[ Enthoben aus dem Internet @ http://www.ssk-bleibt.de/geschichteklein.html ]
[ Siehe ebenso im gleichen Wortlaut, mit Fotos @ http://www.ssk-bleibt.de/ssk4_6.pdf ]
Die Zeiten haben sich geändert
Kleine unvollständige Geschichte des SSK
Der SSK besteht in Köln seit 35 Jahren. In dieser Zeit hat sich viel verändert. Verschiedene Gruppen von Menschen haben im SSK gelebt und ihn zu ihrem Projekt gemacht. Die ersten SSKler waren obdachlose Jugendliche, die aus den Heimen abgehauen waren und in Köln auf der Straße lebten. Gemeinsam mit StudentInnen erkämpften sie das Projekt. Später bestimmten Menschen, die aus den Psychiatrien zum SSK geflohen waren, die politischen Kampagnen. Und schließlich kamen Menschen, die aus dem Elend in anderen Ländern geflüchtet waren, zum SSK.
Gegen öffentliche 'Fürsorge':
'Wir sagen Nein zu Knast und Heim'
Ende der 60er Jahre fliehen Jugendliche massenhaft aus den knastartigen Heimen der öffentlichen Fürsorge. In Köln leben mehr als 1000 obdachlose Jugendliche auf der Straße. An der Fachhochschule für Sozialarbeit organisieren Studenten ein Matratzenlager als Notunterkunft für die Jugendlichen. Viele Wohngemeinschaften nehmen gestrandete Jugendliche auf. Die Wohngemeinschaft in der 1.Etage des Salierring 41 wird zur Zuflucht für entflohene 'Fürsorgezöglinge'.
1969 entsteht der SSK als 'Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Köln'. Der Verein soll die Bewegung in geordnete, reformpädagogische Bahnen zu lenken. Aber eine radikale Fraktion macht spektakuläre Aktionen gegen Heime, sägt Gitter auf und verhilft Jugendlichen zur Flucht. Sie setzt durch, dass der SSK 1972 als Kontaktzentrum für Jugendliche anerkannt wird, mit der rechtlichen Sonderposition, dass der SSK nicht verpflichtet ist, entflohene Jugendliche festzuhalten und in die Heime zurückzuverfrachten. Die Jugendlichen sind jedoch weiter von Polizeikontrollen bedroht, und sie bekommen kaum Geld. Mit Go-Ins, einer Bürobesetzung beim Oberbürgermeister und einer Belagerung des Rathauses setzen sie 1973 Tagegelder für die Jugendlichen durch. 40 Plätze sind nach dem städtischen Modell genehmigt. Tatsächlich sind bereits 200 Jugendliche beim SSK, verteilt auf verschiedene Wohngemeinschaften. Im ehemaligen Hotel Astor am Salierring 37 leben mittlerweile 60 Jugendliche. Der Besitzer kassiert von der Stadt riesige Summen für die Belegung. Der SSK fordert, das Astor als zweites Kontaktzentrum anzuerkennen und komplett zu mieten. Aber die Stadt ist empört, dass der SSK sich nicht an die Auflagen hält, die Zahl der aufgenommenen Jugendlichen zu beschränken. Die Entwicklung läuft in Richtung Verbot des SSK.
Die Presse startet eine Hetzkampagne, die Polizei nimmt immer wieder Jugendliche fest und bringt sie in Heime zurück. Eine Straßenschlacht vor dem Astor im August 73, nachdem die Polizei Jugendliche wegen angeblichen Diebstahls festnehmen wollte, heizt die Stimmung weiter an. Trotz breiter Solidarität wird im Februar 74 die Schließung verfügt. Die erwartete Straßenschlacht findet nicht statt, die Räumungstrupps finden leere Häuser vor: der SSK ist vorsorglich in die Fachhochschule für Sozialarbeit umgezogen. Nach mehreren Tagen Asyl in der FH verteilen sich die Jugendlichen auf Wohnungen in der Stadt.
