Wer kennt Waltraud Jung aus dem Mädchenheim Weiher?
Das Haus Weiher war bis 1972 eine Erziehungsanstalt für schwererziehbare Mädchen, ein Teil der Rummelsberger Anstallten.
Viele Zöglinge waren in diesem Heim. Einige wenige haben entweder eine Lehre in der Wäscherei oder eine Schneiderlehre gemacht.
Heute sind nicht nur die psychischen Folgen dieser Zeit bekannt sondern auch die Fakten, dass Rentenjahre aus dieser Zeit fehlen.
Meine Geschichte aus dem Haus Weiher soll dazu anregen, dass sich viele aus Weiher melden damit die Verfehlungen aus der Heim-Zeit ein Recht finden.
Auszug aus: „Vom Feuer in die Hölle“ Meine Jugendjahre im Mädchenheim
Nach endlich 6 mal ausreißen sagte ich den kaltherzigen Beamten im Jugendamt, dass, wenn sie mich wieder nach Hause schicken würden, ich stehlen oder sogar einen Mord begehen würde, um in's Gefängnis zu kommen, das mir wesentlich menschlicher vorkam als mein Elternhaus. Endlich wurde ich erhört und ich kam in das Mädchenheim "Elisabeth" in Augsburg. Ich glaubte der Hölle zu Hause entkommen zu sein. Ohne mir ein Wort zu sagen, oder meine Bedürfnisse zu beachten, veranlasste das Jugendamt eine Verlegung. 6 Monate später wurde ich wie ein Stück Vieh in's Mädchenheim Weiher in Hersbruck transportiert. Ich wusste aber nicht, dass ich in eine neue Abteilung der Hölle kam, in das "heilige Feuer der Hölle". Das Mädchenheim Weiher wurde von der Bruderschaft Altdorf betrieben, unter der Leitung von Bruder Buchta. Jetzt lernte ich den Rest einer unglaublichen Grausamkeit kennen, die nur von Menschen ausgeübt werden kann. Unterdrückung und Beschämung war die schwarze Pädagogik im Haus der immer Betenden, denen, die sich die "Sündenlosen", die "Guten" nannten. Ich lernte schnell den Unterschied, dass hier die Gewalt unter dem Deckmantel Jesus Christus ausgeübt wurde und ich dadurch noch wertloser war als zu Hause. Bestrafungen, wie mir erklärt wurde, sind für die Bildung eines besseren Charakters, damit man Gott würdig wird. Widerspruch gegen diese würdelose Behandlung wurde mit dem Tragen einer blaukarierten Bluse und Rock bestraft, die uns als "unverbesserlich" markierten.
Unsere eigene Kleidung war in eine große Kleiderkammer gesperrt und keines der 300 Mädchen im Heim hatte Zugang. Unterwäsche wurde von den Erzieherinnen einmal pro Woche ausgehändigt. Eine Bluse musste 14 Tage getragen werden, ein Rock vier Wochen.
Montag bis einschließlich Samstag arbeiteten wir, entweder in der Landwirtschaft, in der Wäscherei oder in der Näherei, von 7:30 bis 18 Uhr und ohne Bezahlung.
Nach einem Jahr durfte ich eine dreijährige Schneiderlehre beginnen. Die Lehrstelle war im zweiten Haus auf dem gleichen Gelände. Wir Schneiderinnen, erhielten ein Taschengeld von 11 DM pro Monat. Davon mussten wir unsere Seife und Zahnpasta kaufen, der Rest musste für Stoff für das Prüfungskleid am Ende der Lehre gespart werden.
Das tägliche Waschen am Morgen und Abend mit kaltem Wasser wurde von den Erzieherinnen überwacht. Acht Mädchen standen nackt in einem kalten Waschraum mussten alle Teile des Körpers waschen. Von gierigen Blicken der Erzieherinnen wurde jede Bewegung mit dem Waschlappen überwacht und manchmal fuhr die Hand einer Erzieherin über den Rücken, mit der Bemerkung: "Du hast was vergessen." Duschen für 3 Minuten mit warmem Wasser war nur alle 14 Tage erlaubt und das auch wieder nur unter Bewachung. Haare durften nur alle 4 Wochen gewaschen werden.
Alles war überwacht, alles war kontrolliert, sogar wie oft man auf's WC ging, menschliche Bedürfnisse blieben unbeachtet. Aber, es wurde immer gebetet, morgens, mittags und abends. Jeden Sonntag durften die "Braven", die sich nicht schuldig machten, die den Hausgesetzen folgten, in 4 kleine Gruppen aufgeteilt in die Kirche von Weiher nach Hersbruck wanderten. Es sollte eine Belohnung sein die 2 Kilometer bei Hitze, Regen, Schnee und Frost zu gehen. Das war der einzige Kontakt zu der Außenwelt, aber es war uns verboten mit anderen Menschen in der Kirche oder auf dem Weg dorthin zu sprechen.
