[ Enthoben aus dem
Internet @ ………………………………………………………………………...
]
Warendorf
Lachen
und Weinen strengstens verboten
-ab-
Warendorf. Sie durften nicht sprechen und nicht lachen. Sie kamen
sich vor wie Schwerverbrecher. Noch heute spricht Regina Eppert von
ihrer Vergangenheit oft in der dritten Personso als wolle sie dadurch
Distanz gewinnen zu dem erschütternden Schicksal, das sie in der
Nachkriegszeit mit vielen Kindern und Jugendlichen teilte. Mehr als
500000 junge Menschen wurden in den Jahrzehnten nach dem Zweiten
Weltkrieg in Erziehungsheime eingewiesen. Abgeschirmt hinter hohen
Mauern litten die Heranwachsenden oft unter einer autoritären
Erziehung, die von Gewaltanwendung und Erniedrigung geprägt war.
Das ist das schlimmste Verbrechen der Nachkriegszeit! Nach
jahrzehntelangem Schweigen hat Regina Eppert, die heute in Warendorf
lebt, schließlich den Mut gefunden, über ihre Erinnerungen
zu sprechen.
Wir waren die Verlierer im damaligen
Wirtschaftswunderland, stellt die heute 63-Jährige fest. Die
Verantwortlichen in den etwa 3000 staatlichen und kirchlichen Heimen
in Deutschland hatten selten eine pädagogische Ausbildung. Um
den Gehorsam der Kinder zu erzielen, waren für die Erzieher
körperliche und psychische Gewalt in vielen Fällen das
Mittel der Wahl.
Lachen war verboten. Weinen war verboten.
Fragen war verboten, beschreibt Eppert die Zustände im
katholischen Kinderheim Biesenthal in Brandenburg, in das sie und
Schwester Elke im Alter von sieben und acht Jahren eingewiesen
wurden. Die Mutter der Mädchen hatte ständig laut ihre
Lieblingssendung im verbotenen Westsender Rias gehört und ihre
Meinung offen geäußert. Sie musste sich einer
psychiatrischen Behandlung unterziehen.
Wir durften nach dem
Nachtgebet die Toilette nicht mehr benutzen. Wenn es dann Nachts
passierte, mussten wir am nächsten Morgen mit dem nassen Laken
über dem Kopf durch den Schlafraum laufen, bis das Laken trocken
war, erinnert sich Regina Eppert an die strenge, aus heutiger Sicht
untragbare Erziehung durch die Hedwigschwestern. Neben Stille und
Gebet prägte die Arbeit den Alltag der Heimkinder: Kartoffeln
schälen, Federn zupfen. Die Schule stand hintenan und auf
Reginas Zeugnis war schließlich zu lesen: Es fehlte am
häuslichen Fleiß.
Zweieinhalb Jahre später
durften Elke und Regina wieder zurück zur Mutter. Die Mutter
hörte weiter den Rias nur nicht mehr so laut und flüchtete
Mitte der Fünfziger mit den beiden Töchtern nach
Westberlin. Nach Durchlaufen mehrerer Flüchtlingslager hofften
die Drei, in Altena endlich wie eine normale Familie leben zu können.
Doch die Mädchen blieben Außenseiter. Sie ließen
sich von der Mutter nicht den Umgang mit den Söhnen der
turbulenten Nachbarsfamilie verbieten, trugen Jeans und hörten
Elvis Presley. Ein Lebenswandel, der im biederen
Wirtschaftswunderland nicht gern gesehen war.
Als Regina mit
16 zum zweiten Mal schwanger war – ihr erstes Kind war ein Jahr
zuvor im Säuglingsalter gestorben – geriet sie trotz der
geplanten Hochzeit mit dem Vater des Kindes ins Visier des
Jugendamtes. Wegen drohender Verwahrlosung wurde sie wenige Monate
nach der Entbindung gemeinsam mit ihrer Neugeborenen in das
Dortmunder Vincenzheim für schwererziehbare Mädchen
eingewiesen. Dass sie keine Möglichkeit hatte, sich vor der
Zwangseinweisung in einer Anhörung zu äußern, wirft
sie dem Staat noch heute vor: Wir waren doch anständige
Mädchen.