Von der Sozialpädagogik zur Selbsthilfe
Zwei Monate später ist das letzte Geld aufgebraucht. Aber 30 Jugendliche und ein paar StudentInnen geben nicht auf. Sie besorgen sich einen LKW, kleben Plakate, verteilen Handzettel, und bekommen die ersten Aufträge. Aus dem SSK wird 1975 die 'Sozialistische Selbsthilfe Köln'. Dies ist ein bewusster Schritt raus aus dem Sozialstaat, aus der Entmündigung und Gängelung, die staatliche Gelder für den Einzelnen und für Projekte bedeuten. Die Jugendlichen werden von 'Fürsorgezöglingen' zu ArbeiterInnen und bekommen ein neues Selbstbewusstsein. Das Verhältnis von SozialarbeiterInnen zu Jugendlichen, von BetreuerInnen zu Betreuten wird umgekrempelt, und der SSK befreit sich als politisches Projekt aus der Abhängigkeit von Politik und Staatsgeldern.
Am Salierring 41 wird ein Laden aufgemacht. In das Hotel Astor zieht die 'Ambulanz im SSK' ein, eine Sprechstunde von solidarischen Ärzten, die Menschen ohne Krankenschein umsonst behandeln. Die Sprechstunden sind lange Zeit die einzige legale Einrichtung des SSK und werden zu einem wichtigen Treffpunkt.
Der SSK bekommt Unterstützung von prominenter Seite. Heinrich Böll und andere gründen 1974 den Verein 'Helft dem SSK'. Als der SSK ein Jahr später eine leerstehende Tankstelle in der Liebigstraße in Ehrenfeld besetzt, schenkt Heinrich Böll dem Verein das Haus Overbeckstr. 40, das auf demselben Gelände liegt. In diesem 'Böll-Haus' lebt der SSK-Ehrenfeld bis heute.
Gegen Spekulanten und Stadtsanierer: 'Hier renoviert der SSK ohne Auftrag der Stadt Köln'
Die 70er Jahre sind die Zeit von Kahlschlagsanierung und großen Spekulationsgewinnen. 1976 stehen in Köln 32 000 Altbauten leer. Die Versicherungskonzerne Gothaer und Allianz kaufen im Hansaviertel ganze Straßenzüge auf und verwandeln billigen Wohnraum in teure Luxusappartments oder Büros. Bekannte Spekulanten wie Kaußen oder Kaiser vertreiben MieterInnen mit kriminellen Methoden, um die Häuser abreißen zu lassen. Der SSK besetzt verschiedene Häuser und stellt den erhaltenen Wohnraum Menschen mit geringem Einkommen zur Verfügung. Manche Besetzung endet unter Polizeieinsätzen und Baggern (1976 Aachenerstr. 67, 1977 Gladbacherstraße und Werderstraße). Der Protest geht danach mit Aktionen in der Innenstadt oder Zelten auf der Straße weiter. Nachdem die Gothaer leerstehende Häuser zumauert, findet sie ihr Portal zugemauert. Am Salierring wird die 'Wohnraum-Verteidigungs-Initiative' gegründet, später die 'Wohnraum-Rettungs-Gesellschaft'. So werden mehr Leute in den Kampf um die Häuser einbezogen.
1979 wird in Mülheim das Fabrikgelände Düsseldorferstr. 74 besetzt. Hier entsteht eine neue SSK-Gruppe. Ende 1985 kommt es zum Zerwürfnis mit dem SSK. Aus dem SSK-Mülheim wird der SSM, der bis heute auf dem Gelände lebt und arbeitet. 1981 werden am Ensener Weg in Porz mehrere Häuser besetzt, für eine weitere SSK-Gruppe und ein Wohnprojekt. Die SSK-Gruppe geht später aus den Gebäuden raus. Das Wohnprojekt PSH (Porzer Selbsthilfe) besteht immer noch.
