[
Enthoben aus dem Internet @
http://www.marienstift-braunschweig.de /fileadmin/downloads/doppelpunkte/archiv/2003/2003_2.pdf
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"Doppelpunkt"
- Heft Nr. 3/2000 - Seite 48-54
Aus
der Geschichte des Marienstiftes [...und
anderen solcher Einrichtungen...]
[…
und die, für Fürsorgezöglinge (Mädchen und
Jungens), damit verbundene "deutsche
Form von Sklavenarbeit"…]
Fürsorgearbeit
im Marienstift Von
Dr. Rosemarie Kamp
Nach
den schweren Jahren der Inflation erfuhr die Fürsorgearbeit
im [evangelisch-lutherischen]
Marienstift [in Braunschweig] mit der
Berufung von Pastor Seebaß 1930 noch einmal einen neuen
Auftrieb, trat allerdings auch in ihre letzte Phase. Schon drei
Jahre vor seinem Tode (1957) musste der Geistliche sich und dem
Vorstand die Frage stellen, ob eine Fortführung des
Mädchenheimes überhaupt noch sinnvoll sei.
Der
Amtsantritt von Pastor Seebaß vollzog sich in einer
Situation, die sich erheblich von der unterschied, die sein
Vorgänger vorgefunden hatte. Seit der Jahrhundertwende gab es
eine fortlaufende Diskussion, die das „Recht des Kindes auf
Erziehung“, eine Institutionalisierung der Fürsorgeerziehung
[FE] und eine Reform des
Jugendstrafrechts betraf und sich auf die Praxis auswirkte. Das
Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, das 1924 in Kraft trat, trug solchen
Forderungen wenigstens zum Teil Rechnung. Es unterstellte die
Fürsorgeerziehung [FE]
der Aufsicht von Jugendämtern und erweiterte die
Einweisungsmöglichkeiten. Die Zahl der Fürsorgezöglinge
wuchs damit allerdings nicht, da der Staat, der die Mittel
bereitstellen musste, sich in den folgenden Jahren wachsenden
finanziellen Schwierigkeiten gegenübersah, abgesehen von der
Tendenz, aussichtslose Fälle aus der üblichen
Heimerziehung herauszunehmen. Die Belegungszahlen im Marienstift
spiegeln in etwa die allgemeine Entwicklung: 1915:64,
1920:40, 1932:35.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit stieg die Zahl allerdings dank
der allgemeinen Notsituation 1946
auf 67 an.
Außer den in der Weltwirtschaftskrise
erneut auftretenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten musste sich
der neue Leiter des Mädchenheims, das übrigens während
seiner Amtszeit 1935 den Namen
Siloah auf behördliche Aufforderungen hin ablegen musste,
auch der Kritik stellen, die seit 1928
in der Öffentlichkeit über Sinn und Form der
Anstaltserziehung geführt
wurde, nachdem eine Reihe von Skandalen
und Revolten in verschiedenen Heimen aufgedeckt
war.
In einem Artikel, der einen Rückblick auf die
Siloaharbeit und Ausführungen zu dem Neubau des Heims von
1930 enthält, schreibt
Pastor Seebaß: „Im März dieses Jahres konnte der
erste Spatenstich getan werden. Dieser Tag bedeutet ein Wagnis des
Glaubens, da der Vorstand und alle Schwestern die wirtschaftlich
schwierige Lage und die mannigfach veränderten Verhältnisse
wohl kannten und in der von der öffentlichen Meinung geübten
scharfen Kritik an dem Problem der Fürsorgeerziehung
[FE] sich einer ungewissen Zukunft
gegenübergestellt sahen, aber im festen Vertrauen auf Gottes
Treue und Barmherzigkeit gingen sie ans Werk der Rettung armer
verlorener Menschenkinder und hielten die Hoffnung fest, dass das
Werk hineingestellt sei in die große Entwicklungslinie
Gottes mit der ganzen Welt. Aus der Erkenntnis heraus, dass
verwahrlosten und gefährdeten Menschenkindern, die zum Teil
tief in der Sklaverei der Sünde stecken, nicht mit einem
gewissen Maß von Kenntnissen und Fertigkeiten, auch nicht
mit einem bloßen Moralunterricht geholfen werden kann,
konnte den Mädchen kein anderer Weg gewiesen werden, als der,
der es ermöglicht, die Verbindung mit dem Gott aller Gnade
und dem Heiland aller Sünder zu bekommen.“ Die
traditionelle Zielsetzung der kirchlichen Fürsorgearbeit,
„Menschen sollten herangebildet werden, die tüchtig
waren, ihren Weg durchs Leben zu gehen als rechtschaffene und
brauchbare Glieder der menschlichen Gemeinschaft und als solche
die Ewigkeit vor Augen hatten“ hatte sich also nicht
gewandelt. Wohl aber trug man ansatzweise den veränderten
Zeitumständen in der Gestaltung des Unterrichtsangebots
Rechnung.
