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Ehemalige
Heimkinder
Die Verbandsversammlung des
Landeswohlfahrtsverbandes Hessen hat in ihrer Plenarsitzung am 5.
April 2006 einstimmig beschlossen:
”Der
Landeswohlfahrtsverband Hessen erkennt an, dass bis in die 70er Jahre
auch in seinen Kinder- und Jugendheimen eine Erziehungspraxis
stattgefunden hat, die aber aus heutiger Sicht erschütternd ist.
Der LWV bedauert, dass vornehmlich in den 50er und 60er Jahren Kinder
und Jugendliche in seinen Heimen alltäglicher physischer und
psychischer Gewalt ausgesetzt waren.
Der
Landeswohlfahrtsverband spricht sein tiefstes Bedauern über die
damaligen Verhältnisse in seinen Heimen aus und entschuldigt
sich bei den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern die körperliche
und psychische Demütigungen und Verletzungen erlitten
haben.
Der Landeswohlfahrtsverband Hessen wird sich weiterhin
offensiv mit diesem Kapitel seiner Vergangenheit auseinandersetzen
und sich den Fragen und Unterstützungsersuchen ehemaliger
Bewohnerinnen und Bewohner stellen sowie die in seinen Möglichkeiten
liegende Unterstützung leisten.” (Gemeinsame
Resolution aller Fraktionen der Verbandsversammlung)
Rede
auf der Plenarsitzung der Verbandsversammlung 2006 des
Landeswohlfahrtsverbandes Hessen am 5. April 2006.
Herr
Präsident, Kolleginnen und Kollegen, sehr verehrte ehemalige
Heimkinder
Die
Verbandsversammlung des Landeswohlfahrtsverbandes bittet alle
ehemaligen Kinder und Jugendlichen um Entschuldigung, denen in seinen
und anderen Heimen und Einrichtungen körperliche und psychische
Gewalt angetan worden ist.
Wir bedauern zutiefst, dass ihnen
auch Leid zugefügt worden ist von denjenigen, die Sie durch ihre
Obsorge (sorgende Aufsicht) davor schützen wollten. Dass so
etwas möglich war, können wir uns nur dadurch erklären,
dass wir unsere tätige Mitmenschlichkeit zutiefst vernachlässigt
haben. Namens dieser Versammlung bitte ich Sie um Vergebung für
alles, was Ihnen unrechtmäßig angetan worden ist. Wir
bitten Sie um Verzeihung. Wir bitten Sie auch darum, dass Sie dem
Landeswohlfahrtsverband Hessen und anderen Beteiligten Gelegenheit
geben, gemeinsame Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten
für die Aufarbeitung Ihrer schrecklichen Erlebnisse zu finden.
Dieses Bestreben nach Möglichkeiten gemeinsamer Aufarbeitung ist
von der Gewissheit getragen, dass es jenseits der zugefügten
Verletzungen und Beschädigungen, im Landeswohlfahrtsverband auch
immer den entschiedenen Willen gab und weiterhin gibt, die Würde
des einzelnen nicht mutwillig zu schädigen. Insbesondere der
Würde des schwachen Menschen wollen wir gerade durch engagierte
pädagogische und therapeutische Arbeit zur Durchsetzung
verhelfen.
Es geht nicht darum Vergangenheit zu bewältigen,
das kann man gar nicht. Ihr Leid bleibt verbunden mit Holzpritschen
ohne Matratzen, mit Strafbunkern, Besinnungsräumen,
Arbeitszwang, Schlägen, Demütigung. Die Lebensgeschichten
der über 800 000 ehemaligen Heimkinder sind auch geprägt
vom Leid im Nachkriegsdeutschland. In der lugend der heute 50- bis
70-jährigen heißt das zentrale Thema Zerrissenheit von
Familien und Desintegration nach Krieg und Gefangenschaft, Berufs-
und Heimatlosigkeit. In den Begründungen der Heimeinweisungen
lesen wir Begriffe, die sich angesichts heutiger Problemstellungen im
Jugendbereich nahezu “verniedlichend" anhören:
"Sittliche Verwahrlosung", "Verlogenheit",
"halbstark", "Leistungsschwäche",
"Arbeitsbummelei", aber auch "Bettnässen",
"Stottern" oder "Nägelkauen" steht in den
noch vorhandenen Fürsorgeakten. Wir haben gehört, dass sehr
viele von den ehemaligen Heimkindern unser Land verlassen haben, um
die tiefen Narben zu verstecken. Die Dagebliebenen wollten mit ihrer
Heimvergangenheit abschließen; der Preis dieser Verdrängung
sind heute oft gesundheitliche Defizite, die mit Alkoholabhängigkeit,
Angst- und Panikattacken, chronischen Kopf- und Rückenschmerzen,
Aggressionsausbrüchen, Suiziden verbunden sind.
