Dies
zeigte sich nicht zuletzt an seiner raschen enormen quantitativen
Expansion. Wurden bis 1900 in der Provinz Westfalen jährlich
durchschnittlich 500 Minderjährige zwangsweise öffentlich
erzogen, so wuchs die Zahl nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes
innerhalb von zehn Jahren auf über 5000 an, und auch danach
wies die Tendenz steil nach oben. Parallel zu diesem Anstieg
wandelte sich die Alterszusammensetzung. Der Anteil der
Schulentlassenen, also über 14jährigen unter den neu in
Fürsorgeerziehung Überwiesenen erhöhte sich
innerhalb weniger Jahre von ursprünglich dreißig auf
mehr als fünfzig Prozent. Damit aber erfüllte
Fürsorgeerziehung nicht mehr primär die Funktion eines
vorbeugenden Erziehungsinstruments, sondern erschien –
jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung – vor allem
als Disziplinierungsmaßnahme gegen unangepaßte ältere
Jugendliche. Diese Entwicklung spiegelte symtomatisch ein
Dilemma, mit dem sich die staatliche Ersatzerziehung durch ihre
ganze Geschichte hindurch konfrontiert sah: Sie sollte einerseits
rechtzeitig eingreifen, wo die Erziehung eines Kindes gefährdet
schien, sie hatte andererseits den Primat des Elternrechts zu
wahren und das Staatssäckel nicht übermäßig
zu belasten. Mithin sollte sie zugleich Präventivmaßnahme
wie ‚ultima ratio‘ sein. Vergeblich versuchte die
Fachwelt, dieses Dilemma mit immer neuen juristischen und
sozialpädagogischen Kurskorrekturen aufzulösen.
2.
Die Diagnose der ‚Verwahrlosung‘
Das
Sozialprofil der Klientel der westfälischen
Fürsoregeerziehung blieb bis in die bundesrepublikanische
Zeit hinein erstaunlich konstant. Vor allem ältere
Jugendliche beiderlei Geschlechts aus dem großstädtischen
Unterschichtenmilieu wurden von ihr erfaßt. Dieser Befund
lag gleichsam in der inneren Logik der Fürsorgeerziehung
begründet, war sie doch zutiefst ein Kind bürgerlicher
Ordnungsvorstellungen. Ihre Vertreter – selbst solche, die
sich der Sozialdemokratie verbunden fühlten – maßen
die Lebensverhältnisse ihrer Klientel weitgehend mit der
Elle bürgerlicher Wertmaßstäbe. In ihren
Diagnosen und in ihrem Handeln verquickten sich fürsorgerischer
Helferwille und das Bedürfnis nach Disziplinierung der
‚Unordnung‘, mit welcher sie sich in den Biographien
der Minderjährigen konfrontiert sahen. In
ideengeschichtlicher Perspektive bildete die Fürsorgeerziehung
mithin einen Mosaikstein jenes umfassenden Prozesses
gesellschaftlicher Rationalisierung, dessen charakteristische
Ambivalenz zwischen Fürsorge und Kontrolle sich hier
besonders markant offenbarte. Anders gesagt: Auch das System der
geschlossenen Jugendfürsorge orientierte sich an jenen
aufklärerischen Normen, deren mühsame gesellschaftliche
Durchsetzung Norbert Elias in seinen Reflexionen „über
den Prozess der Zivilisation“9
so anschaulich beschrieben hat: Pazifizierung der
zwischenmenschlichen Beziehungen, Unterscheidung von ‚Mein‘
und ‚Dein‘, ‚Dämpfung der Triebe‘,
Affektkontrolle, Durchsetzung von ‚Scham und Peinlichkeit‘,
rationales und langfristiges Planungsverhalten sowie ganz
besonders die Hochschätzung der Arbeit. Unter solchen
Parametern mußten primär die Lebensbedingungen des
urbanen Proletariats als Nährboden dissozialen Verhaltens
erscheinen und so ins Visier der Jugenfürsorge geraten.
Was
die konkreten Einweisungsgründe in der Fürsorgeerziehung
betrifft, so lassen die in den Akten der westfälischen
Fürsorgeerziehungsbehörde zahlreich überlieferten
vormundschaftsgerichtlichen Anordnungsbeschlüsse10
erkennen, daß es eine relativ beschränkte Zahl von
Verwahrlosungsmerkmalen gab, die von den Richtern immer wieder
angeführt und miteinander kombiniert wurden. Dazu zählten
neben elterlicher Vernachlässigung oder Misshandlung vor
allem Charakterzuschreibungen wie „Unehrlichkeit“,
„kriminelle Neigungen“, „Aufsässigkeit“,
„Gewalttätigkeit“, „Unsauberkeit“,
„Vergnügungs- und Geltungssucht“, „sexuelle
Triebhaftigkeit“, „Herumtreiben“, schlechte
Schulleistungen und „Arbeitsbummelei“.