'Sanierung macht Angst - Angst macht krank - Sanierung macht krank'
Der Vorort Pulheim bei Köln ist ein typisches Beispiel für die Flächensanierung der 70er Jahre. 108 Häuser sollen abgerissen, 305 Menschen 'umgesetzt' werden. 1979 gründen Anwohner die 'Interessengemeinschaft Pulheimer Sanierungsopfer' und nehmen Kontakt zum SSK auf. Dieser unterstützt sie mit Aktionen. Ärzte der 'Ambulanz im SSK' weisen in Gutachten nach, dass die Sanierung die Menschen krank und verrückt macht. Was hat es z.B. mit Verfolgungswahn zu tun, wenn eine Frau, die aus ihrem Haus vertrieben werden soll, ihre Tür mit verschiedenen Schlössern verbarrikadiert und niemand mehr reinlässt? Ein Amtsarzt, der die Geschichte nicht kennt, hat solche psychiatrischen Diagnosen schnell gestellt. Aus Sanierungsopfern werden 'Krankheitsfälle' gemacht. Der SSK hat zu diesem Zeitpunkt schon reichhaltig schlechte Erfahrung mit der Psychiatrie angesammelt und kommt zu dem Schluss:
'Die Verhältnisse sind krank, nicht die Menschen'
In den 70er Jahren kommen immer mehr Menschen zum SSK, die aus den sogenannten Landeskrankenhäusern, den psychiatrischen Verwahranstalten geflohen sind. Sie berichten von ungeheuerlichen Zuständen hinter den Mauern, von Misshandlungen und Todesfällen. 1977 gründet der SSK das 'Beschwerdezentrum - Initiative gegen Verbrechen in Landeskrankenhäusern'. An der Fachhochschule für Sozialarbeit entsteht dazu ein Projekt; StudentInnen beteiligen sich an der Initiative. In allen Klapsen in NRW tauchen nun BesucherInnen auf, die die Zustände unter die Lupe nehmen und öffentlich machen, und Insassen in ihrem Widerstand unterstützen. Aus den Anstalten fliehen Menschen zum SSK, finden neue Lebensmöglichkeiten und werden zu VorkämpferInnen gegen die Psychiatrie. 'Freiheit heilt' heißt es zu dieser Zeit in Italien, in der dortigen starken Anti-Psychiatrie-Bewegung. Im SSK ist dies tägliche Praxis - in der Freiheit und dem Schutz der Gruppe machen viele 'Verrückte' Entwicklungsschritte, die manchen 'Experten' beeindrucken. Wie kann es möglich sein, dass Menschen, die für verrückt und lebensunfähig erklärt wurden, die völlig eingeschüchtert und vollgedröhnt mit Medikamenten beim SSK ankommen, schon nach kürzester Zeit mit dem Megafon vor einem LKH (Landeskrankenhaus) stehen und Reden gegen ihre ehemaligen Unterdrücker halten?
Die ersten großen Psychiatrie-Skandale deckt der SSK in Brauweiler, Düren und Bonn auf. Die Zustände im LKH Brauweiler, wo der Alkoholiker Stockhausen als Klinikchef das Regiment führt, sind so katastrophal, dass die ganze Klinik geschlossen wird. Der SSK bringt weitere Todesfälle in den LKHs Düren und Bonn an die Öffentlichkeit, mit Anzeigen, Demonstrationen und Stationsbesetzungen. Klinikleitungen fliegen aus ihren Sesseln, einzelne Abteilungen werden geschlossen.
Nach dem Brauweiler-Skandal sorgt ein SSK-Flugblatt für Furore und jahrelange Rechtsstreitigkeiten. In dem Flugblatt heißt es:
"Die feinen Herren vom Kennedyufer in Köln haben den Skandal gemacht, um die Katastrophe zu vermeiden. Der Skandal ist, daß Menschen wie Vieh gehalten werden können, mit Dämpfungsmitteln vollgestopft. Wer bei diesem Drogenmißbrauch stirbt, wird sang- und klanglos unter die Erde geschafft. Die Katastrophe wäre, wenn die ganze Wahrheit ans Tageslicht käme. Brauweiler ist nicht ein einzelner Mißstand, denn in keinem LKH ist es anders als dort. Dieser Mißstand hat System. Dabei sterben ständig in den LKHs Menschen auf zwielichtige Art und Weise, aber die »Aufsicht« des LVR nimmt diese Toten hin."
Mit den 'feinen Herren vom Kennedyufer' sind die Leiter des LVR gemeint, des Landschaftsverbands Rheinlands, Träger der Anstalten. Die Büros des LVR am Deutzer Kennedyufer sind immer wieder Ziel von SSK-Aktionen und Besetzungen. Der LVR versucht vergeblich, den Text des Flugblattes gerichtlich verbieten zu lassen. Fünf Jahre später, 1983, erklärt das OLG Köln, dass die Äußerungen zulässig sind.
