Institutionen, die von männlichen oder weiblichen Kongregationen geleitet wurden. Die Fakten sind eindeutig. Die Orden praktizierten genauso körperliche Züchtigung; sie benutzten Strafen zur Demütigung der Kinder; die Werte, die sie vermittelten, halfen den Kindern nicht, freie und selbstständige Persönlichkeiten zu werden, sondern zerstörten in vielen das für die seelische Entwicklung so notwendige Grundvertrauen in erwachsene Bezugspersonen. Die fehlende Professionalisierung mag in den Jahren nach dem Krieg sicher auch eine Rolle gespielt haben - sie ist inzwischen aufgeholt. Dennoch ist auf drei Aspekte hinzuweisen, die aus der Sicht der Orden zur Beurteilung der Vorfälle und zur Beantwortung der Frage nach persönlicher oder gemeinschaftlicher Schuld anzuführen sind: Zum einen waren und sind die Orden gerade in Deutschland in einer Weise mit dem Staat verbunden, wie es wohl kaum in einem anderen Land der Erde' der Fall ist. Eine Widerstandstradition gegen staatliche Vorschriften existiert nicht. Das kommt zum Teil daher, dass viele Kongregationen von ihrer Gründung an im Dienst kommunaler und staatlicher Einrichtungen standen. Nicht nur aus monetären Gründen, aber auch deshalb, scheuten sich die Orden, in ihren Kinderheimen eine andere Erziehungspraxis als in den staatlichen Institutionen zu verfolgen. Gerade in den beiden Nachkriegsjahrzehnten kam eine weitgehende Übereinstimmung mit den Werten hinzu, die von der Politik und der behördlichen Exekutive vertreten wurden. Disziplin und Ordnung, Sauberkeit und Tabuisierung der jugendlichen Sexualität, Gehorsam gegenüber Eltern und Lehrern - diese Pflichtwerte wurden vom Mainstream des bundesdeutschen Katholizismus vehement eingefordert. Mit Hilfe dieser Wertorientierung wollte man einen befürchteten „Untergang des Abendlandes“ verhindern. Opfer dieser Koalition waren diejenigen Kinder, die sich einer gleichgeschalteten Erziehung widersetzten.
Hinzu kam eine jahrhundertealte Praxis von Buße und Strafe im kirchlichen System. Das betrifft nicht das Sakrament der Buße, wiewohl die von Wensierski berichteten Fälle, in denen in Kinderheimen Vergehen der Kinder, die sie im Forum internum der Beichte bekannt hatten, außerhalb des Beichtstuhls bestraft wurden, einen eklatanten und nicht zu entschuldigenden Bruch des Beichtgeheimnisses darstellen. Es geht vielmehr um die in katholischen Orden bis zur Konzilszeit praktizierte Form körperlicher Selbstbestrafung (Disziplin), die eine ähnliche Behandlung anvertrauter Zöglinge zumindest nicht als etwas völlig Abwegiges erscheinen ließ. Ein dritter Aspekt wird von Wensierski in dem zitierten Brief einer Ordensschwester (S. 196-197) zur Sprache gebracht. Er betrifft die innere Distanz zu den Kindern, die den Schwestern von ihren Ordensleitungen auferlegt wurde. Dieses Gefühlsverbot habe vermutlich, so die Schwester, zum gegenteiligen Extrem geführt. Damit weist sie auf eine Phobie hin, die in Klöstern und religiösen Einrichtungen lange Zeit herrschte: die Angst vor zu großer innerer Nähe, vor „Privatfreundschaft“, vor inneren Bindungen. Damit wurde im Grunde genommen der Gründungszweck der Orden, für die Menschen da zu sein, pervertiert. Schließlich besteht der Sinn des aktiven Ordenslebens gerade in der Hingabe an die Menschen. Und dazu muss man sie in das eigene Herz hinein lassen. Die aszetische Haltung der Distanz zu den anvertrauten Menschen, wie sie in den Orden gepredigt wurde, ist dabei verfehlt.
Wensierskis Buch rüttelt auf - und das soll es auch. Es ist ein notwendiges Buch, das hoffentlich über Schuldgefühle und -eingeständnisse hinaus die Reflexion über die aszetische und pädagogische Geschichte der Orden neu anstoßen kann. Denn es muss genau so wie über die Kinder über die betroffenen Ordensleute geredet werden, über ihre Motive und Ängste, über ihre Prägungen und Entwicklungen. Daran erweist sich schließlich auch die Veränderungsfähigkeit nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der Kirche insgesamt und der Orden im besonderen. |
Siehe auch "Ehemalige Heimkinder" @ heimkinderopfer.blogspot.com und heimkinderopfer2.blogspot.com |
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