Eindeutig
war auch die geschlechtsspezifische Differenzierung der
Verwahrlosungsindikationen: Während männliche
Minderjährige überproportional häufig aufgrund von
Eigentumsdelikten ins Visier der Jugendfürsorge gerieten,
standen bei Mädchen über den gesamten Zeitraum hinweg
sexuelle Auffälligkeiten an erster Stelle.11
Ein weiterer augenfälliger Befund der Statistik ist der
Anstieg bestimmter Verwahrlosungsindikatoren im ‚Dritten
Reich‘. Dazu gehörten vor allem das der ‚sexuellen
Verwahrlosung‘ bei Mädchen und noch stärker der
‚Arbeitsscheu‘ bei Jungen.12
Anfang
der fünfziger Jahre entstanden bei dem münsterischen
Sozialpädagogen Friedrich Siegmund-Schultze zwei
Dissertationen, die sich mit dem „Lebenserfolg“
ehemaliger westfälischer Fürsorgezöglinge
beschäftigten, die 1943 bzw. 1946 aus der Heimerziehung
entlassen worden waren.13
Ihre anhand der Fallakten zusammengetragenen Angaben über
die Einweisungsgründe der Minderjährigen bestätigen
die oben beschriebene Koppelung mehrerer und Häufung
geschlechtsspezifischer Verwahrlosungszuschreibungen. So
ermittelte Otti Düchting, daß 79,2 Prozent der von ihr
untersuchten 230 Mädchen von den Überweisungsbehörden
als „sexuell verwahrlost“, 54,8 Prozent als
„diebisch“, 34,4 Prozent als „verlogen“
und 28,7 Prozent als „arbeitsscheu“ bezeichnet worden
waren.14
Hans Bönsch kam in einer analogen Studie über männliche
Zöglinge zu dem Ergebnis, daß knapp die Hälfte
seiner 600 Probanden wegen „verschiedener
Erscheinungsformen von Verwahrlosung“ überwiesen
worden war, jeweils ein knappes Viertel wegen „Diebstahls“
bzw. „Arbeitsbummelei“ und der Rest wegen
„Umhertreibens oder Schulschwänzens“.15
Die
Studien von Bönsch und Düchting belegen ebenso wie die
überlieferten Einweisungsbeschlüsse, daß sich der
„kontrollierende Blick“16
der Öffentlichkeit auf die ‚gefährdete Jugend‘
weder durch die nationalsozialistische Machtübernahme 1933
noch durch den politischen Systemwechsel des Jahres 1945
gravierend veränderte. Norm blieb auch in den
Nachkriegsjahren, was realiter in der Trümmerzeit nicht
‚normal‘ war. Dementsprechend änderten sich auch
die wahrgenommenen Abweichungen nicht oder kaum: Diebstahl,
‚Arbeitsscheu‘ sowie – vor allem bei Mädchen
– sexuelle Devianzen blieben ungebrochen die entscheidenden
Gradmesser von ‚Verwahrlosung‘. Hauptgrund dafür
war, daß die genannten Verhaltensweisen im Urteil der
Öffentlichkeit gegen eine nach wie vor gültige
Kernprämisse der Gesellschaft verstießen: eine um
Arbeit, Eigentum und Familie zentrierte Lebensführung. Dies
bedeutet zugleich, daß sich die Fachvertreter der
Jugendführsorge – so rückständig ihre
Vorstellungen aus heutiger Sicht zum Teil erscheinen mögen –
in hohem Maße im Konsens mit dem ‚Zeitgeist‘
befanden. Als Repräsentanten eines ungeliebten
wohlfahrtsfürsorgerischen Ausfallbürgen versuchten sie
exakt das umzusetzen, was auf diesem schwierigen Terrain
zumindest das Gros der Öffentlichkeit bis in die sechziger
Jahre hinein von ihnen erwartete: die Aufrechterhaltung jener
tradierten sozialmoralischen Leitnormen, denen die
industriegesellschaftliche Zivilation ihr Funktionieren
verdankt.
3.
Der Alltag der Fürsorgeerziehung
Als
ähnlich beständig wie die Kritien, nach denen Kinder
und Jugendliche als ‚verwahrlost‘ gestempelt wurden,
erwiesen sich auch die Ideale und Mechanismen des Alltags der
Heimerziehung: Leitmotiv blieb über den gesamten
Untersuchungszeitraum hinweg der Gedanke der
Anpassungsbedürftigkeit an vorgegebene Normen, zentrale
Charakteristika waren ein um die ‚Erziehung zur Arbeit‘
zentrierter, starr reglementierter und kollektivistischer
Tagesablauf sowie ein ausgeklügeltes System von Strafe und
Belohnung. So unterlagen Briefe von Angehörigen der Zensur;
geistige ‚Bildung‘ erschöpfte sich nicht selten
in religiösen Belehrungen oder dem täglichen
Auswendiglernen einer Liedstrophe, beim Essen hatte Schweigen zu
herrschen, die Schlafsäle wurden streng überwacht, das
Rauchen galt – jedenfalls bei Mädchen – ebenso
als moralisch verwerflich wie der Austausch von
Zärtlichkeiten.
Das wesentliche Charakteristikum der
traditionellen Anstaltspädagogik war die „Matrix der
Regelmäßifkeit“, die den Tagesablauf
bestimmte.17Der
reformorientierte Pädagoge Egon Behnke faßte 1932 den
spezifischen Geist dieser Erziehung ebenso prägnant wie
einfühlsam zusammen:
„Jedem Kenner von Anstalten alter Richtung fallen ihre sehr
feste Tradition, die streng geregelte Tageseinteilung, das starke
Gefüge der Hausordnung und der Hausgesetze auf. Nicht
zufällig kommt dort der Zögling in einen festgespannten
Rahmen von Pflichten, die klar, eindeutig übersichtlich,
auch für den Neuling leicht verständlich sind. Schon
nach den ersten Tagen sind Form und Inhalt der kommenden Tage,
Wochen, ja Monate leidlich voraussehbar. Das Drückende
sowohl wie der Reiz der Neuheit schwinden bald; Eintönigkeit
des Lebens, verhältnismäßig wenig unterbrochen,
führt zu rascher ‚Gewöhnung‘. Von ihr
verspricht sich die A[nstalts] E[rziehung] … ein
Mehrfaches. Mit ihr und in ihr versinken sollen die bewegte,
bunte und nicht immer erfreuliche Vergangenheit und alle ihre
lockenden, glänzenden, irrlichternden Erinnerungen. Aus der
Gewöhnung an das gleichmäßige, ruhig
dahingleitende Anstaltsleben sollen Kraft und Wille gewonnen
werden, das oft übersteigert gewesene Triebleben
zurückzuweisen in die ihm durch Natur und Ethik gezogenen
Schranken. Während der Gewöhnung und durch sie sollen
im Wesen des Menschen Fuß fassen die in der Anstalt geübten
und gelehrten Tugenden: Sauberkeit, Ordnung, Höflichkeit,
Hilfsbereitschaft, aber auch Fleiß, Wahrheitsliebe …,
