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Kirchlicher Fürsorgeknast - Rohrstockrepublik Deutschland
Ein Buch über Menschenrechtsverletzungen in westdeutschen Heimen
Von VICTORIA GROSS - © Die Berliner Literaturkritik, 04.09.06
Der SPIEGEL-Autor Peter Wensierski legt die erste umfassende Darstellung der bis in die Siebziger Jahre herrschenden Zustände deutscher, vor allem katholisch geführter Kinderheime jetzt in der zweiten Auflage vor. Mit Hilfe exemplarischer Erlebnisberichte schildert er die bis heute wirkenden Traumata der damaligen Heimkinder, zu deren Generation auch er gehört.
Der Autor verfolgt das recht ambitionierte Ziel, den ehemaligen Heimkindern zu helfen, ihre Menschenwürde zurück zu gewinnen. Aus der Perspektive der Kinder liefert er eine Innenansicht öffentlicher Erziehung in den Fünfziger und Sechziger Jahren, die er in einzelne Kapitel unterteilt. Peter Wensierski bietet für hunderttausende Heimkinder ein Forum, über ihre Misshandlungen, ihre Zwangsarbeit in den Anstalten, die von einem gesellschaftlichen „Kartell“ aus Institutionen und katholischer Kirche geführt wurden, zu berichten. Mehr als die Hälfte aller Heime in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit hatte einen katholischen Träger.
„Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim!“ So lautete die damals, wie möglicherweise noch bis heute überdauernde, als Erziehungsmethode getarnte Drohgebärde. Aber auch Nachbarn, denen der Autor Frustration zuschreibt, denunzierten die Eltern wegen ihrer sich „herumtreibenden“ Kinder, denen schlimmstenfalls noch Kontakt zu „Halbstarken“ nachgesagt wurde - dies traf besonders alleinerziehende Mütter. Weitere Gründe für Einlieferungen waren beispielsweise ein „ungezügeltes Freiheitsbedürfnis“, „Arbeitsbummelei“ oder schlicht die Tatsache, das uneheliche Kind einer Alleinerziehenden zu sein. Auch kam es vor, dass überlastete Eltern ihre eigenen Kinder abschoben.
Die Einweisungen in Heime und Anstalten erfolgten aufgrund unvorstellbarer Lappalien - schlicht adoleszentem Verhalten. Der Autor bescheinigt der damaligen Gesellschaft eine „Angst vor Halbstarken“. So habe eine individualistische Jugend bereits den Nationalsozialisten als „Feindbild“ gedient - dies sei in der Adenauer-Ära von der Bundesrepublik übernommen worden. Kinder seien als Störfaktor im Wirtschaftswunderland der Produktion und des Wohlstands empfunden worden.
Peter Wensierski beschreibt die deutsche Nachkriegszeit als Phase „emotions- und verständnisloser Jugendfeindlichkeit“. Widersprechen kann man ihm nach der Lektüre seines Buches nicht. Der Autor behauptet an einer Stelle, die soziale Situation derer, die heute „Erziehungshilfe“ in Anspruch nehmen, sei die gleiche wie die vor 30 Jahren. Eine Aussage, die zu überprüfen wäre. Seine Forderung hingegen kann nur unterstützt werden: Ein Schuldeingeständnis, vor allem der katholischen Institutionen, verbunden mit der Bitte um Verzeihung bei den ehemaligen Heimkindern.
„Es bleibt immer das Gefühl, als Mensch nichts wert zu sein“ Die meisten der eingesetzten „Pädagogen“ hatten in der NS-Zeit gelernt. Der von Johanna Haarer verfasste Bestseller „Die Mutter und ihr erstes Kind“ war lediglich eine Neuauflage des Nazi-Erziehungsratgebers „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, der als gängigste Erziehungsmethode das „Kaltstellen“ ungehorsamer Kinder empfiehlt. Dieser Titel erschien erst im Jahre1987 zum letzten Mal. Zudem gab es in den Fünfziger Jahren zwar immer mehr Kinderheime, aber immer weniger Personal - und schon gar kein fachlich qualifiziertes. Heimerzieher benötigten lediglich eine abgeschlossene Berufsausbildung. Wer da nach dem Zweiten Weltkrieg als Erziehungsverantwortlicher eingesetzt wurde, kann man sich vorstellen. Daneben blieben die unter Hitler eingewiesenen Kinder auch nach 1945 in den Heimen oder psychiatrischen Anstalten, die damals als „Lager für Arbeitsbummelanten“ bezeichnet worden waren.