„Mit dem neuen Jahr (1932)
nahm auch unsere neue Mitarbeiterin, die hauswirtschaftliche
Lehrerin Fräulein H. Laiblin aus Potsdam ihren Dienst bei uns
auf. Die schönen großen Unterrichtsräume für
wissenschaftlichen und Handarbeitsunterricht kamen jetzt recht zur
Geltung. Es wurden unterrichtet je drei Abteilungen in den
Elementarfächern und in Handarbeiten, je ein Kursus in
Säuglings- und Krankenpflege und die Gesamtheit in Religion,
Turnen und Singen und Anstandslehre... Den Abschluss der meist
zweijährigen Ausbildung in Siloah bildet jetzt der beliebte
Kochkursus. Er dauert ein halbes Jahr und die Teilnehmerinnen
werden außerdem in Religion und Bürgerkunde
unterrichtet. Am Ende des Halbjahres wird dann eine theoretische
und praktische Prüfung abgehalten, bei der auch Vertreter der
Behörden zugegen sind. „Im Vordergrund steht also noch
immer die Vermittlung hauswirtschaftlichen Wissens. Die
Freizeitgestaltung weist mit der Einübung von Vorführungen,
kleinen Feiern, Filmvorführungen und Ausflügen schon
eine Lockerung der starren Anstaltserziehung auf.
Für
die Jahre unter dem Nationalsozialismus fehlen [in
den Archiven] im Marienstift
einschlägige Berichte. [ ٪
] Es ist aber davon
auszugehen, dass die Fürsorgeerziehung
[FE] im großen und ganzen so
weiterlief wie bisher. Die Quellenlage
ändert sich 1946.
Die Vorstandsprotokolle, die vielen Eingaben und Berichte an
Besatzungsbehörden und Jugendamt, die sich [u.a.]
im Niedersächsischen Staatsarchiv
befinden, ermöglichen ein deutlicheres Bild von den Sorgen
der Leitung und dem Leben im Heim. Außerdem setzen hier auch
persönliche Erinnerungen ein: die von Diakonisse Hanna Seebaß
an Kontakten zwischen Pfarrhaus und Siloahmädchen, Berichte
von Diakonisse Ilse Lindner, die dort jahrelang als leitende
Schwester tätig war, nicht zuletzt Erinnerungen von Frau Inga
Frederiksson, Schweden, die 1948
auf eigenen Wunsch ein halbes Jahr in Siloah verbrachte. Ihnen
allen sei an dieser Stelle herzlich für ihre Mitarbeit
gedankt.
Bleiben wir zunächst bei den Problemen der
Verwaltung. Die allgemeine Situation Siloahs spiegelt sich in
einem Aktenvermerk des Jugendamtes über eine Besichtigung des
Hauses vom 13.8.46: „Gute
Verfassung, Kriegsschäden in großem Umfang bereits
beseitigt, Bäckerei völlig vernichtet. Fenster müssen
noch verglast werden. Räume einwandfrei, Kost nicht zu
beanstanden. Belegung zur Zeit 63 Plätze. Unterbringung in
Einzelzimmern und drei Schlafsälen zu je acht Betten.