gesundes Schamgefühl, Ehrgefühl usw., und sollen ihm
dadurch bindende Norm für sein ganzes zukünftiges Leben
werde.“18
Arbeitssaal
des Ev. Magdalenenheims in Dortmund (aus: Paul Seiffert, Deutsche
Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild, Bd. 1, Halle
1912)
In der öffentlichen Wahrnehmung
wurde Fürsorgeerziehung weithin mit Heimunterbringung
gleichgesetzt. De facto aber bildete die Anstalt für die
meisten Jugendlichen nur eine mehr oder minder lange
Durchgangsstation auf dem Weg in eine private Pflegestelle. In
Westfalen wie in ganz Preußen war – mit gewissen
Schwankungen – jeweils rund die Hälfte aller
Fürsorgezöglinge in Familien, Dienst- oder Lehrstellen
untergebracht. Vor allem jüngere Kinder gelangten, zumal
wenn sie aufgrund ungünstiger familiärer Verhältnisse
der Fürsorgeerziehung überwiesen worden waren, oft
schon nach wenigen Wochen in Pflegefamilien. Ältere
Jugendliche hingegen blieben meist wesentlich länger in den
Anstalten. Überwacht wurden die Pflegestellen sowohl durch
örtliche Fürsorgerinnen der caritativen Vereine als
auch durch regelmäßige Revisionen der
Fürsorgeerziehungsbehörde. Die von beiden Instanzen
verfaßten Inspektionsberichte neigten im allgemeinen zur
‚Weichzeichnung‘ der Verhältnisse in diesen
Stellen: Typisch waren lapidare Bemerkungen wie „alles in
Ordnung“, „hat sich sehr gut eingelebt“, „läßt
sich bisher leiten und ist zufrieden“, „ist wie ein
Kind im Hause“.19
Relativiert wird die Aussagekraft solcher Urteile durch das
Faktum, daß viele Jugendliche bereits nach wenigen Wochen
aus ihren Pflegestellen entliefen – um dann meist mit Hilfe
ihrer Heimat-Jugenämter wieder ‚aufgegriffen‘
und in das zuständige Erziehungsheim zurückgebracht zu
werden. Insgesamt waren die Beziehungen zwischen Pflegeeltern und
Pfleglingen so facettenreich wie die normalen Familien auch. Sie
reichten von der wirklichen ‚Ersatzfamilie‘ bis hin
zur kaum verdeckten Ausbeutung. Über die Motive der meisten
Pflegeeltern gab sich die Fürsorgeerziehungsbehörde
keinen Illusionen hin. Nüchtern bemerkte sie 1924, „daß
die Familien im allgemeinen nur geneigt sind, körperlich
gesunde Kinder, die sich schon durch kleine Handreichungen
nützlich machen können, die ihnen jedenfalls durch
außerordentliche Pflege keine besondere Last machen dürfen,
bei sich aufzunehmen.“20
Eine „Wegnahme aus der Stelle“ aber fand schon
angesichts des Mangels an Pflegefamilien nur dann statt, wenn ein
ganz offensichtlicher Mißbrauch des Kindes vorlag.
Daß
nicht selten auch das Verhalten des Zöglings den Anlaß
zur Auflösung des Pflegevertrages gab, kann kaum verwundern:
Für manchen der – mehr oder minder
erziehungsschwierigen – Jugendlichen war die Verpflanzung
in eine gänzlich andere, fast immer ländliche Umgebung
fern ab der gewohnten Lebenswelt kaum zu ertragen. Diese
Unterbringung auf dem Lande entsprach exakt dem
zivilisationskritischen Entstehungsimpuls der kaiserzeitlichen
‚Jugendfürsorge‘. Deren geradezu dualistisches
Gesellschaftsbild stilisierte die industrielle Großstadt
zum Synonym für ‚Verwahrlosung‘ und ‚Verfall‘
und setzte ihr das Ideal einer ‚ursprünglichen‘,
‚gesunden‘, ‚geordneten‘ ländlichen
Lebenswelt entgegen. Eine solche an antimodernen sozialen Idealen
orientierte Pädagogik aber übersah „geflissentlich
…, daß sich die Erziehung der Zöglinge
schließlich unter den Bedingungen der industriellen
Lebenswelt zu bewähren hatte.“21
4.
Zwischen Modernisierung und Regression
Doch
so unbeirrbar vormodern sich die geschlossene Jugendfürsorge
einerseits gebärdete, so sensibel spiegelte ihre Entwicklung
zugleich die Wechselfälle der Geschichte des 20.
Jahrhunderts. Dies zeigte sich schon in ihren kaiserzeitlichen
Methodendiskussionen, die emsig die Fortschritte der Wissenschaft
in Medizin, Psychiatrie und Pädagogik rezipierten. Das
Mangel- und Inflationsjahrzehnt zwischen 1914 und 1924 hingegen
warf die geschlossene Jugendfürsorge in Methoden und
Standards erheblich zurück. Erst die relative
Stabilisierungsphase der Weimarer Republik setzte sie wieder
unter Reformdruck. Dieser manifestierte sich primär in einer
weiteren Verfeinerung der schon vor 1914 begonnen Differenzierung
der Anstaltserziehung unter psychiatrischen und pädagogischen
Vorzeichen, die sich unter dem Einfluss einer breiten
sozialpädagogischen Modernisierungsdiskussion vollzog. Auf
der anderen Seite sah sich die Fürsorgeerziehung in den
zwanziger Jahren einem unverkennbaren Marginalisierungsprozeß
ausgesetzt. War sie bei ihrer Einführung noch fast so etwas
wie eine ‚Allzweckwaffe‘ der Jugendführsorge
gewesen, so wurde ihr durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von
1922/24 bzw. den dadurch forcierten Ausbau jugendfürsorgerischer
Infrastruktur nach und nach ein ganzes Tableau weniger
repressiver Instrumentarien, von der Schutzaufsicht bis zur
Erziehungsberatung, an die Seite gestellt.22
Die Folge war ein kontinuierlicher Rückgang der Einweisungen
vor allem jüngerer Minderjähriger in öffentliche
Erziehung, was wiederum zu einer wachsenden Überalterung des
‚Zöglingsbestands‘ führte. Parallel dazu
geriet die Fürsorgeerziehung seit Mitte der zwanziger Jahre
auch durch eine Kette von Anstaltsrevolten und -skandalen
publizistisch und politisch unter Druck.23
Je mehr sich das gesellschaftliche Klima der Weimarer Republik
insgesamt liberalisierte, um so mehr erschien offenkundig
wachsenden Teilen der deutschen Öffentlichkeit die
zwangsweise Anstaltsunterbringung Jugendlicher als ein
archaisches Diziplinierungsrelikt aus obrikeitsstaatlicher
Vorzeit.
Schon am Ausgang der zwanziger Jahre befand sich
die geschlossene Jugendfürsorge damit in einer tiefen Krise.