Viele ehemalige Heiminsassen empfinden es als diskriminierend, Heimkind gewesen zu sein. Trotz der heutigen „aufgeklärten Gesellschaft“ fürchten sie sich davor, sich als Heimkind - eine Tatsache, die sie auch im Privaten als Stigma empfinden - zu bekennen. Der Autor berichtet, dass viele von ihnen im Erwachsenenalter auswanderten oder auch unter psychosomatischen Symptomen wie Angstzuständen, Panikattacken oder Suchtverhalten litten - schlimmstenfalls mit der Diagnose latent suizidal. Sie wuchsen in dem Bewusstsein auf, nichts wert zu sein - und das haben sie bis heute verinnerlicht: „Es bleibt immer das Gefühl, als Mensch nichts wert zu sein. Dieses Gefühl sagt mir immer: Versteck dich, verkriech dich in eine Ecke, wo dich niemand sieht.“ An anderer Stelle heißt es: „Schlimmer als der Schmerz der körperlichen Züchtigung selbst war [...] das ständige Gefühl der Angst, die jeden Einzelnen von morgens bis abends begleitete.“.
Der Autor liefert eine recht knappe Beschreibung der damaligen, wie er es nennt, „christlichen Weltanschauung“. Als oberstes Ziel galt die moralisch-religiöse „Charaktererziehung“ durch das Erlernen von Disziplin, Zucht, Ordnung, Arbeit und Sauberkeit. Schreckliches Beispiel hierfür ist das Erlebnis der damals Neunjährigen Carola Koszinoffski, die ihre „Scheinhinrichtung“ erleben mußte. So wurde sie nachts von einer Nonne aus ihrem Bett im Heim geholt, mit dem Befehl im Garten ihr eigenes Grab zu schaufeln. Solche systematischen, vor allem grundlosen Misshandlungen wurden bis heute nie offiziell zugegeben.
„Es hat uns ja auch bis heute keiner gefragt“ Wensierski beschreibt die Erziehungsheime als Wirtschaftsunternehmen mit billigen Arbeitskräften, die ja schließlich auch Unterkunft und Verpflegung bekamen. Eine Auseinandersetzung der früheren Ordensschwestern mit ihren Taten findet nicht statt. Ihr knapper Kommentar: „Darüber haben wir nie gesprochen. Es hat uns ja auch bis heute keiner gefragt.“ Und was ist heute? Heute schmerzt die Erinnerung zu sehr.
Nach der Lektüre bleibt der schwache Eindruck, die Begebenheiten könnten an einigen Stellen eher zu oberflächlich und knapp beschrieben sein, als dass sie mit zu wenig Empathie geschildert wären. Es scheint, der Autor eilt durch Einzelschicksale, streut vereinzelt Fakten ein. Doch vermag er es nicht, den Leser zu „berühren“. Die lediglich wiederholte Erwähnung einer Tat als „grausam“ transportiert diesen Umstand nicht. Interessant sind all diese Schicksale, so wie das Buchprojekt insgesamt wichtig und notwendig ist, schon allein wegen seiner traurigen Aktualität: In diesem Sommer erschien in einer großen deutschen überregionalen Tageszeitung eine Meldung über die Schließung eines Kinderheims wegen „Missständen“. Die Staatsanwaltschaft ermittle wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung gegen die Leitung des Heims.
Victoria Groß arbeitet als freie Journalistin in Berlin für dieses Literatur-Magazin. Literaturangaben: WENSIERSKI, PETER: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in Westdeutschland. Deutsche Verlagsanstalt, München 2006. 207 S., 19,90€.
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