Aufteilung in Gruppen unter Erzieherinnen (Hausmüttern) zu je
9 Mädchen, Behandlung nach
jahrzehntelang bewährten Grundsätzen: [
٪
] 11/2 – 2
Jahre Heimerziehung, dann bei Bewährung Zuweisung
zu Bauern mit Dienst- und Erziehungsauftrag. Während
der Heimerziehung im ersten Jahr
grundsätzlich kein Urlaub, später bei
Wohlverhalten. Unter gleichen Voraussetzungen [im
zweiten Jahr] Besuch von
Angehörigen einmal im Monat zugelassen. Zensur
der Post. [ ٪
] Ärztliche Kontrolle
zweimal in der Woche (70 % der Fürsorgezöglinge
geschlechtskrank). Unterricht in allen Fächern einer
Fortbildungsschule (theoretische Hauswirtschaft, Rechnen usw.,
dazu Religion und Singen). Praktische Tätigkeit in der
Hauswirtschaft: Waschen,
Plätten, Nähen,
in guter Jahreszeit Garten- und
Feldarbeit als Erziehung. Kochlehrgänge bei der
gegenwärtigen Ernährungslage in Wegfall.
Das
Marienstift ist ein geschlossenes Heim, die Unterkünfte
bei der Wäscherei, da zu
ebener Erde gelegen, mit Trailjen [d.h.,
Gittern / Rosten], im sehr hoch gebauten Hauptgebäude
dagegen ohne, da Abspringen aus den Fenstern gefährlich.
Entweichungen kommen gelegentlich vor.“
Diese
lakonischen Ausführungen erfahren eine wesentliche Ergänzung
durch einen Brief, den Pastor Seebaß am 16.8.46
an das Jugendamt richtet: „In Zeiten, wo uns alles, was zur
Lebensnotwendigkeit gehört, stets frei zur Verfügung
stand, war die Ausübung unserer Arbeit leichter als jetzt, wo
alles unsagbar schwer zu beschaffen ist. Hinzu kommt, dass unsere
Arbeit dadurch erschwert ist, weil unsere Jugend durch die
ungünstigen Verhältnisse bedingt, sich schwer wieder an
Ordnung und Arbeit gewöhnen will. Viele unserer Mädchen
haben durch den dauernden Wechsel ihres Wohnsitzes und
Zonenwechsels und andere wieder durch Unterschlupf in Lagern und
Bettelei bei der Besatzungsmacht zusätzliche Rationen an
Lebensmitteln erhalten und können sich an die normale
Rationierung schwer gewöhnen. Es wäre für uns
leichter, wenn wir nachmittags etwas Brot geben könnten und
wenn wir ausreichende Mengen Kartoffeln, etwas mehr Fett und
Aufstrich bekämen. Durch den Besuch des Herrn Kommandanten
Hicks ist uns durch seine Befürwortung die Hilfe in
wirtschaftlicher Beziehung zugesichert und außerdem haben
wir den Bescheid, dass wir eine ausreichende Menge Kartoffeln zur
Einkellerung für den Winter zu gegebener Zeit erhalten
würden. Somit sind unsere größten Sorgen behoben,
wenn wir diese Hilfe erhalten haben. Außerdem erhielten wir
zweimal eine Lebensmittelzuteilung vom Englischen Roten Kreuz,
wofür wir sehr dankbar sind.“
In diesem Bericht
tritt die Besatzungsmacht als wohlwollende Instanz in
Erscheinung. [ ٪
] Sie konnte aber auch
erhebliche Schwierigkeiten verursachen. So entdeckte einer der
führenden Offiziere [der britischen
Besatzungsmacht], dass den auf Grund der Ernährungslage
wieder verstärkt in der Landwirtschaft arbeitenden
Siloahmädchen kein Lohn ausgezahlt
wurde, witterte darin eine
deutsche Form von Sklavenarbeit
und ordnete kurzerhand eine am allgemeinen Arbeitslohn orientierte
Auszahlung an. Da damit nicht nur das pädagogische Konzept,
sondern auch die Finanzierung der Fürsorgeerziehung
[FE] in der Anstalt nachhaltig
gefährdet war, gab es einen umfangreichen
Schriftwechsel zwischen Marienstift,
vergleichbaren Einrichtungen,
dem Jugendamt und der Kommandantur mit
einer wachsenden Erregung der jeweiligen Stellen, bis
durch die routinemäßige Abberufung des Offiziers das
Problem sich von selber löste. [
٪
] In diesem Zusammenhang mag
erwähnt werden, dass das von den Mädchen verdiente Geld
grundsätzlich nicht ausgezahlt (außer im Einzelfall
kleinen Taschengeldbeträgen), ein Teil davon aber als
Sparguthaben angelegt wurde. Eine [sich
im Archiv befindende] Liste der 40er Jahre zeigt,
dass die Sparbücher je nach Verweildauer der Mädchen
zwischen 34 und 1370 Mark aufwiesen.