Mit der katastrophalen wirtschaftlichen Depression, die 1930 über
den Weimarer Wohlfahrtsstaat hereinbrach, verschärfte sich
diese Krise naturgemäß erheblich. Erneut und besonders
drastisch zeigte sich jezt die generelle Abhängigkeit der
Jugendhilfe von den Konjunkturzyklen der Volkswirtschaft. Der
allgemeine Sparzwang löste in der Fachwelt einen promten
Rückfall in antiindustrielle und repressive
Erziehungskonzepte aus und machte zugleich radikale
Aussonderungsstrategien gegenüber den sogenannten
‚Unerziehbaren‘ mehrheitsfähig. Westfalens
Fürsorgeerziehungsdezernent Schulze-Steinen z.B. regte
gegenüber seinen preußischen Amtskollegen schon im
September 1930 an, „die Unerziehbaren unter Anwendung
geringster Kosten und unter Verzicht auf teure
Erziehungsmaßnahmen“ in Arbeitshäusern oder
„Verwahrungsabteilungen“ unterzubringen.24
Der
Beginn des ‚Dritten Reiches‘ schien für die
Fürsorgeerziehung zunächst keine wirkliche Zäsur
zu makieren. Nationalistische Ideologieelimente boten den meisten
Experten nur zusätzliche Argumentationshilfen, um ihre im
Kern bereits zwischen 1929 und 1933 wiederentdeckten autoritären
Erziehungsvorstellungen ‚zeitgemäß‘ zu
untermauern. Solchen Kontinuitäten standen freilich
gravierende Diskontinitäten gegenüber, die auf das
grundlegend andere nationasozialistische Verständnis von
‚Volkswohlfahrt‘ verweisen. Das Maß aller
NS-Sozialpolitik nämlich war der ‚gesunde
Volkskörper‘. Nicht das Wohl des Einzelnen zählte,
sondern einzig die rassenbiologisch definierte Stärkung der
‚Volksgemeinschaft‘. Dieser Paradigmenwechsel prägte
auch die nationalsozialistischen Vorstellungen von Jugendhilfe.
Nicht mehr das einzelne Kind hatte ein Recht auf Erziehung,
sondern die Volksgemeinschaft einen Verfügungsanspruch auf
den Nachwuchs, dessen Wert sich an biologistischen Kriterien von
‚gesund‘ und ‚krank‘, ‚rassisch
hochstehend‘ und ‚rassisch minderwertig‘ maß.
Diesem „rigiden dichothomischen Schema“25
entsprechend geriet die geschlossene Jugendfürsorge von
Beginn an unter das Verdikt der ‚Minderwertigenfürsorge‘.
Am krassesten offenbarte sich das in dem Einbruch der
Rassenhygiene in die Fürsorgeerziehung. Im Zuge des
Sterilisierungsgesetzes von 1933 wurden in Westfalen
allein bis Anfang 1941 über 450 Fürsorgezöglinge
zur Unfruchtbarmachung verurteilt. Eine Reihe weiterer
Jugendlicher wurde als ‚unerziehbar‘ bzw.,
‚gemeinschaftsunfähig‘ entweder in
neuerrichteten, äußerst primitiven
,Bewahrungsabteilungen‘ in der Provinz Westfalen selbst
eingesperrt oder aber in die 1940 bzw 1942 geschaffenen
polizeilich geführten, KZ-ähnlichen „Jugendschutzlager“
Moringen bei Göttingen und Uckermarck in Mecklenburg
abgeschoben.26
Die
so vollzogene Ausgrenzung ‚erbkranker‘,
‚gemeinschaftsunfähiger‘ und ‚nichtarischer‘
Elemente vollzog im wesentlichen Entwicklungen nach und mit, die
auf anderen Feldern, vor allem der Psychiatrie, vorexerziert
wurden.27
Gleichzeitig knüfte die Jugendfürsorge der NS-Zeit in
der Behandlung der von jeher als Belastung empfundenen Klientel
der Schwererziehbaren und Verhaltensauffälligen an die in
der Krise des Weimarer Wohlfahrtsstaates geformten Wertigkeits-
und Aussonderungsvorstellungen an, überformte sie aber
rassenhygenisch. Begünstigt wurde diese Verformung durch das
Bemühen etablierter Fachleute, ihr sparsamkeits- und
effizienzorieniertes Rationalisierungsdenken mit den biologischen
Axiomen des NS zu harmonisieren.
Trotz solcher
Anpassungsbemühungen und Affinitäten waren freilich die
Inkongruenzen zwischen beiden Ansätzen auf Dauer
unübersehbar. Mit seinem offenen Vernichtungswillen
markierte das Vorgehen der Nationalsozialisten nicht nur eine
kategoriale Differenz zu den – bei aller
sozialdisziplinierenden Zielrichtung doch immer auf eine
‚Normalisierung‘ der Betroffenen ziehlenden –
Ursprungsideen der Jugendfürsorge, sondern unterschied sich
auch fundamental von den extremen Sparkonzepten der
Weltwirtschaftskrise. Unter den sozialbiologischen und
rassistischen Paradigmen des Hitler-Regimes sollten als ‚unwert‘
betrachtete Jugendliche nicht mehr nur ‚ausgesondert‘
bzw. ‚bewahrt‘, sondern letztlich ‚ausgemerzt‘
werden. Deutlicher als jeder andere Bereich der Jugendhilfe
dokumentierte daher der Umgang mit ihrer klassischen
Problemgruppe, daß der Nationalsozialismus zwar an
Kontinuitäten – in diesem Fall den
Aussonderungsdiskurs der Weimarer Krisenjahre – anknüfte,
aber in seiner Radikalität zugleich aus diesen hinauswuchs
und einen „qualitativen Bruch“ mit der Vergangenheit
vollzog.28
Die nationalsozialistische Sozialpolitik ist damit, jedenfalls
was den Umgang mit ihren ‚Stiefkindern‘ in der
Jugendfürsorge anbetrifft, „nur als
wohlfahrtsstaatliche Regression angemessen zu begreifen“.29
5.
