CHRISMON:
Auch in evangelischen Jugendheimen herrschten in den Fünfzigern
heillose Zustände. Warum
bitten Sie nicht um Entschuldigung, Herr Gohde? JÜRGEN
GOHDE: Das Unrecht an
den Menschen, das geschehen ist, muss einem unendlich leidtun. Man
muss das aufarbeiten. Wir haben kein Interesse, irgendetwas unter
den Tisch zu kehren. Unsere Archive sind offen. Wir werden jeden
dabei unterstützen, seine Akten einzusehen. Ich kann mir aber
nicht vorstellen, dass eine Entschuldigung von mir den Menschen
wirklich hilft. Das wäre zu einfach. Es kommt darauf an, dass
der Begegnungs- und Versöhnungsprozess vor Ort, in den
Einrichtungen in Gang kommt, indem sich die heute Verantwortlichen
mit den Opfern von damals an einen Tisch setzen. Gewalt hat damals
ihren Ort mitten in der Gesellschaft gehabt.
Fühlen
sich die Einrichtungen nicht im Stich gelassen, wenn Sie die Bitte
um Entschuldigung nicht selbst aussprechen? GOHDE: Im
Gegenteil, sie selbst halten diesen Weg für sinnvoll.
Wie
stellen Sie sich diesen Weg vor? GOHDE: Wir werden auf gar
keinen Fall Dinge tun, die zu Lasten der Betroffenen gehen. Wir
sagen den Heimen, dass sie, so gut es geht, Akteneinsicht gewähren
mögen. Eine Akte, die gegen uns spricht, ist besser als eine
verloren gegangene Akte! Wir sagen auch: Wenn ihr Festschriften
veröffentlicht, lasst diese Zeit nicht aus!
Fürchten
Sie Entschädigungsforderungen? GOHDE: Wir haben keinen
Anhaltspunkt dafür, dass auf Weisungen und systematisch
Unrecht begangen wurde. Wo es sich um Übergriffe und
Verletzungen von Menschen handelt, sind die Einrichtungen auf der
Ebene von Begegnung, Aufarbeitung und Entschuldigung gefragt. In
dem Zusammenhang wird es auch darum gehen, welche Rentenansprüche
ehemalige Heimkinder nachträglich aus geleisteter Arbeit
geltend machen können, denen im Rentenverlauf entsprechende
Zeiten fehlen. Dafür haben diakonische Einrichtungen bereits
Bescheinigungen ausgestellt.
In
Irland wurden Heimbetreiber gerichtlich zu Entschädigungen
verurteilt. GOHDE: Das deutsche
Opferentschädigungsgesetz legt die Hürden höher.
Ich wehre mich gegen Schwarz-Weiß-Malerei. Wir brauchen eine
wissenschaftliche Aufarbeitung, was wirklich passiert ist. Wir
werden ohne jede Beschönigung alles wahrnehmen.
Ist
Peter Wensierskis Buch keine genaue Untersuchung? GOHDE: Das
Buch lässt persönlich Betroffene sprechen. Es trägt
dazu bei, dass Menschen das Lebensschicksal von Heimkindern und
ihr Leid überhaupt wahrnehmen. Das ist wichtig. Ich bin froh,
dass es das Buch gibt. Es bricht ein Tabu. Aber es ist keine
systematische Analyse.
Hat
sich die Diakonie bislang um das Thema gedrückt? GOHDE:
Die Diakonie weist schon seit langem auf die Problematik der
Heimkinder hin. In Freistatt haben sich die Verantwortlichen schon
Mitte der fünfziger Jahre gefragt, ob sie denn die Arbeit
weiterhin tun sollen und dürfen angesichts knappen Geldes,
angesichts von Erziehern, die an der Zumutbarkeitsgrenze
gearbeitet haben. Die Öffentlichkeit hatte kein Interesse an
dem Thema, auch nicht an der Konzeptionsveränderung in
unserer Erziehung. Und das Desinteresse hält ja weiter an.
Heute wird, gegen unseren Rat, der Ruf nach härteren Strafen
und Wegsperren vereinzelt wieder laut. Grundsätzlich sind
aber die Erziehungstraditionen der fünfziger und sechziger
Jahren in Deutschland noch so gut wie gar nicht aufbereitet.
Deshalb gehen wir nun systematisch an das Thema ran.
Die
meisten Heime waren kirchlich. Fällt damit nicht die
Hauptverantwortung auf Caritas und Diakonie? GOHDE: Dann
müssen Sie auch nach der Verantwortung von Richtern und
Jugendämtern fragen. Wir haben die Heimaufsicht in der
heutigen Form erst seit 1961. Sie wurde auch dann nicht sehr
intensiv betrieben. Wensierski spricht von Hunderttausenden
Heimkindern, aber er unterscheidet nicht zwischen der freiwilligen
Heimerziehung und der Fürsorgeerziehung in geschlossenen
Heimen. Die meisten Kinder waren in der Heimerziehung. Wer jetzt
nach Bescheinigungen für nicht eingezahlte
Rentenversicherungsbeiträge fragt, war im Bereich der
Fürsorgeerziehung. Wir werden die Zahlen wissenschaftlich
aufarbeiten. Dafür veranstalten wir eine Tagung in Berlin.
Außerdem geben wir eine unabhängige wissenschaftliche
Studie in Auftrag. Wir haben bereits Studien über die Rolle
der Diakonie bei den Zwangsarbeitern vorgelegt, die uns viel
Anerkennung einbrachten. Das machen wir nun ganz ähnlich.
Wie
konnten christliche Heime so brutal werden? GOHDE: Es gab
eine Fülle von verpassten Chancen. Man darf nicht vergessen:
Das antiautoritäre Erziehungsmodell von Summerhill begann
schon in den zwanziger Jahren mit der "Neuen deutschen
Schule" in der Künstlerkolonie Hellerau bei Dresden. In
den dreißiger Jahren kam das Leitbild der
Sittlichkeitserziehung und das Ordnungsideal auf, dazu die
Distanzierung von demokratischen Modellen. Die Diakonie hat all
das sicher mehr vorangetrieben als andere. Von 1935 bis 1955 fiel
die Ausbildung der Erzieher für die kirchlichen Einrichtungen
faktisch aus. Da klafft eine Lücke von zwanzig Jahre. Hinzu
kamen restaurative Tendenzen in der Pädagogik der fünfziger
Jahre. Und es galt, die Kriegsfolgen zu bewältigen. Die
Notversorgung mit völlig überfüllten Heimen,
traumatisierte Kinder und Erzieher, die direkt aus dem Krieg
gekommen waren. Die kamen quasi von der Straße und fingen
gleich an zu arbeiten. Niemand fragte, was sie im Krieg gemacht
haben und ob sie eine adäquate Ausbildung haben. Es war kaum
Geld da. In den sechziger Jahren wusste jeder: Das geht nicht so
weiter. Aber außerhalb von Fachkreisen hat das kaum jemanden
interessiert. Da waren vor allem Wirtschaftswunder und Vergessen
angesagt.
DIE
FRAGEN STELLTE BURKHARD WEITZ
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