Das Kölner Beschwerdezentrum fährt jede Woche in die LKHs Köln-Merheim, Viersen, Düren und Bedburg-Hau. In vielen anderen Städten werden Beschwerdezentren gegründet. Eine Dokumentation von 1981 listet 18 BZ quer durch die BRD auf. Überall finden sie dieselben Verhältnisse vor: Der Missstand hat System. Durch die Aktionen gerät das Anstaltssystem in die Krise. Die Betreiber sehen sich zu Reformen gezwungen.
Gegen Psychiatrie und Aussonderung: 'Schafft endlich den Landschaftsverband und seine Anstalten ab!'
Die BZ ermöglichen es vielen Menschen, sich aus den Klauen der Psychiatrie zu befreien. Sie unterstützen Insassen, die sich gegen Zwangsmaßnahmen und Psychodrogen wehren. In den LKHs kommt es zu Aktionen gegen die Ausbeutung in der sogenannten Arbeitstherapie. Immer wieder geht es um gravierende Menschenrechtsverletzungen. Das Transparent 'Hier werden immer noch Menschenrechte mit Füßen getreten' wird jahrelang durch die verschiedenen LKHs von Aktion zu Aktion geschleppt. Aber eigentlich geht es um mehr.
Träger der Heime und psychiatrischen Einrichtungen ist der LVR, der Landschaftsverband Rheinland. Dieses Überbleibsel der preussischen Provinzialverwaltung entspricht noch nicht einmal den herrschenden schein-demokratischen Regeln. Der SSK prangert immer wieder die fehlende öffentliche Kontrolle dieser Behörde an. Die Parole 'Schafft endlich den LVR ab!' darf unter keinem Flugblatt fehlen. Dies geht noch als Kuriosum durch, und mit der Forderung, die Anstalten abzuschaffen, steht der SSK nicht allein. Auch Reformpsychiater prangern in dieser Zeit die Unmenschlichkeit der Großanstalten an und fordern deren Abschaffung. Aber dass der SSK die Psychiatrie nicht reformieren, sondern als Teil des Unterdrückungsapparates gleich ganz abschaffen will, das stößt auf einiges Unverständnis (siehe dazu: 'Ob Anstalt oder Wissenschaft, die Psychiatrie gehört abgeschafft').
Die Aktionen von SSK und Beschwerdezentren haben die Psychiatriereform entscheidend vorangetrieben. In den Anstalten werden die schlimmsten 'Missstände' beseitigt. Mit den 'gemeindenahen' Einrichtungen soll die Psychiatrie ein freundlicheres Gesicht bekommen. Der Zwang wirkt verstreuter und unsichtbarer: kleine Einrichtungen statt Großanstalten, bunte Pillen statt der hässlichen Fesseln. Auf diese Weise hat die Reform den BZ die Basis genommen. Die Insassen werden differenzierter behandelt und aufgeteilt, renitente Verweigerer in Kleinstheime abgeschoben. 'Drinnen' sind keine kämpferischen Gruppen mehr zu finden, allenfalls noch Einzelpersonen, die sich wehren wollen. Viel Widerstand hatte es immer in den forensischen Abteilungen gegeben. Diese werden aufgelöst und 1986 in einem Hochsicherheitsneubau in Düren konzentriert, wo das BZ keinen Zutritt hat. Es bleibt nur noch eine SSK-typische Aktionsform, um die Ablehnung dieses Psychoknastes zu demonstrieren: eines Morgens fahren dort mehrere SSK-LKW vor und kippen einen großen Müllberg ab.
Den Elendsverwaltern gelingt es zunehmend, den Kontakt zwischen BZ und Insassen zu unterbinden, durch Verlegungen und unzählige Hausverbote. Eine Kampagne gegen Psychopharmaka scheitert an diesen Bedingungen. Ende der 80er Jahre sieht das BZ kaum noch Handlungsmöglichkeiten und löst sich auf.