Führsorgeerziehung nach 1945
Mit dem
Untergang des ‚Dritten Reiches‘ verschwand zwar der
rassenhygienische Rahmen, der 1933 um die Jugendfürsorge
gelegt worden war; ihr sozialmoralischer Normenkanon und ihre
sozialdisciplinierenden Intentionen aber veränderten sich –
wie gesagt – kaum. Und auch die
paternalistischen-repressiven Methoden der Fürsorgeerziehung
blieben durch den erneuten politischen Systemwechsel zunächst
fast unberührt. Speziell britische Beobachter vermerkten
gravierende pädagogische Defizite. Eine
Sachverständigenkommission, die Ende 1947 im Auftrage des
englischen Innenministeriums mehr als siebzig deutsche
Jugendfürsorgeeinrichtungen besichtigten, kritisierte
anschließend speziell die Verhältnisse in der Provinz
Westfalen in aller Deutlichkeit:
„Unser genereller Eindruck von den Heimen in Deutschland
ist, daß es diesen nicht gelingt, die fundamentalen
Bedürfnisse der Kinder zu verstehen, und dies war insgesamt
besonders in Westfalen der Fall, wo auf allen Ebenen ein
auffälliger Mangel an Ideenreichtum in der Behandlung
schwieriger Kinder besteht. … In der Praxis ist klar, daß
ein oder zwei Hauptprinzipien im Betrieb aller Heime akzeptiert
werden: a) daß Kinder beständig überwacht werden
müssen, b) daß ein Kind nicht fähig ist
irgendeine Wahl von irgendwelcher Bedeutung ohne Anleitung zu
treffen, c) daß die Einheit im Heim immer die Gruppe und
nicht das Individuum ist, d) daß die Hauptarbeit des Heimes
darin besteht, dem Kind das beizubringen, was ihm fehlt und nicht
darin, seine bestehenden Fähigkeiten weiter zu
entwickeln.
Wir hätten uns damit begnügen
können, die Bedingungen in den Heimen auf Unterschiede in
nationalen Wesenszügen oder Anschauungsdifferenzen
zurückzuführen, wenn es nicht so wäre, daß
wir in einem auffallenden Ausmaß in Westfalen ständig
genau jene praktischen Probleme angetroffen hätten, wie sie
in den englischen Besserungsanstalten und Gewerbeschulen vor 25
oder 30 Jahren zu finden waren. Wir fanden die gleichen
Tendenzen, Kinder als billige Arbeitskräfte zu
gebrauchen, den gleichen Mangel an Phantasie in der
Freizeitplanung, den gleichen bärbeißigen Gehorsam
älterer Jungen und Mädchen, die gleichen Strafen
(wie das Scheren der Köpfe und Einzelhaft), das
gleiche Mißverhältnis zwischen Landarbeit und anderen
Beschäftigungen, das gleiche unterbezahlte und sozial
unterprivilegierte Personal, das gleiche Fehlen kommunaler
Überwachung und kommunalen Intresses, den gleichen
Mangel an Inspiration und Ermutigung von höherer Stelle.“30
Mochte
das harsche Urteil der Briten auch durch mangelnde Vertrautheit
mit den deutschen Wohlfahrtstraditionen oder gar unterschwellige
antideutsche Ressentiments gefärbt sein – im Kern war
seine Berechtigung kaum zu bestreiten. Die deutsche
Führsorgeerziehung litt unverkennbar unter einem
Modernisierungsdefizit, das zum Teil auf den materiellen
Mangellagen der Trümmerzeit, aber mindestens ebenso sehr auf
der starren Traditionsverhaftung ihrer Fachvertreter beruhte:
„Die materielle Substanz der Anstalten war zerstört,
doch die Substanz traditioneller Erziehungsvorstellungen war
geblieben.“31
Wie zu ‚Kaisers Zeiten‘ wurde die Pädagogik der
Anstalten wesentlich von den alten preußischen
Polizeitugenden Ordnung, Fleiß und Sauberkeit bestimmt. Und
auch die ‚Erziehungsinstrumente‘ erschienen in hohem
Maße „archaisch“.32Die
Kahlrasur des Kopfes blieb – jedenfalls in Westfalen –
nach 1945 zunächst ebenso Teil des Strafkatalogs wie
Isolationsarrest und Prügelstrafe.
Selbst in den
fünfziger und frühen sechziger Jahren war der
Heimalltag – das offenbaren sowohl die Einzelfallakten als
auch die einschlägige Fachliteratur – noch in hohem
Maße repressiv: aufgebaut auf ein ausgeklügeltes
System von Belohnung und Strafe, gegliedert in einen starr
reglementierten kollektivistischen Tagesablauf und orientiert an
Erziehungsnormen, die den Einzelnen nicht an dem maßen, was
er konnte, sondern daran, was er nicht konnte.33Mit
derartigen Methoden fiel die Fürsorgeerziehung der
Nachkriegszeit zum Teil erheblich hinter den sozialpädagogischen
Erkenntnisstand der Weimarer Republik zurück.