Wie die Ausführungen
von Pastor Seebaß andeuten, war die Belegschaft
des Heims 1946 stark
durch die Wirren der Nachkriegszeit geprägt. Die
Magdalenenarbeit hatte sich zunächst der Mädchen
angenommen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren und/oder
als sittlich gefährdet eingestuft worden waren. [
٪
] Seit man [gemäß
dem "(Reichs)Jugendwohlfahrtsgesetz”]
vom „Recht auf Erziehung“ ausging, verfügten die
Gerichte auch [über]
Einweisungen, wenn das Verbleiben in der familiären Umgebung
eine Gefahr für die Entwicklung der Mädchen darzustellen
schien. [ ٪
] Es gab auch Familien, die
sich bei schwierigen Kindern überfordert fühlten und von
sich aus einen Antrag auf Fürsorgeerziehung
[FE] stellten. Weithin kamen die
Marienstiftszöglinge wie auch
andernorts [d.h. sowohl
wie auch in den anderen Fürsorgeerziehungs-Einrichtungen in
Westdeutschland] aus der sozialen Unterschicht. [
٪
] 1945
stand man vor einer neuen Situation. Die Straßen waren
voller wandernder Menschen, die Heimat, Familien und Existenz
verloren hatten oder aus dem russisch besetzten Teil Deutschlands
flohen und oft genug nicht wussten, wo sie ein neues Zuhause
finden sollten. [ ٪
] Kein Wunder, dass darunter
eine erhebliche Anzahl junger Mädchen war, die jeden Halt
verloren hatten und nun der Fürsorgeerziehung
[FE] überstellt wurden. [
٪
] Neben denen, die als
sittlich gefährdet galten und weitgehend geschlechtskrank
waren, gab es auch viele, die planlose die Straßen
bevölkerten, Waisen und Halbwaisen, die nach Verlust oder
Auseinanderbrechen der Familien nicht wussten, wohin. Im April
46 verzeichnet Siloah 28 Fürsorgezöglinge und
15 andere, meist Flüchtlinge. [ ٪
] Abgesehen von der
wirtschaftlichen Überlastung, die sich durch die steigenden
Insassenzahlen ergaben, stellten sich damit auch pädagogische
Probleme, waren doch nun neben den schweren Fällen und den
sonstigen der Fürsorge überwiesenen auch Mädchen zu
betreuen, die nicht in beide Gruppen gehörten. [
٪
] In Siloah übernahm
unter der Oberleitung von Schwester Marie Haase die erfahrene
Diakonisse Rosa Breymnan die schwierigste Familie. Zu ernsthaften
Problemen des Zusammenlebens scheint es nicht gekommen zu sein,
jedenfalls verraten die Quellen
darüber nichts. In den folgenden Jahren verringerte sich dank
der sich konsolidierenden Verhältnisse die Bewohnerzahl und
wurde offensichtlich auch homogener. [ ٪
] In seiner letzten Phase
befanden sich nur Zöglinge aus Braunschweig und Umgebung im
Heim.