Der SSK sieht die neue Gemeindepsychiatrie nicht als erkämpfte Verbesserung, sonder in erster Linie als Gefahr. Die Psychiatrie dringt noch weiter in die Gesellschaft vor. Die Tendenz, gesellschaftliche Probleme mit Psychiatrie anzugehen und mit Psychodrogen ruhig zu stellen, nimmt dadurch zu. Der heutige Verbrauch an Psychopharmaka, z.B. der massenhafte Einsatz von Dämpfungsmitteln an Schulen, übersteigt noch bei weitem die damaligen Befürchtungen.
Weiteres aus der weiter zurückliegenden Geschichte deutscher Arbeitsanstalten @ http://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34-2007013016948/3/Nachhaft.pdf (S. 10-12)
Textauszug:
In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bestanden in Deutschland etwa fünfzig Arbeitshäuser, über die Hälfte davon in Preußen. Die Anstalten hatten eine Aufnahmekapazität von mehr als 22 000 Korrigenden und Korrigendinnen 37. Eine unveröffentlichte Aufstellung aus dem Jahre 1882 nennt für Preußen die Anstalten Benninghausen, Brauweiler, Breitenau, Breslau, Frankfurt/Oder, Glückstadt, Graudenz, Greifswald, Groß-Salze, Moringen, Halle, Himmelstür, Konitz, Kosten, Landsberg, Lübben, Neustettin, Prenzlau, Rummelsburg, Schweidnitz, Stralsund, Straußberg, Tapiau, Tost, Ueckermünde, Wunstorf und Zeitz.
Außerhalb Preußens bestanden 1882 Anstalten in Coswig (Anhalt); Kislau (Baden); St. Georgen, Kaiserslautern, Rebdorf, Niederschönfeld, Speyer (Bayern); Wolfenbüttel (Braunschweig); Bremen; Fuhlsbüttel (Hamburg); Dieburg (Hessen- Darmstadt); Detmold (Lippe-Detmold); St. Annen (Lübeck); Güstrow (Mecklenburg-Schwerin); Strelitz (Mecklenburg-Strelitz); Meiningen (für Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Schwarzburg-Sondershausen und Reuss ältere Linie), Vechta (für Oldenburg und Schaumburg-Lippe); Hohnstein, Radeberg, Sachsenburg, Waldheim (für Sachsen und Schwarzburg-Rudolstadt); Eisenach (für Sachsen-Weimar, Sachsen-Coburg-Gotha und Reuss jüngere Linie); Vaihingen und Rottenburg (Württemberg) 38.
Am Jahresende 1887 befanden sich in den deutschen Arbeitshäusern 14 325 Korrigenden und 2612 Korrigendinnen, davon 11 405 bzw. 1945 in den preußischen Anstalten. Für diesen Stichtag werden für die Berliner Arbeitsanstalt Rummelsburg, dem größten deutschen Arbeitshaus, 1437 Männer und 172 Frauen gemeldet. Die Anstalt mit der zweithöchsten Belegung war Brauweiler bei Köln mit 1082 Männern und 246 Frauen. Im Jahre 1888 wurden im Deutschen Reich insgesamt 13 512 Männer und 2680 Frauen in Arbeitshäuser eingeliefert, für die beiden folgenden Jahre werden geringfügig niedrigere Ziffern genannt. Am Jahresende 1890 befanden sich 11 231 Männer und 2262 Frauen auf strafrechtlicher Grundlage in Arbeitshäusern 39.