Jugendliche
bei der Arbeit in einem industriellen Fertigungsbetrieb (aus:
Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Tätigkeitsbericht 1956 –
1960, Münster 1960)
Immerhin stieg mit
der wirtschaftlichen Konsolidierung des bundesrepublikanischen
Sozialstaats seit Beginn der fünfziger Jahre der Reformdruck
auch auf die Fürsorgeerziehung stetig an.34
Bemerkenswert rasch griff dabei – ungeachtet seiner
konservativen Grundausrichtung – nicht zuletzt das
westfälische Landesjugendamt die Anstöße der
wiedererwachenden sozialpädagogischen Fachdiskussionen zur
Differenzierung, Professionalisierung und Liberalisierung der
Heimerziehung auf und gab sie an die von ihm belegten
konfessionellen Einrichtungen weiter. Das galt für die
Forderung nach der Schaffung familienähnlicher Kleingruppen
ebenso wie für die nach einer sozialpädagogischen
Qualifizierung des Erzieherstabs und einer Verbesserung des
Freizeitangebots. Die Chronik des Martinistifts Appelhülsen
vermerkte dazu 1955 lakonisch: „Die Behörde drängt
darauf, möglichst kleine Gruppen einzurichten. … ‚Mit
uns zieht die neue Zeit!‘ Wir müssen mitgehen. Und so
ziehen unsere Jungen für eine Woche gruppenweise zum Zelten
ins Sauerland und an den Niederrhein. Die Behörde wünscht
es.“35
Besonders
beachtenswert war die Propagierung psychotherapeutischer Methoden
in der Heimerziehung durch das Landesjugendamt und seiner
Leiterin Ellen Scheuner. Die Landrätin folgte damit exakt
dem Generaltrend bundesrepublikanischer Sozialpädagogik, die
– in Adaption angloamerikanischer Einflüsse –
seit Beginn der fünfziger Jahre einhellig die Psychologie zu
ihrer neuen Leitdisziplin erkor.36
Das damit verbundene Bestreben, speziell den
individuell-psychischen Ursachen jugendlicher ‚Verwahrlosung‘
stärker Rechnung zu tragen, bildete auch das zentrale Motiv
für den Aufbau der Westfälischen Klinik für
Jugendpsychiatrie, die – maßgeblich auf Initiative
von Ellen Scheuner hin – Ende 1951 im Johannesstift
Marßberg entstand. Die seit 1952 in Güterloh,
seit 1965 dann in Hamm angesiedelte Einrichtung erhielt
die Aufgabe, „schwererziehbare Kinder und Jugendliche, bei
denen geistige oder seelische Regelschwierigkeiten auftreten“,
während eines rund sechswöchigen stationären
Aufenthalts zu beobachten und anschließend Vorschläge
für ihre angemessene Weiterbehandlung zu machen.37
Gerade die Geschichte dieses progressiven Modellprojektes
offenbart freilich auch die dunklen Kontinuitäten
jugendfürsorgerischer bzw. –psychiatrischer
‚Modernisierung‘. Denn zur Leiterin der
neugeschaffenen Einrichtung berief die Provizialverwaltung mit
der Psychiaterin Elisabeth Hecker ausgerechnet eine Frau, die
zwischen 1941 und 1945 als leitende Mitarbeiterin der sogenannten
‚Kinderfachabteilung‘ der oberschlesischen
Provinzialheilanstalt Lublinitz/Loben tief in die
‚Kindereuthanasie‘ des ‚Dritten Reiches‘
verstrickt gewesen war.38
Eine
andere von Ellen Scheuner bereits 1950 benannte „Lücke“
in der westfälischen Heimerziehung 39
schloß der Landschaftsverband erst 1965
mit der Eröffnung des in Eigenregie betriebene
Landeserziehungsheim Dorsten.40
Zur Begründung für den gewählten Standort „am
Rande des Industriegebietes“ hieß es, durch diese
Lage solle den erziehungsschwierigen Jungen eine Ausbildung „in
der eisenschaffenden und –verarbeitenden Industrie“
ermöglicht werden.41
Damit machte die Behörde sich endlich an die Realisierung
jener Forderungen nach Anpassung der Fürsorgeerziehung an
die Bedürfnisse eines industriell geprägten
Arbeitmarktes, wie sie reformorientierte Sozialpädagogen
schon mehr als dreißig Jahre zuvor erstmal erhoben hatten.
Die skizzierte Umorientierung reagierte vor allem auf die immer
deutlicher zutage tretenden Unzuträglichkeiten zwischen der
nach wie vor weitgehend agrarisch ausgerichteten
Fürsorgeerziehung einerseits und den städtisch-industriell
geprägten Lebenswelten der meisten betroffenen Jugendlichen
andererseits. Das eigentliche Modernisierungsdefizit der
deutschen Jugendfürsorge konnte allerdings auch deren
verstärkte industrieweltliche Öffnung seit Beginn der
sechziger jahre nicht beseitigen. Es bestand darin, daß
nach 1945 überhaupt noch in großem und – wenn
man die Fürsorgeerziehung und die in Westfalen erst 1944
eingeführte Freiwillige Erziehungshilfe42
zusammennahm – bis 1956 sogar steigendem Umfang auf das
interventionistische Instrument der Anstaltsunterbringung
zurückgegriffen wurde.43
Den
endgültigen Richtungswechsel von der Intervention zur
Prävention, von stationären Zwangsmaßnahmen zu
offenen, freiwilligen und lebensweltnahen Angeboten und –
grundlegend – vom Primat einer Stabilisierung
gesellschaftlicher Ordnung zur anwaltschaftlichen Hilfe für
das Individuum in der Jugendhilfe leitete allerdings erst das
Reformklima der ausgehenden sechziger Jahre ein, das durch seine
aggressiven ‚Heimkampagnen‘ die öffentliche
Ersatzerziehung erheblich unter Druck setzte.44
Dies schlug sich vor allem in einem starken Rückgang der
Überweisungszahlen nieder. Von 1965 bis 1975 sank die Zahl
der Fürsorgezöglinge in Westfalen von über 4.000
auf 900 ab. Das westfälisch-lippische Landesjugendamt
bemerkte dazu 1973 in seinem Tätigkeitsbereich unverhohlen
kritisch: „Die Ursachen für das Absinken sind
vielgestaltig. Die Hauptursachen dürften die gewandelten
Bewertungsmaßstäbe der Gesellschaft und die
systematisch betriebene Diskreditierung der Erziehungsheime sein,
die nur zu oft zur Folge hat, daß zum Schaden des jungen
Menschen bis zum Eingreifen länger gewartet wird.“45
Zwei Jahre später hieß es dann:
„Die Kritik an der Heimerziehung verunsicherte die
Erzieher, beschleunigte jedoch auch die seit langem laufenden
Reformen: Begünstigt durch den … zahlenmäßigen
Rückgang sind die Gruppengrößen in den Heimen auf
höchstens 12 Plätze herabgesetzt, im besonderen Falle,
z.B. bei heilpädagogisch arbeitenden Heimen, gehen sie bis
auf 9 Plätze herunter. Die Besetzung mit Fachkräften
konnte verstärkt, die Zahl der Erzieher pro Gruppe auf 3 - 4
Kräfte erhöht werden. Verbesserte Aus- und
Fortbildungsangebote kamen hinzu. Dadurch wurde die Entwicklung
zum partnerschaftlichen Erziehungsstil erleichtert. Die
eingehenden Bemühungen der beteiligten öffentlichen und
freien Träger der Jugendhilfe stärkten das Bewustsein
der gemeinsamen Verantwortung für die Beseitigung von
Mißständen und die Entwicklung neuer Hilfenormen …
Um den gefährdeten Kindern und Jugendlichen rechtzeitig
adäquäte Hilfe vermitteln zu können, ist es
notwendig, die Früherfassung, die Möglichkeiten der
Diagnose und letzlich auch ambulante Formen von Beratung und
Therapie weiter auszubauen.“46
Mit dem Kinder und
Jugendhilfegesetz von 1990 verschwand das inzwischen fast zur
Bedeutungslosigkeit geschrumpfte Instrumentarium der
Fürsorgeerziehung – genau wie die Freiwillige
Erziehungshilfe – dann offiziell aus dem Maßnahmekatalog
der öffentlichen Jugendhilfe. Das Gesetz hob FE und FEH auf
und übertrug die Zuständigkeit für
Erziehungshilfen jeder Form auf die örtlichen Jugendämter.47
Ein neunzig Jahre zuvor mit enormen öffentlichen Erwartungen
initiertes Gesellschaftsexperiement
fand so ein unspektakuläres Ende.