Das heißt nun nicht, dass alle Probleme
pädagogischer Art gelöst worden waren. [
٪
] Die
Ausweitung der Fürsorgeerziehung im Zusammenhang
mit der stärkeren öffentlichen Aufmerksamkeit und auch
einem gewandelten Verhältnis zum Staat führten ganz
allgemein dazu, dass sich Eltern gegen die
Einweisung ins Heim,
die vielfach als Stigmatisierung empfunden wurde,
oder gegen die verordnete Dauer des Aufenthalts zur Wehr
setzten. [ ٪
] Die unterschiedliche Haltung
lässt sich an zwei [in den
Archiven aufgefundenen Fall-]
Beispielen aufzeigen. [ ٪
] 1919
beantragte ein Vater die Entlassung seiner Tochter aus der
Fürsorgeerziehung [FE]
mit der Begründung, „da sie mir hier doch auch was
zuverdienen kann, da ich noch neun kleine Kinder im Hause habe und
es auch groß nötig habe.“ Der Antrag wurde
abgelehnt mit dem Hinweis, dass die Anstalt das Mädchen aus
der Familienerziehung, in die es nach längerem Aufenthalt
gegeben worden war, habe zurücknehmen müssen. „Das
Mädchen, durch den jetzt herrschenden Vergnügungsgeist
angesteckt, wollte sich nicht zu Hause halten lassen, sondern ist
gegen den Willen ihrer Herrschaft wieder halbe Nächte
weggeblieben. Zur Verhütung schlimmeren Unheils haben wir sie
zurückgeholt.“ Für P. Oelker war die Gefährdung
der Erziehung der „alleinige in Betracht kommende
Gesichtspunkt“, mit dem er schon 1916
einen Antrag auf Beurlaubung abgelehnt hatte. Die Familie fügte
sich diesem Bescheid. [ ٪
] Das zweite Beispiel zeigt,
selbst wenn man anders gelagerte soziale Verhältnisse und
eine andere Mentalität in Rechnung stellt, doch eine neue
Einstellung gegenüber Heim und staatlicher Aufsicht. Es ging
darum, dass ein Vater 1954
ordnungsgemäß die Rückkehr seiner Tochter, die
sich heimlich aus dem Stift entfernt hatte, anzeigte, aber beim
Niedersächsischen Ministerium in Hannover beantragte, von
einer Rückführung abzusehen. Das Mädchen, das sich
nach „längerem Wandern“ aus Angst vor der
väterlichen Strafe nicht nach Hause zurückgetraut hatte,
war vom Amtsgericht Seesen dem Marienstift zur vorläufigen
Fürsorgeerziehung [FE]
überwiesen worden. Der Vater beantragte nun die Entlassung u.
a. mit folgender Begründung: „Nach bisherigen
Feststellungen wirkt die Erziehungsmethode im Marienstift nicht
gerade fördernd auf die Eingewiesenen, so kommt es sehr oft
vor, dass Eingewiesene
heimlich das Heim verlassen,
die Ursache ist bei allen dieselbe,
nach Angaben der Heiminsassen werden bei jeder Geringfügigkeit
Strafen verhängt, welche
durchweg in Kostentziehung bestehen,
ebenso sind nach Angabe Schläge an der Tagesordnung...
Bei der Jugend meiner Tochter besteht die
Befürchtung, dass bei
einem weiteren Verbleiben im Marienstift sich schwere seelische
Einflüsse einstellen, welche
für das spätere Leben nicht ohne Schaden an ihr
vorübergehen.“
Dieser [1954]
Antrag [wie aus der Akte zu ersehen
ist] hatte einen ausgedehnten Schriftwechsel
zwischen Ministerium, Jugendamt und Marienstift zur Folge. Die
Stellungnahme von Pastor Seebaß kann hier nur verkürzt
wiedergegeben werden. Er berichtet zunächst, dass das Mädchen
eines Tages Schmerzen simuliert habe, um sich vor der Arbeit zu
drücken und im Bett einen Roman zu lesen, den es der
Familienmutter auch nach Aufforderung nicht herausgab. Daraufhin
ließ man sie zwar im Bett, brachte ihr aber kein Essen. Am
nächsten Tag war sie wieder gesund, provozierte dann aber
erneut die Aufsicht führende Schwester, wurde daraufhin von
der allgemeinen Tafel ausgeschlossen und weigerte sich nun „wie
ein Hund nachzuessen, was von den anderen übrigbliebe.“ [
٪
] Sie
lief dann bei der Gartenarbeit mit einer Komplizin weg.
