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Evangelischer
Pressedienst (EPD) [ online ]
15.12.2006
"Beschwerden
wurden mit Prügel erledigt"
Bundestag
beschäftigt sich erstmals mit Schicksalen ehemaliger Heimkinder
Von
Bettina Markmeyer
Berlin
(epd). Der Petitionsausschuss des Bundestages hat sich am 11.
Dezember in einer Anhörung über die Schicksale ehemaliger
Heimkinder in den Nachkriegsjahrzehnten informiert. Gewalt,
Demütigungen, Zwangsarbeit und sexuelle Misshandlungen waren
keine Einzelfälle. Die Grünen fordern eine Entschuldigung
des Parlaments. Die ehemaligen Heimkinder fordern ihre Anerkennung
als Opfer von Menschenrechtsverletzungen.
Wäre
Wolfgang Focke nicht in den Nachkriegsheimen der jungen
Bundesrepublik aufgewachsen, könnte er heute ein
Handwerksmeister sein oder ein Finanzbeamter. Er könnte sich
Anerkennung erworben haben und auskömmlich leben. Aber der
freundliche, kleine Mann lebt von 286 Euro Rente, die ihm der Staat
mit Sozialhilfe aufstockt und hat 18 Jahre seines Lebens in
Gefängnissen verbracht.
Wolfgang Focke ist eines der
ehemaligen Heimkinder, die dem Petitionsausschuss ihren Leidensweg in
kirchlichen und staatlichen Erziehungsheimen der 1950er und 1960er
Jahre geschildert haben. 184 Mal, sagt er, sei er ausgerissen. Er war
in verschiedenen staatlichen Heimen in Nordrhein-Westfalen. Selbst in
die Psychiatrie wurde er gesteckt, weil er immer wieder weglief: "Die
Gitterstäbe dort waren dicker als die, die ich später im
Knast gesehen habe."
Für seine Fluchten klaute er
ein Fahrrad, dann ein Moped, weil sie ihn immer weiter weg von zu
Hause unterbrachten. Unterwegs besorgte er sich was zu essen, "Geld
hatten wir ja nicht". So fing seine kriminelle Karriere an.
Später war er Strichjunge und noch später Zuhälter.
Den Ausstieg aus dem kriminellen Milieu hat er allein geschafft. Das
ist gut 20 Jahre her. "Der Staat hat uns in den Heimen zu Ver-
brechern erzogen und dafür nachher bestraft", sagt Wolfgang
Focke heute.
Unbezahlte
Arbeit soll bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden
Der
Verein ehemaliger Heimkinder, dem er sich angeschlossen hat, hat im
Bundestag eine Petition eingereicht. Darin fordern die früheren
Zöglinge, dass sie als Opfer von Menschenrechtsverletzungen
anerkannt werden. Unbezahlte Arbeit, die ihnen abverlangt wurde, soll
bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden. Die
menschenverachtenden Erziehungspraktiken müssten nachträglich
geächtet werden, verlangen die Betroffenen.
Neun
Männer und Frauen, unter ihnen Wolfgang Focke, haben den
Abgeordneten den unbarmherzigen Heimalltag geschildert. Sie mussten
als Kinder und Jugendliche ohne Bezahlung bis zu 16 Stunden am Tag
arbeiten, in der Landwirtschaft, als Bäcker, Waschfrauen,
Büglerinnen, Heizer, Putzfrauen. Sie wurden von Erziehern
sexuell misshandelt. Prügel, Einzelhaft und Einlieferungen in
die Psychiatrie gehörten zu den Disziplinierungsmitteln. Die
Opfer leiden heute unter Angststörungen, Depressionen,
Schmerzen.
"Uns beschweren?", sagt Wolfgang Focke,
"das konnten wir damals nicht. Beschwerden wurden durch Prügel
erledigt." Dass 1961 die staatliche Heimaufsicht eingerichtet
wurde, sei den Kindern in den Anstalten nie zu Ohren gekommen.
Wolfgang Focke wurden für fünfeinhalb Jahre schwere Arbeit
in der Landwirtschaft insgesamt 254 Mark zugebilligt, ein paar
Pfennige pro Stunde, berichtet er - selbst dieses Geld habe er nie
bekommen.
Die Jugendhilfe-Expertin und SPD-Abgeordnete
Marlene Rupprecht, die sich für die Anhörung eingesetzt
hatte, wertete sie als "sehr guten Start" zur Aufarbeitung
des Unrechts. Der Petitionsausschuss habe zum ersten Mal überhaupt
Betroffene angehört. Sie habe ihre Kollegen "nie so still
erlebt", sagte Rupprecht und sehe "eine große
Bereitschaft, Lösungen zu suchen". Es gehe nun um
Einzelfragen, die Zeit bräuchten.
"Staatliche
Stellen haben systematische Menschenrechtsverletzungen zugelassen"
Die
Grünen wollen eine Entschuldigung des Bundestages für das
Unrecht in der Heimerziehung in den Nachkriegsjahrzehnten erreichen.
Der Innen-Experte der Fraktion, Josef Winkler, sagte epd sozial,
wünschenswert sei eine fraktionsübergreifende
Entschließung. Das Parlament müsse sich dazu bekennen,
"dass staatliche Stellen systematische
Menschenrechtsverletzungen zugelassen haben".
In einem
zweiten Schritt müsse es um die Anerkennung der Forderungen der
Opfer und finanzielle Entschädigungen gehen, erläuterte
Winkler. Die staatliche Heimaufsicht habe völlig versagt.
Bei
den Misshandlungen in staatlichen und kirchlichen Anstalten handele
es sich "nicht um Einzelfälle, sondern um systematische
Handlungen". Sie reichten von "Freiheitsberaubung über
eine lange Liste von Delikten bis hin zu Folterhandlungen", so
Winkler, der auch Mitglied des Petitionsausschusses ist.
Das
Schicksal der früheren Heimkinder war zu Beginn des Jahres durch
ein Buch des "Spiegel"-Autors Peter Wensierski mit dem
Titel "Schläge im Namen des Herrn" bundesweit bekannt
geworden. Viele Opfer haben Jahrzehnte über ihre traumatischen
Erlebnisse geschwiegen. Das Diakonische Werk und der Deutsche
Caritasverband haben den Betroffenen eine Aufarbeitung des Unrechts
in den kirchlichen Heimen zugesagt.
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