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00 der aktuellen Ausgabe der Hw ]
LANDKREIS
DIEPHOLZ – 6. Mai
2006 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Warum
habt ihr mich geschlagen?
Lesung
in der Moorkirche / ehemalige Zöglinge besuchen erstmals
Fürsorgeeinrichtung
FREISTATT
(Hw) • Einen spannenden und bewegenden Abend
erlebten am Donnerstag rund 90 Besucher in der Moorkirche in
Freistatt, wo der Autor Peter Wensierski sein Buch „Schläge
im Namen des Herrn“ über die Geschichte von Heimkindern in
der Bundesrepublik vorstellte.
Der Autor hat sich speziell der
Nachkriegszeit angenommen und festgestellt, dass es rund 3000 Heime
für Fürsorgezöglinge gab mit fast 225000 Plätzen.
Auch in Freistatt, einem Ableger der „von-Bodelschwinghschen
Anstalten“ in Bethel waren rund 400 junge Männer [sic]
untergebracht und beim Torfabbau und der L-andwirtschaft
eingesetzt.
Bei seinen Gesprächen mit ehemaligen Insassen
hatte der Autor festgestellt, dass in Freistatt, wie leider auch in
den übrigen Erziehungsheimen, Schläge und andere brutale
Strafen neben der harten Arbeit an der Tagesordnung waren.
Das
Buch beschreibt ein „dunkles Kapitel der Jugendhilfe der 50er
und 60er Jahre“, so Wensierski. Die ruden Erziehungsmethoden
und leichtfertigen Einweisungen in Heime waren bundesweit Methode,
ist sich der Autor sicher. Auch Freistatt bildet da keine
Ausnahme.
Eine Änderung führte erst Karl Kämper
herbei, der von 1970 bis 1990 zunächst Erziehungsleiter, dann
Anstaltleiter von Freistatt war.
Die heutigen Erzieher und
Diakone fragen sich, wie es in einer christlichen Einrichtung möglich
gewesen sein konnte, dass Schläge an der Tagesordnung
waren.
“Wir hatten schon bei der Vorbereitung auf das
100-jährige Bestehen der von-Bodelschwinghschen Anstalten“
festgestellt, dass damals nicht alles in Ordnung gewesen war“,
erklärte Wolfgang Tereick, heutiger Leiter von Freistatt, zur
Eröffnung der Lesung. Deshalb hatte er von Anfang an die
Recherche von Peter Wensierski unterstützt und freute sich über
die Aufarbeitung.
Die Leitung von Freistatt war sogar noch
einen Schritt weiter gegangen. Als das Buch fertig war, bat sie den
Autor nicht nur zu einer Lesung in der Moorkirche, sie lud auch
ehemalige Insassen ein.
20 Ehemalige ließen sich auf
dieses Wagnis ein und besichtigten schon am Nachmittag die heutige
Einrichtung.
Zur Einstimmung auf die Lesung zeigte Wolfgang
Tereick einige Bilder von der Arbeit im Moor, von den
Freizeitaktivitäten und den Schlafräumen.
Peter
Wensierski las dann die Geschichte eines Mädchens, das in
Fuldatal bei Kassel im Heim war.
Viel wichtiger als die Lesung
war aber das anschließende Gespräch. Der Autor wollte von
den Ehemaligen wissen, wie sie ihren Besuch erlebt hatten.
Dabei
zeigte sich, wie mutig die Entscheidung gewesen war, die teilweise
traumatisierten Menschen mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren. So
berichtete der 52 jährige Hans Dieter Brüning, dass er als
ausgesetztes Kind in die Heime geriet und viele Einrichtungen
durchlief: „Als ich nach Freistatt kam, hatte ich schon eine
Heimmacke.“ Die Situation wurde dort nicht besser, Schläge
von den Erziehern und Hausvätern, Rangordnungskämpfe mit
den anderen Jungen. Er fragte die anwesenden Diakone: „Ich
hatte doch nichts getan, warum habt ihr mich geschlagen?“
Die
Emotionen gingen hoch, und die Betroffenheit war nach all den Jahren
noch enorm. Wolfgang Tereick verstand es als Gesprächleiter,
jeden Gesprächsteilnehmer zu seinem Recht kommen zu lassen.
Am
Ende gab es von Karl Kämper eine Entschuldigung im Namen der
ehemaligen Kollegen und Vergebung durch die Besucher.
Dr. Rolf
Engels vom Vorstand der „von-Bodelschwinghschen Anstalten“
versprach, dass die Geschichte der Fürsorgeeinrichtung im Rahmen
eines Forschungsprojektes lückenlos aufgearbeitet wird: „Dann
wissen wir vielleicht eine Antwort auf die Frage nach dem Warum.“
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