Mit Nachdruck tritt Pastor Seebaß der zweiten Anschuldigung
entgegen: „Nicht besser steht es mit der Behauptung, dass
die Mädchen dauernd geschlagen würden. E. beruft sich
dabei auf Vorgänge, die in der ersten Zeit ihres Hierseins
geschehen sind und entstellt sie gröblich. Es kam bei ihr in
dieser Zeit zu hochgradigen Erregungszuständen, in denen sie
z. B. an einem Sonntag Nachmittag ihrer Familienschwester mehrere
Blumentöpfe mit frisch eingepflanzten Blumen vor die Füße
warf und drohte, alles zu
zerschlagen und sich aus dem Fenster zu
stürzen. Um sie zur Besinnung zu bringen, hat sie
dabei von einer Schwester eine Ohrfeige bekommen. Der
Heimleiter [Pastor Seebaß]
selber hat lange gebraucht, um sie zu beruhigen. Er hat
sie zum Schutz vor sich selbst in
eine Zelle gebracht, womit das Mädchen dann
einverstanden war... Bei einem anderen Vorfall in dieser Zeit ist
es vorgekommen, dass das Mädchen gewaltsam von einem Klosett,
wo es sich eingeschlossen hatte, entfernt werden musste. Dabei hat
sie eine Schwester in den Arm gebissen, diese aber hat dann, um
sie festzuhalten, ihre Haare gefasst. In der Erinnerung des
Mädchens scheinen sich die beiden Vorfälle miteinander
zu vermischen.“ [ ٪
] Nach detaillierten
Ausführungen zu den Aussagen des mit der Betreffenden
weggelaufenen Mädchens schließt der
Anstaltsgeistliche seinen Bericht fm: „Beide
Mädchen wissen ganz genau, dass sie es nur ihrem eigenen
unverschämten und unmöglichen Verhalten zu verdanken
haben, wenn nach unendlicher Geduld auch einmal etwas
mehr Energie aufgewandt werden muss. Sagt doch E.
selbst, dass sie sich nicht bessern könne, weil sie genau
wisse, dass doch keine schärferen Maßnahmen ergriffen
würden.
Es mag bei dieser Gelegenheit an der Zeit
sein, einmal darauf hinzuweisen, dass heute in einem
Erziehungsheim wohl mehr die Erzieherinnen und das Inventar vor
den Hemmungslosigkeiten und Unverschämtheiten der
Jugendlichen geschützt werden müssen, als umgekehrt die
Jugendlichen vor etwa zu strengen Erzieherinnen. Es ist einfach
unglaublich, welche Geduld und Zurückhaltung gegenüber
gemeinsten Ausdrücken und Hemmungslosigkeiten immer wieder
geübt werden muss und geübt wird, um völlig
unerzogenen Menschen zurechtzuhelfen.“
Man sieht
also, dass nicht nur Eltern sich (mit oder ohne Berechtigung)
kritisch zur Fürsorge stellen, sondern dass die den Anstalten
übergeordneten Stellen sich bei eingehenden Beschwerden
veranlasst sahen, Untersuchungen zu veranlassen und ggf.
einzuschreiten. [ ٪
] Der [in
den Akten festgehaltene]
Schriftwechsel zeigt aber auch eindrucksvoll, welchen
Erziehungsproblemen man in den Heimen gegenüberstand. [
٪
] Die Schwestern, die nach
ihrer Eignung ausgesucht wurden, denen aber eine Spezialausbildung
fehlte und die lediglich in regelmäßigen Konferenzen
Schwierigkeiten und Lösungsmöglichkeiten erörtern
konnten, war mit Sicherheit vielfach überfordert. [
٪
] Dass manche von ihnen noch
jahrelang in Briefwechsel mit einigen wenigen ihrer ehemaligen
Zöglinge standen oder auch besucht wurden, steht wohl dafür,
dass sie nicht dem Zerrbild entsprachen, das häufig von ihnen
gemalt wurde. Außerdem hatten sie sich strikt an die
vorgegebenen Normen zu halten, wenn sie sich nicht Ärger
einhandeln wollten. Es blieb ihnen letztlich keine andere Wahl,
als mit Selbstbeherrschung und einem gewissen Gleichmut auf
Ärgernisse zu reagieren. So, wenn Schwester Ilse, der beim
Spaziergang der größte Teil der Mädchen weglief,
zu den Verbliebenen nur sagte: „Ihr könnt auch noch
gehen, wenn ihr wollt!“, wohl wissend, dass diese
Aufforderung nicht befolgt werden würde und die Ausreißer
in den nächsten Tagen ohnehin zurückkehren oder von der
Polizei zurückgebracht würden. Man war solche Vorfälle
eben gewohnt, und Frau Frederiksson erinnert sich, dass „Schwester
Minna wohl sehr erstaunt war, als sie mich vorfand, als sie aus
dem Geschäftshaus wieder raus kam.“
Ob für
alle Mädchen die Zeit in Siloah eine „beste Zeit“
war, wie sich Frau [Inga]
Frederiksson [aus Schweden] erinnert,
die dort nur ein halbes Jahr und nicht als Fürsorgezögling
weilte [sondern die 1948
auf eigenen Wunsch ein halbes Jahr in Siloah verbrachte],
mag bezweifelt werden. [ ٪
] Das Leben in einer
geschlossenen Anstalt dürfte
gerade für Mädchen,
die wegen ihres ungebundenen Lebenswandels eingeliefert wurden,
schon eine harte Erfahrung gewesen sein.