Briefe durften wir nur an Eltern und enge Verwandte schreiben und auch diese wurden von den Erziehern gelesen. War der Inhalt nicht der Hausregel entsprechend oder wenn wir uns über die Zustände hier beklagten, verschwand der Brief, ohne es dem Schreiber zu sagen. Für drei Jahre fragte ich mich, warum mir niemand schrieb. Als 50 jährige erfuhr ich zum ersten Mal, dass meine Cousine mir viele Briefe geschrieben hatte, die ich nie erhielt.
Das Essen war mehr als miserabel und einseitig. Alles war Dampfkost, viel Kartoffeln und ganz selten Fleisch. Das Frühstück war jeden Tag das Gleiche: eine Scheibe altes Brot mit einer messerspitze Marmelade. Der Schimmel am Brot wurde weggeschnitten bevor es uns serviert wurde. Die Erzieherinnen hatten selbstverständlich frisches Brot, eine Auswahl von Wurst, Käse Marmelade und Jogurt.
Als an einem Sonntag im Dessert Maden aus den Eiswaffeln krabbelten, war das Ende meiner Grenze des Erdultens erreicht und ich riss aus. Ich wurde wieder eingefangen und erhielt eine Tracht Prügel von der Heimleiterin Frau Klose. Meine langen Haare wurden abgeschnitten und musste nun die übliche Strafkleidung: blaukarierter Rock mit blaukarierter Bluse tragen. Aber das war nicht alles.
Ich wurde für vier Wochen in ein Dachzimmer mit einem kleinen vergitterten Fenster eingesperrt, mit nur einer Matratze, keine Bettwäsche, keine Zudecke, kein Kopfkissen. Tagsüber war es dampfend heiß und nachts viel zu kalt.
Ich bekam zwei Mal am Tag Essen und durfte morgens und abends auf die Toilette. Eine Erzieherin brachte das Essen. Sie sperrte die Türe auf, öffnete sie einen Spalt und schob das Essen und ein Glas Wasser über den Boden mit dem Fuß wortlos in's Zimmer und versperrte die Türe sofort wieder. Niemand durfte mit mir sprechen, niemand durfte mit mir Kontakt aufnehmen. Ich durfte weder lesen noch schreiben. In der zweiten Woche begannen Depressionen und Selbstmordgedanken. Ich merkte, wie die Isolation eine Spaltung meines Bewusstseins verursachte. Das logische Denken trat immer mehr in den Hintergrund und Emotionen flüchteten in eine Fantasiewelt als Ersatz. Um mich zu vor dieser fortschreitenden Spaltung zu schützen begann ich das Zimmer abzumessen. Ich setzte einen Fuß vor den anderen und zählte die Schritte. Als dieses Spiel dann eine Automatisierung annahm, zählte ich die Leisten am Holzboden. In der dritten Woche war auch diese Beschäftigung nicht mehr erfüllend und ich begann die Flecken an der Zimmerwand mit Spucke und meinen Fingern zu reinigen. Später weichte ich mit Spucke die Wand an manchen Stellen auf, um die Haarrisse in der Wand zu reparieren.
Zum Schluss konnte ich nicht mehr schlafen. Entweder schreckte ich mitten in der Nacht auf weil ich glaubte, dass jemand im Zimmer ist der mit mir reden wollte, oder ich konnte nicht einschlafen ohne meinen Kopf und Oberkörper zu wiegen.
Nach diesen vier Wochen hatte ich eine dominierende Angst gegen alle Menschen entwickelt und konnte mich nur schwer wieder in die Gruppe eingliedern. Natürlich musste ich die blaukarierte Strafkleidung für weitere 8 Wochen tragen. Der Spott anderer Mitzöglinge und die Einschränkungen, die die Strafkleidung mit sich brachte, verfolgte mich bis zu meiner Entlassung.
In den 3 Jahren erduldete ich nicht nur die mentale und psychische Grausamkeit der Erzieherinnen und die eines religiösen verlogenen Systems, ich war auch der sexuellen Gewalt anderer Zöglinge hilflos ausgesetzt. Meine Kindheit, wie auch meine Jugend, waren ein unmenschliches Trauma das nur Hass und Wut als Ergebnis haben kann.
Trotz allem bestand ich meine Gesellenprüfung als Schneiderin und verließ das Mädchenheim Weiher als 19Jährige nach drei Jahren. Ich war ein junges Mädchen, mental verstümmelt, die nun in ein Leben geschickt wurde, um zu beweisen, dass sie ein wertvolles, funktionierendes Mitglied der Gesellschaft ist. 42 Jahre lang hielt ich diesen endlosen und zerstörenden inneren Schmerz der Wertlosigkeit in mir geheim, aus Scham und Schuldgefühl. Ich wollte nicht, dass die Menschen mit dem Finger auf mich zeigten. Ich wusste aber, dass ich kein Verständnis von der Gesellschaft in der ich lebte erwarten konnte. Ich verstand auch damals noch nicht, dass es NICHT die Schuld des Kindes ist, sondern derer die die Kinder erziehen.
Waltraud Jung
heute: Sieglinde Waltraud Alexander ( 2. November 2006 )
Sieglinde ist Betreiberin der Webseite "Erwachsene misshandelt als Kinder" www.emak.org und ist kontaktierbar @ Email: [email protected]
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