Die Arbeitshäuser waren gefürchtet. Namen wie Brauweiler, Benninghausen, Kislau, Moringen, Rummelsburg hatten einen schrillen Klang weit über ihr jeweiliges Einzugsgebiet hinaus. „Du kommst nach Breitenau“, berichtet Anstaltspfarrer Hollstein über die [S. 192] Korrektions- und Landarmenanstalt Breitenau, war für viele „das Schlimmste, was ihnen außer der Todesstrafe widerfahren konnte“ 40. Als Ende der dreißiger Jahre behördenintern erwogen wurde, die Breitenauer Arbeitsanstalt zugunsten des badischen Arbeitshauses Kislau zu schließen, gab das Argument des Breitenauer Anstaltsleiters, der abschreckende Name 'Breitenau' sei in der Region unersetzbar, den Ausschlag für das Weiterführen der Arbeitsanstalt am alten Ort. Auch die Kasseler Bezirkskommunalverwaltung, der Träger der Anstalt, argumentierte damals ähnlich:
„Der Name Breitenau ist im Kasseler und Frankfurter Bezirk zu einem Begriff geworden. Wenn noch etwas geeignet ist, auf die arbeitsscheuen und ähnliche Elemente abschrekkend einzuwirken, dann ist es die Anstalt Breitenau.“ 41
In erster Linie sollten die Arbeitshäuser abschrecken. Dem Besserungsgedanken der Arbeitshäuser kam dagegen im wesentlichen nur theoretische Bedeutung zu. Zwischen programmatischer Zielsetzung und tatsächlichen Zuständen klaffte in den Arbeitshäusern stets eine breite Lücke. Der Hauptadressat der Arbeitshauspädagogik befand sich nicht innerhalb, sondern außerhalb der Mauern der Arbeitshäuser. Der allgemein als hoch eingeschätzte Abschreckungseffekt des Arbeitshauses gegenüber unteren sozialen Schichten machte den eigentlichen gesellschaftspolitischen Wert der Korrektionsanstalten aus. Insofern traf die einhellige Kritik der Fachöffentlichkeit an den verheerenden Zuständen in den Anstalten und den ausbleibenden Besserungserfolgen nicht den Kern des Problems, denn die Korrektionsanstalten konnten nicht schlimm genug sein, um den gewünschten Abschreckungseffekt zu erreichen. Abgesehen von der zeitlich befristeten „Unschädlichmachung“ dürfte der intendierte Haupteffekt der Arbeitshäuser nicht in wie auch immer definierter Besserung oder Umbildung des Charakters der Insassen, sondern in der Disziplinierung potentiell bzw. vermeintlich gefährlicher Randgruppen gelegen haben. Diese Disziplinierung blieb kein Abstraktum, sondern läßt sich in ihrer Auswirkung konkret fassen. Prostituierte wurden durch die Furcht vor dem Arbeitshaus in die sittenpolizeiliche Kontrolle gezwungen. Fürsorgeempfängern, die sich weigerten, die unbezahlte Fürsorgepflichtarbeit auszuführen, konnten die Beamten der Wohlfahrtsämter mit Arbeitshaus drohen. Die Wanderarbeiter und Wohnungslosen führte die Angst vor polizeilichem Zugriff den stationären und halbstationären Einrichtungen der Wandererfürsorge als Klienten zu. Die kurzen Haftstrafen des § 361 RStGB reichten dazu als Drohung allein nicht aus. Gleichgültig nehme der erfahrene Bettler oder Landstreicher die Verurteilung zu einigen Tagen oder Wochen Haft hin, beschrieb
Robert von Hippel 1895 die Erfahrung der Strafrichter, „aber Angst und Jammer beginnt, sobald die korrektionelle Nachhaft droht“.42 _____________________________________________
[ Fußnoten: ]
37 Die Zahlenangaben der Quellen schwanken geringfügig, weil manchmal Nebenanstalten gesondert gezählt wurden. Vgl F. v Holtzendorff - E. v Jagemann (Hrsg.), Handbuch des Gefängnisswesens 2, Hamburg 1888, 274; vgl L. Freiherr von Wintzingeroda-Knorr, Die deutschen Arbeitshäuser, ein Beitrag zur Lösung der Vagabonden-Frage, Halle/Saale 1885, 2.
38 GStA Berlin, Rep. 84a, Nr. 8051, 22; in Elsaß-Lothringen wurde die Arbeitshaushaft in sechs Bezirksgefängnissen vollstreckt. Siehe auch eine Aufstellung aus dem Jahre 1881 in ZstA Potsdam, Bestand 15.01, Nr. 1314, 54.
39 Archiv des LWV-Hessen, Bestand 2, Nr. 118, 45.
40 Vgl Hollstein, Kloster Breitenau!, o. O., o. J. (nach 1927), 1.
41 Archiv des LWV-Hessen, Bestand 1, Nr. 141, Bd. 1, 139-141.
42 v. Hippel, Die strafrechtliche Bekämpfung (wie Fn 13), 191; vgl Haußmann, Arbeitshäuser, in: O. Karstedt (Hrsg.), Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege, 1924.
|