Wir
entschuldigen uns bei Ihnen dafür, dass wir als Verantwortliche
das Gespräch und den Weg zu Ihnen - als direkt Betroffene, Ihnen
- als verletzte ehemalige Heimkinder, erst so spät gefunden
haben. Es tut uns sehr leid, dass wir Sie zu lange in Ihrer Angst und
Einsamkeit alleine gelassen haben. Wir hätten wissen können,
dass viele der Häuser, in denen Ihre Fürsorgeerziehung
stattgefunden hat, erst wenig Jahre vorher Orte der Inhumanität
waren. Wir hätten wissen können, dass dies auch für
Sie eine besondere Schande bedeutet hat. Wir lernte nur langsam zu
verstehen, wie groß die Scham ist, diesen Teil in Ihrer
Biografien gegenüber Familie, Freunden, Arbeitskollegen und
Nachbarn zu offenbaren. Die Unmöglichkeit sich von dem von Ihnen
erfahrenen Leid frei zu sprechen, sich auch zu Ihrer
Heimkind-Identität öffentlich zu bekennen, mag Begründungen
in Unachtsamkeiten habet sie steht jedoch auch mit unserer Angst vor
einer moralischen Aufarbeitung dieses Teils unseren öffentlichen
und beruflichen Handelns in Verbindung. Aber 30 Jahre nach diesen
Ereignissen stehen weder juristische Beurteilungen noch gerichtliche
Verurteilungen auf der Tagesordnung. Niemand hegt Groll nach dem
einen Heimleiter oder einzelnen Erziehern, obwohl dies durchaus
verständlich wäre. Vielmehr geht es doch darum, dass wir
gemeinsame Wege finden, um Ihnen diese verloren gegangene Ehre
zurückzugeben. Dies wird sicher noch ein harter und
anstrengender Weg sein. Denn es muss uns alle sehr nachdenklich
stimmen, wenn ein ehemaliger Heimjugendlicher nach jahrelanger
Therapie schreibt: "Nein, das Vergangene ist nicht es ist nicht
einmal vergangen. Es lebt in mir, so lange ich lebe und daran denke,
davon träume. Ich träume fast jede Nacht von den Qual von
den Demütigungen und den Erniedrigungen im Heim. Das letzte Mal,
das ich vom Heim im Taunus träumte, war heute Nacht."
Trotzdem
können wir Hilfe organisieren. Wir wollen Ihnen mehr als bisher
unsere Unterstützung anbieten, so dass Betroffene ihre
Lebensgeschichte aufschreiben können. Das Unglaubliche
niederzuschreiben heißt, der eigenen Erinnerung glauben zu
können. Dies ist wirksame Selbsthilfe. Den Mut zu finden, sich
Gehör zu verschaffen, Ihr Leid zu teilen, damit haben Sie selbst
begonnen, indem Sie Ihr eigenes Netzwerk in Form eines Vereins
gegründet haben. Damit haben Sie den vielen, die mit ihnen
gelitten haben, einen Weg zur Überwindung der Isolation und
Einsamkeit gebahnt. Daran schließt sich auch die Frage nach
einem würdigen Ort, der Aufbewahrung und Erinnerung an.
Hilfestellungen zur Geltendmachung von materiellen Ansprüchen
sind bereits öffentlich genannt worden. Konkrete Hilfe muss auch
geleistet werden, wenn Sie an die Orte der Geschehnisse nach so
langer Zeit zurückkehren wollen. Gefragt sind einfühlsame
Begleitungen, wenn Sie ihre ehemaligen Heime aufsuchen wollen ur
Einsicht in die dort vorhandenen Akten nehmen wollen.
Der von
mir oben erwähnte Brief eines Heimjugendlichen endet trotz
tiefem Schmerz sehr versöhnlich: "Um ein bisschen glücklich
zu sein musst du dich mit dem Leben versöhnen, so wie es
nun einmal ist. Ohne Anstrengung und den Willen Schmerzen und Angst
zu überkommen, kann man nicht wachsen."
Sie haben
bereits gezeigt, wie viel Kraft in Ihnen steckt, die traurigen
Erlebnisse Ihrer Jugend zu verarbeiten. Dennoch möchten wir Sie
in Zukunft besonders dort aktiv unterstützen, wo Sie auf Mauern
des Schweigens stossen und Ihnen der Zugang zu der "verlorenen
Zeit" versperrt bleiben soll Gemeinsam müssen wir
akzeptieren, dass die Grausamkeiten von einst nicht ungeschehen
gemacht werden können. Wir vom Landeswohlfahrtsverband Hessen
wünschen uns jedoch, dass Sie - wie der vorgenannte ehemalige
Heimjugendliche - einen Weg gefunden haben, versöhnlich mit
Ihren Wunden und Ängsten aus dieser Zeit umgehen zu
können.
(Sprecher:
Heupert, Bündnis 90/Die Grünen)
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