„Da
muss ich immer weinen“
Betroffene
erzählen bei der Vorstellung des Buches über
Heimkinder
Von
Bettina Sangerhausen ––––––––––––––––––––––––
Erfahrungsbericht: Hans-Peter Jung (links) gehörte zu den Diskussionsteilnehmern, die berichteten, was sie selbst in deutschen Heimen erlebten. FOTO: SOCHER
GUXHAGEN / KASSEL.
„Ich kann das nicht lesen“, sagt
Hans-Peter Junge, „jedenfalls nicht in einem Stück. Dann
muss ich immer weinen.“ Es ist seine eingene Geschichte und
Schicksale wie seines, die der Buchautor Peter Wensierski
aufgeschrieben hat. Seine Recherchen führten den Autor auch nach
Guxhagen, ins ehemalige Kloster Breitenau, heute Gedenkstätte
und Psychiatrische Klinik.
Was Junge und tausende anderer
Männer und Frauen in ihrer Kindheit in deutschen Heimen erlebt
haben und erleiden mussten, lässt die Zuhöhrer im
Willi-Seidel-Haus ganz still werden. Bis eine Diskussion beginnt, in
der sich Trauer, Wut, Hilflosigkeit, aber auch der Wunsch nach
Aussöhnung mischen.
„Schläge im Namen des
Herrn“ lautet der Titel des Buches, das Wensierski in Kassel
vorstellt. Proppenvoll ist es im Saal, jemand bringt noch zusätzliche
Stühle herbei, trotzdem finden nicht alle Sitzplätze. Außer
Peter Wensierski sind die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr.
Sabine Hering und der Leiter des Kasseler Jugendamtes, Volkhardt
Strutwolf, als Fachleute dabei. Mit ihnen will der Autor über
sein Buch diskutieren, doch dazu kommt es gar nicht mehr. Schnell
übernimmt das Publikum das Reden. Und, sagt Wensierski, „das
ist auch gut so“. Die Heimkinder hätten schon zu lange
geschwiegen, aus einer Scham heraus, die ihm, Wensierski, auch heute
noch begegne: „Ich habe seitenlange Briefe bekommen, in denen
Betroffene schildern, was ihnen im Heim angetan worden ist.“,
erzählt er. Darunter stünden dann Vermerke wie, er möge
bitte vorsichtig sein, falls er die Schreiberin anrufen möchte,
denn „mein Mann weiß nicht, dass ich im Heim war.“
Die
Heimerziehung in Deutschland in der Nachkriegszeit bis Anfang der
70er-Jahre sei noch wenig erforscht, sagt Prof. Sabine Hering. Klar
sei, dass sich Traditionen der Erziehung aus dem Kaiserreich und der
Zeit des Nationalsozialismus in den Heimen am längsten gehalten
hätten. Die Resonanz auf die Veröffentlichung von
Wensierskis Buch zeige, dass die Misshandlungen keine Einzelfälle
waren. In der Fachliteratur jener Zeit sei viel davon die Rede, dass
man nur durch Kontrolle und Strafen Kinder erziehen könne. Für
eine breit angelegte Forschung auf diesem Gebiet gebe es kein Geld.
Es wäre zu überlegen, dafür eine Stiftung zu gründen,
sagte Dr. Hering.
Auch Strutwolf führt auf eine Frage des
Moderators Markus Desaga das damalige gesellschaftliche
Grundverständnis von Erziehung ins Feld und versichert: „Wir
versuchen alles, es heute besser zu machen.“
Immer
wieder wird deutlich, dass den Betroffenen ein Wort des
Eingeständnisses ihrer früheren Peiniger wichtig wäre.
Monika Rode, war als Mädchen im Erziehungsheim in Guxhagen. Sie
sagt, seit der öffentlichen Erklärung des LWV, sich bei den
Heimkindern zu entschuldigen, fühle sie sich besser. Eine andere
Frau, die bisher vergeblich versucht hat, mit ihren Erzieherinnen zu
reden: „Solange sie nicht einsehen, dass sie Schuld auf sich
geladen haben, solange können wir nicht verzeihen. Ich habe
meine Würde verloren. Die möchte ich wieder haben.“
►
Peter Wensierski, „Schäge im Namen des Herrn. Die
verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bunderepublik“.
Spiegelbuch. DVA 2006.
©
Hessische Zeitung. Zeitung in Kassel für Nordhessen und
Niedersachsen. Herstellung: Zeitungsdruck Dietrich GMbH & Co
KG
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