|
Fußnoten
(fortgesetzt) ____________________________
9
Norbert Elias, Über den Prozeß der
Zivilation. Soziogenische und psychogenische Untersuchungen, 2
Bde., 2. Aufl., Bern/München 1969.
10
ALWL, C 50 I-IX.
11
Vgl. für die Weimarer Zeit Gräser, S. 92;
für die NS-Zeit Carola Kuhlmann, Erbkrank oder erziehbar?
Jugendhilfe als Vorsorge und Aussonderung in der
Fürsorgeerziehung in Westfalen von 1933 – 1945,
Weinheim/München 1989, S. 95 – 99, und Rudolf Kraus,
Die Führsorgeerziehung im Dritten Reich (1933 – 1945),
in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 5
(1974), S. 161 – 210; für die Nachkriegszeit Helmut
Naunin (Bearb.), Landschaftliche Selbstverwaltung. Wiederaufbau
in Westfalen 1945 - 1951, Dortmund 1952, S. 160.
12
Vgl. Alfons Kenkmann, Jugendliche
„Arbeitsbummelanten“ und die Akteure der sozialen
Kontrolle gegen Ende des „Dritten Reiches“ und
während der Besatzungszeit, in: Burkhard Dietz/Ute
Lange/Manfred Wahle (Hg.), Jugend zwischen Selbst- und
Fremdbestimmung. Historische Jugendforschung zum
rechtsrheinischen Industriegebiet im 19. und 20. Jahrhundert,
Bochum 1996, S. 273 – 288.
13
Otti Düchting, Der Lebenserfolg ehemaliger
schulentlassener weiblicher Fürsorgezöglinge, Phil.
Diss. Münster 1952; Hans Bönsch, Der Lebenserfolg der
Fürsorgeerziehung bei männlichen Fürsorgezöglingen,
Phil. Diss. Münster 1953; vgl. auch Friedrich
Siegmund-Schultze, Neue Untersuchungen über den Erfolg der
Fürsorgeerziehung, in: Soziale Welt 5 (1954), S. 241 –
249.
14
Düchting, S. 110. Da sich in der Addition eine
Prozentsumme von fast 200 ergibt, muß eine Reihe von
Mädchen mit mehreren Verwahrlosungsmerkmalen belegt worden
sein.
15
Bönsch, S. 62. Anders als Düchting
versuchte Bönsch, jeden seiner Probanden jeweils nur einer
Verwahrlosungsform zuzuordnen und schlüsselte zudem die
wegen „verschiedener Erscheinungsformen“ ergangenen
Einweisungen nicht auf. So kam er auf insgesamt 100 Prozent.
16
So Alfons Kenkmann, Fürsorgeberichte, in: Bernd
A. Rusinek/Volker Ackermann/Jörk Engelbrecht (Hg.),
Einführung in die Interpretation historischer Quellen.
Schwerpunkt Neuzeit, Paderborn 1992, S.
152.
Fußnoten
(fortgesetzt) ____________________________
17
Gräser, S. 96.
18
Egon Behnke, „Alte“ und „moderne“
Erziehungsgrundsätze in der Fürsorgeerziehung, in:
Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt [ZBlJR] 24
(1932/33), S. 2 –12, 49 – 55, hier S.
9f.
Fußnoten
(fortgesetzt) ____________________________
19
Vgl. die zahlreichen Inspektionsberichte in den
Fallakten der Fürsorgeerziehungsbehörde (ALWL, C
50I).
20
Bericht über die Ergebnisse der
Provinzialverwaltung 1922/23, S. 132.
21
Gräser, S.
216.
Fußnoten
(fortgesetzt) ____________________________
22
Zur Ausdifferenzierung der Jugendfürsorge in
der Weimarer Republik vgl. zusammenfassend ebd., S. 81 –
90.
23
Vgl. Peukert, S. 240 – 248; für Westfalen
Kuhlmann, S. 30 – 35.
Fußnoten
(fortgesetzt) ____________________________
24
Konferenz der preußischen
Fürsorgeerziehungsdezernenten, 1.-2.9.1930 (Landesarchiv
Berlin, Rep. 142/6 B 1343).
25
Jochen-Christoph Kaiser, NS-Volkswohlfahrt und freie
Wohlfahrtspflege im „Dritten Reich“, in:
Hans-Uwe/Heinz Sünker, Politische Formierung und soziale
Erziehung im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1991, S.
83.
Fußnoten
(fortgesetzt) ____________________________
26
Vgl. grundlegend die fast 400seitige
sozialpädagogische Fachhochschul-Diplomarbeit von Martin
Guse/Andreas Kohrs, Die „Bewahrung“ Jugendlicher im
NS-Staat. Ausgrenzung und Internierung am Beispiel der
Jugendkonzentrationslager Moringen und Uckermarck (Typoskript)
Hildesheim 1985; dies., Zur Entpädagogisierung der
Jugendfürsorge in den Jahren 1922 – 1945, in:
Otto/Sünker, Arbeit, S. 228 – 249; Martin Guse, „Wir
hatten noch garnicht angefangen zu leben“. Eine Ausstellung
zu den Jugend-Konzentrationslagern Moringen und Uckermarck 1940 –
1945, Moringen 1992; vgl. auch Michael Hepp, Vorhof zur Hölle.
Mädchen im „Jugendschutzlager“ Uckermerck, in:
Angelika Ebbinghaus (Hg.), Opfer und Täterinnen.