Wenige Wochen später sah Regina auf dem
Flur plötzlich ihre jüngere Schwester Elke. Sie konnten
sich nur stille Blicke zuwerfen, denn es herrschte absolutes
Schweigegebot auf dem Weg zum Gebet. Wie in einem von Ver- und
Geboten bestimmten Gefängnis empfand das junge Mädchen ihr
Leben im Vincenzheim. Für sie wiederholte sich all das, was sie
als Siebenjährige in Biesenthal erlebt hatte. Abwechslung gab es
kaum. Nur einmal wurde ein Film gezeigt: George Orwells 1984, die
Geschichte eines totalitären Überwachungsstaates in Regina
Epperts Augen eine bittere Ironie.
Nach drei Monaten wurde
Regina vorerst entlassen. Im September heiratete sie den Vater ihrer
kleinen Christine. Doch das junge Glück währte nicht lang,
ein halbes Jahr später erfolgte die erneute Zwangseinweisung ins
Vincenzheim. Obwohl Regina dort bereits nach kurzer Zeit als
Kinderschwester arbeitete, durfte sie ihre eigene Tochter offiziell
nur am Sonntag drei Stunden sehen. Manchmal schlich sie heimlich zu
der Kleinen, während ihre Freundin Lissy an der Tür
Schmiere stand. Ein Kind braucht doch seine Mutter!
Regina
Eppert konnte sich damals nicht wehren, weder gegen die
Zwangseinweisung, noch gegen die Trennung von ihrer Tochter. Wir
wurden gefügig gemacht und viele von uns gehen noch heute den
Weg des geringsten Widerstandes, erzählt sie. Wie viele
ehemalige Heiminsassen litt sie ein Leben lang unter dieser
Vergangenheit. Sie schämte sich, ihren Freunden davon zu
erzählen. Erst jetzt, vierzig Jahre später, sprudeln die
Worte aus ihr heraus.
Sie will nicht mehr verdrängen.
Statt dessen setzt sie sich heute als stellvertretende Vorsitzende
des 2004 gegründeten Vereins ehemaliger Heimkinder (VeH) für
Aufklärung ein. Zur Zeit hat der Verein rund 100 Mitglieder,
aber wir müssen mehr werden, um stark zu sein! Stark sein gegen
die Verdrängung und das Leugnen des Unrechts, das bis in die
siebziger Jahre hinein in deutschen Heimen passiert ist.
Regina
Eppert und ihre Schwester haben die damalige Oberin des Vincenzheims
getroffen. Als wir ihr gegenüber standen, habe ich mich klein
gefühlt, wie damals. Ich dachte wieder: Die hat Macht über
mich, berichtet Eppert. Warum habt ihr euch nicht gewehrt? Davon habe
ich gar nichts gewusst, sagt die ehemalige Heimleiterin, als sie von
den Erlebnissen ihrer Schützlinge erfährt. Eppert möchte
verzeihen, aber bei der Aufarbeitung der Vergangenheit sei sie auch
auf das Entgegenkommen der damaligen Täter angewiesen, so die
63-Jährige.
Ich will keinen Hass versprühen, erklärt
sie. Aber ich will erreichen, dass sich die Verantwortlichen mit uns
an einen Tisch setzen! Wenn die Geschehnisse abgestritten werden, ist
das für Eppert wie ein Schlag ins Gesicht, eine erneute
Demütigung. Die kirchlichen und staatlichen Träger beginnen
langsam und vereinzelt, sich mit diesem düsteren Teil ihrer
Geschichte auseinander zu setzen. Ehemalige Erzieher aus Freistatt
haben sich mit Betroffenen zusammengesetzt. Heutige Heimträger
wie der Landschaftsverband Westfalen-Lippe arbeiten mit dem VeH
zusammen, um aufzuklären und um zu verhindern, dass sich diese
Ereignisse in heutigen Heimen wiederholen.
In den Blickpunkt
der Öffentlichkeit geriet das Schicksal der Heimkinder, als
Spiegel-Autor Peter Wensierski in diesem Jahr das Thema in seinem
Buch “Schläge im Namen des Herrn - Die verdrängte
Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik” aufarbeitete.
Stellvertretend für alle Heimkinder hat auch Regina Eppert unter
ihrem Mädchennamen Regina Page die eigenen Erinnerungen unter
dem Titel “Der Albtraum meiner Kindheit und Jugend”
veröffentlicht. Von ihren Lesern hört sie immer wieder, wie
erschüttert diese über die turbulente Lebensgeschichte der
Warendorferin sind. Am 24. Oktober lesen und diskutieren Peter
Wensierski und Regina Eppert in der Buchhandlung Nanas, Lüninger
Straße 10.
Direktbestellung von “Der Albtraum
meiner Kindheit und Jugend” unter [email protected].
20.
Oktober 2006 | Quelle:
|