[
٪
] Dazu kam der sehr
streng geregelte Tagesablauf, die Forderung
nach unbedingter Disziplin und die Verpflichtung
zu ungeliebter Arbeit. Auch
die Ungewissheit im Hinblick auf die Zukunft machte den Aufenthalt
nicht gerade erträglicher. Die vielen
bevorstehende Überweisung in
Familiendienststellen wurde weniger als
Verbesserung, sondern eher als Verschlechterung betrachtet, fiel
doch die Gemeinschaft mit den anderen weg. Ausgenutzt
zu werden und als Fürsorgezögling
stigmatisiert zu sein, konnte u. U. in solchem
Verhältnis bitter erlebt werden. [ ٪
] In Siloah mochte wenigstens
zum Teil oder zeitweise das Gefühl entstehen, zu einer - wenn
auch patriarchalisch geführten - großen Familie zu
gehören. Vermutlich freuten sich nicht alle über die
streng eingehaltenen häufigen
Gottesdienstbesuche, die des Weglaufens wegen unter
strikter Bewachung stattzufinden hatten. [
٪
] Aber wenn Weihnachten im
Beisein des leitenden Pfarrers und seiner Familie im großen
Saal gesungen, die Weihnachtsgeschichte gruppenweise aufgesagt und
die Gabentische in Augenschein genommen wurden, gab es wohl doch
das Gefühl, zu einer großen Gemeinschaft zu gehören. [
٪
] Und die sonntäglichen
Kreisspiele auf dem Hof, an denen auch die Pfarrerskinder sich
beteiligten, wirkten sich vermutlich auch wohltuend auf die
allgemeine Stimmung aus.
Der zitierte Bericht von Pastor
Seebaß, der 1936 ans
Landeskirchenamt berufen wurde und seither das Mädchenheim
neben seinen übrigen Aufgaben mit 50 Prozent seiner
Arbeitskraft betreute, bietet nicht nur einen Einblick in die
Alltagswelt der Anstalt, sondern weist zugleich auf die Gründe
hin, die 1954 zur
Aufgabe der Siloaharbeit führten. [
٪
] Bei sinkenden
Eintrittszahlen wurde es immer schwieriger, geeignete Schwestern
für die vielen Stationen des Marienstifts und für die
Erziehungsarbeit speziell zu finden. [ ٪
] Dazu kam, dass das
Mädchenheim
[“Marienstift” in Braunschweig,
auch “Siloah” genannt] angesichts der karg
bemessenen staatlichen Zahlungen wirtschaftlich völlig
unrentabel war und auch die Belegzahlen sanken. [
٪
] So wurde in Siloah ab 1954
ein Säuglings- und Kleinkinderheim eingerichtet, das auf mehr
öffentliche Zustimmung rechnen konnte als die
Fürsorgeerziehung [FE]
in staatlichem Auftrag, die insgesamt keine Zukunft mehr hatte.
(Zur allgemeinen Entwicklung
der Fürsorgearbeitsei auf D. J. K. Peukert: Grenzender
Sozialdisziplinierung, Köln 1986, hingewiesen).
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