Frauenbiographien des Nationalsozialismus, Nördlingen 1987,
S. 191 – 216; Peukeret, S. 288 – 291; Kuhlmann, S.
202 – 207.
27
Vgl. dazu Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft
in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz
Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996.
28
Vgl. dazu generell Thomas Nipperdey, 1933 und
Kontinuität der deutschen Geschichte, in: ders., Nachdenken
über die deutsche Geschichte. Essays, München 1986, S.
236.
29
Eckart Pankoke/Christoph Sachße, Armutsdiskurs
und Wohlfahrtsforschung. Zum deutchen Weg in die industrielle
Moderne, in: Stefan Leibfried/Wolfgang Voges (Hg.), Armut im
modernen Wohlfahrtsstaat. Opladen 1992, S.
167.
Fußnoten
(fortgesetzt) ____________________________
30
Report of the Home Office Delegation to the British
Zone of Germany, App. C: The Situation in Westphalia (Public
Record Office Kew [PRO], FO 1013 193). Übersetzung vom
Verfasser.
31
Matthias Almstedt/Barbara Munkwitz, Ortsbestimmung
der Heimerziehung. Geschichte, Bestandsaufnahme,
Entwicklungstendenzen, Weinheim/Basel 1982, S. 15.
32
Report of the Home Office Delegation, App. C (wie
Anm. 30).
33
Vgl. z.B. Erich Kiehn, Praxis der Heimerziehung,
Freiburg 1965, dort v.a. das Kapital ‚Heimordnung‘
(S. 52 – 58) – das in der 3. Aufl. des Buches von
1972 bezeichenderweise nicht mehr auftaucht. Einen detaillierten
Einblick in Standards und Selbstverständnis der
geschlossenen Jugendfürsorge bieten Friedrich Trost/Hans
Scherpner )Hg.), Handbuch der Heimerziehung, Frankfurt a.M. 1952
–
1966.
Fußnoten
(fortgesetzt) ____________________________
34
Von den
Reformbestrebungen der fünfziger Jahre zeugen insbesondere
eine Reihe von Artikeln in der 1949 gegründeten Zeitschrift
„Unsere Jugend“; vgl. zusammenfassend
Almstedt/Munkwitz, S. 18 – 21; Hans Nootbaar, Sozialarbeit
und Sozialpädagogik in der Bundesrepublik 1949-1962, in:
Rüdeger Baron/Rolf Landwehr (Hg.), Geschichte der
Sozialarbeit. Hauptlinien ihrer Entwicklung im 19. und 20.
Jahrhundert, Weinheim/Basel 1983, S. 275 – 277.
35
August Stähler, Das St. Marienstift. Seine
Wurzeln und sein Werden, in: Marienstift Appelhülsen:
Festschrift, 79, Nottuln 1979, S. 118.
36
Vgl. die einschlägigen Beiträge in:
Trost/Scherpner, v.a. S. 97 – 215; außerdem Edward R.
Dickinson, The Politics of German Child Welfare from the Empire
to the Federal Republik, Cambridge/London 1996, S. 257 –
262, 272f.
37
Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hg.),
Tätigkeitsbereich 1951 – 1954, S. 29f.
38
Vgl. ALWL, PA Hecker; Franz-Werner Kersting,
Anstaltsärzte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Das
Beispiel Westfalen, Paderborn 1996, S. 350 – 352; Götz
Aly, Der saubere und schmutzige Fortschritt, in: ders. u.a.,
Reform und Gewissen. „Euthanasie“ im Dienst des
Fortschritts, Berlin 1985, S. 38, und Zdzislaw Jaroszewski
(Red.), Die Ermordung der Geisteskranken in Polen 1939 –
1945, Warschau 1993, S. 171 – 175.
Fußnoten
(fortgesetzt) ____________________________
39
Scheuner an Landesrat Schulte-Broich, 29.11.1950
(ALWL, C 10/11 293d).
40
Zu Dorsten vgl. den Beitrag von Karl-Heinz Menzler
in diesem Band.
41
Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hg.),
Tätigkeitsbericht 1956 – 1960, S. 82f.
42
Vgl. dazu den Beitrag von Karl Abel in diesem
Band.
43
Die Problematik gerade der ohne gerichtlichen
Beschluß angeordneten FEH in Hinblick auf Art. 104 GG
(Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung) wurde in Fachkreisen
früh diskutiert. Vgl. z.B. Gerhard Potrykus, Freiwillige
Erziehungshilfe und Artikel 104 GG, in: ZBlJR 47 (1960), S. 233 –
236; Walter Becker, Das Problem der Freiheitsentziehung in der
freiwilligen Erziehungshilfe, in: ebd. 48 (1961), S. 1 - 13.
44
Zu den Aktionen und publizistischen Polemiken, in
denen sich die wachsenden Widersprüche zwischen
Heimerziehung und gesamtgesellschaftlichem Reformklima entluden,
vgl. z.B. Rose Ahlheim u.a., Gefesselte Jugend. Fürsorgeerziehung
im Kapitalismus, Frankfurt a.M. 1971; Peter Brosch,
Fürsorgeerziehung. Heimterror und Gegenwehr, Frankfurt a.M.
1971; Ulrike Meinhoff, Bambule. Fürsorge – Sorge für
wen?, Berlin 1971; zusammenfassend Almstedt/Munkwitz, S. 29
–45.
45
Daten Fakten Trends. 20 Jahre Landschaftsverband
Westfalen-Lippe 1953 – 1973, S. 70f.
46
Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hg.), Planen,
Bauen, Helfen, Pflegen 1970 – 1975, Münster 1975, S.
60.
47
Achtes Buch Sozialgesetzbuch: Kinder- und
Jugendhilfe vom 26.6.1990 (BGBl. I, S. 1163). Vgl. Wolfgang
Gernert, Kooperationspartner Landesjugendamt: in: ders. (Hg.),
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz 1993. Anspruch und praktische
Umsetzung. Eine Einführung in das Achte Buch Sozial-
gesetzbuch (SGB VIII), Stuutgart u.a. 1993, S. 356f., und
Johannes Münder u.a., Frankfuhrter Lehr und Praxiskommentar
zum Kinder- und Jugendhilfegesetz. Stand: 1.4.1993, Münster
1993, S. 268 – 272.
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